Kapitel 16
Southsea bei Portsmouth, Januar 1864
Der Winter war stürmisch, nass und schwer erträglich. Wochenlang hingen schwere Wolken über der Stadt, ohne Licht hindurchzulassen, Wind und Regen peitschten das Meer auf, und wer nicht gezwungen war, verließ sein Haus nicht.
Hyperion blieb so oft wie möglich des Nachts im Spital. Er hatte sich eines der Krankenbetten in einen Abstellraum geschoben. Dort schlief er die paar Stunden, die ihn vorm Umfallen bewahrten. Wenn er aß, musste er innehalten und an seine Schuld denken, und jeder Bissen wurde ihm im Hals zum Klumpen. Die Kleider schlackerten ihm um die Glieder, und das verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung, als ließe sich dadurch, dass er den Körper bestrafte, von der Schuld der Seele etwas abtragen.
»Sie treiben Raubbau«, hatte Louise Vernon zu ihm gesagt, als er das Ehepaar nach Weihnachten besucht hatte. »Wen retten Sie eigentlich dadurch, dass Sie sich bis aufs Blut kasteien?«
Mich selbst, hätte er sagen können, und wenn Gott es annimmt, meine Frau. Das wollte er. Arbeiten bis zum Zusammenbruch, Leben bewahren und darum beten, dass ihm im Austausch Daphnes Leben bewahrt blieb. Gab es nicht Männer, die sich zu Tode gearbeitet hatten? Könnte er an Daphnes Stelle sterben, so hätten sie und Louis nichts verloren. Mildred würde besser für sie sorgen als er, und die Stiftung des Spitals müsste ihr einen Betrag auszahlen, der unter Mildreds Händen Ertrag bringen würde.
Der Gedanke schmerzte. Nicht sehen, wie Louis aufwuchs. Nie mehr von Daphne hören, dass sie ihn liebte. Das andere aber war unerträglich – Daphne sterben sehen wie Amelia. Louis sagen müssen, wer schuld daran war. Ja, er hätte sein Leben gegen ihres tauschen wollen, doch wie üblich ließ kein Gott sich auf solchen Handel ein.
Wenn er sich ab und an im Haus zeigte, um die Kleider zu wechseln und den Anstand zu wahren, sah er den Blicken der Frauen an, was eine jede von ihm dachte. In Daphnes Blick lag Bedauern, in dem von Nell Verachtung und in dem von Mildred glühte Hass. Einzig das kleine Gesicht seines Sohnes leuchtete auf, sobald er ihn erkannte, und weckte in Hyperion noch immer den Wunsch, dem Kind die Welt zu Füßen zu legen.
Ende Januar, als ein Sturm den Morgenhimmel über Southsea nachtdunkel machte, kam ein Bote, um ihn aus dem Spital zu holen. Sogleich befürchtete Hyperion das Schlimmste. Daphne, Daphne, Daphne. Aber der Bote kam von Louise Vernon. Er bat ihn, sich sofort auf den Weg zu machen.
In der Halle der Vernons roch es nach Krankheit und Tod. Triefend nass stand er vor Louise, die ihm ein Handtuch hinhielt. Sie war gefasst, wie sie es immer gewesen war. Zuweilen hatte Hyperion sich gewünscht, seine Last mit Daphne teilen zu können, wie Vernon es mit Louise konnte. »Gehen Sie gleich zu ihm«, wies sie ihn an. »Er hat Ihnen etwas zu sagen, und viel Zeit bleibt ihm nicht.« Einzig der Schwere ihrer Stimme war anzumerken, dass sie um ihr Leben mit ihm trauerte.
Fergus Vernon, einst ein vor Tatkraft berstender Pionier der Chirurgie, lag zum Skelett abgemagert auf dem Bett. Die Haut wie Papier, die Augen starr zur Decke gerichtet, als wäre er schon tot. »Sie werden verzeihen«, sagte er, »ich mache mir nicht mehr die Mühe, den Kopf zu drehen. Nehmen Sie Platz.«
Gehorsam setzte Hyperion sich auf den bereitgestellten Stuhl. Auf einmal wünschte er sich mit beschämender Heftigkeit, der Sterbende möge ihm ein Wort der Anerkennung sagen. Keiner als Vernon vermochte seine Leistung zu beurteilen, und wenn jener nicht mehr da war, wäre er mit seinen Zweifeln allein. Die Gebärmutterentfernung – war er damit auf dem richtigen Weg, auch wenn die Frau ihm gestorben war? Die Maßnahmen zur Reinlichkeit – würden sie dem Spott zum Trotz Leben retten? Um weiterzukämpfen, um seiner Frau wieder in die Augen zu sehen und Mildreds Zorn auszuhalten, brauchte er ein lobendes Wort, das Vernon ihm hierließ: Sie tun das Richtige. Wir kommen voran, wenn auch langsam. Die Arbeit, die Sie leisten, ist Opfer wert.
Stattdessen sagte Vernon, das Gesicht von ihm fortgewandt: »Eines Tages werden wir Organe verpflanzen können, haben Sie je daran gedacht? Dann mag so mancher, der von Liebe salbadert, seine Worte beweisen müssen. Wem, den Sie lieben, gäben Sie Ihre Niere oder die Hälfte Ihrer Leber?«
Louis und Daphne, dachte Hyperion, ohne zu zögern.
Vernon wartete seine Antwort nicht ab. »Mir haben die Frauen immer leidgetan«, sagte er. »Die Frauen, denen wir Liebe schwören, ohne dafür geradestehen zu müssen, während die Frauen von uns und unserer Liebe abhängig sind. Eine Frau kann pfiffig wie eine Füchsin und tapfer wie eine Bärin sein, sie kann über einen brillanten Geist verfügen, und es wird ihr dennoch nicht gestattet, sich anders vor Elend zu bewahren als durch Heirat mit einem Mann.«
Hatte er zuvor klar gesprochen, so begann ihm bei den letzten Worten die Stimme zu bröckeln. Viel blieb ihm nicht zu sagen, er musste abwägen, was das Wichtigste war. »Ich liebe Sie«, sagte er unvermittelt.
Hyperion fuhr zusammen.
»Meine Niere gäbe ich meiner Frau, wenn sie noch etwas wert wäre, denn sie hätte sie redlich verdient. Aber Ihnen will ich auch etwas geben. Sie haben sich Ihr Leben nicht klug eingerichtet. Ich will nicht, dass Ihre Familie unversorgt bleibt und man mit dem Finger auf Sie zeigt.«
Er machte eine Pause, um mühsam Atem zu holen. Hyperions Herz klopfte hohl ins Schweigen.
»Sie bekommen ja nun wieder ein Kind, und bei dem einen wird es kaum bleiben. Ihren Söhnen geben Sie hoffentlich das Zeug mit, sich irgendwann selbst zu versorgen, aber Ihren Töchtern wird das nicht möglich sein. Ihnen bleibt nur die Hoffnung, erträgliche Partien zu machen. Deshalb lege ich mein Geld, nachdem Louise versorgt ist, für Sie an. Allzu viel ist nicht übrig, denn auch ich habe mich für das Spital zur Ader gelassen, doch Ihre Töchter werden immerhin eine Mitgift haben. Allerdings habe ich testamentarisch verfügt, dass dieses Geld für keinen anderen Zweck verwendet werden darf. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Weaver. Sie sind in meinen Augen kein Ehrenmann mehr, wenn Sie es anrühren, auch dann nicht, wenn es dem Spital zugutekommt.«
Die Geste des Mannes nahm Hyperion den Atem. Er hatte Lob gewollt und Gnade erhalten, keinen Lohn für seine Verdienste, sondern ein Geschenk, um die Folgen seiner Schwäche zu mildern. Überwältigt, wie er war, vermochte er sich nicht einmal zu bedanken. »Ich rühre es nicht an«, versprach er und wünschte sich, Vernon möge sagen, das wisse er. Vernon aber sagte nichts mehr. Er lag noch stundenlang mit zur Decke gewandtem Blick auf dem Rücken, um kurz vor dem Abend lautlos zu sterben.
Daphne betrug sich, als wäre der Mann ihr Vater gewesen. Wochenlang hatte sie halbtot daniedergelegen, doch als Mildred ihr sagte, der alte Vernon sei gestorben, gebärdete sie sich wie toll. Wäre es Frauen nicht untersagt gewesen, Begräbnisse zu besuchen, hätte sich Daphne nicht einmal von den Stürmen, die ums Haus tobten, abhalten lassen. »Die arme Louise, ach Gott, die arme Louise. Wenn ich meinen Mann verlöre, ich könnte nicht weiterleben.«
»Natürlich könntest du.«
»Nein, Milly-Milly, das verstehst du nicht. Wenn du einen findest, den du so liebhast, bist du allein nur noch ein halber Mensch. Ich bin sicher, für die arme Louise ist es genauso. Die beiden waren so gut zu mir.«
Zu Mildred waren sie nicht gut gewesen, und um den Alten tat es ihr nicht leid. Im Gegenteil, sie hoffte, er habe sein Geld Hyperion hinterlassen, da ihm dieser schließlich wie ein Sohn nachgeeifert und damit das Vermögen seiner Familie verspielt hatte. Mit dem Geld hatte Mildred Pläne. Sie würde ans Altenteil anbauen lassen. Wollte sie sich in der Hotelwelt behaupten, so brauchte sie mindestens vier weitere Suiten, einen größeren Speisesaal und eine Köchin. Noch dringender aber brauchte sie Ärzte für Daphne. Wunderheiler, die verhinderten, dass sie an dem Kind verreckte und dass sie je wieder eines bekam.
Nell Weaver hatte einen Mietwagen bestellt, um, wie es sich gehörte, einen Besuch im Trauerhaus abzustatten. Hyperion hätte auch Mildred darum bitten können, aber er hatte es nicht getan. Er wich ihr wieder einmal aus, und diesmal tat er gut daran. Hätte er mit ihr gesprochen, hätte Mildred womöglich die Beherrschung verloren.
Er war schöner denn je gewesen, als er am Morgen zum Begräbnis auf dem Highland Road Cemetery aufbrach, ebenfalls in einem Mietwagen, denn der Einspänner sollte am Haus bleiben, falls Daphne Hilfe brauchte. Cutaway und Zylinder standen ihm, und vor allem stand ihm die Trauer. Sie rührte ans Herz, und dafür hasste ihn Mildred umso mehr. So zum Gotterbarmen schön würde er hinter dem Sarg seiner Frau hergehen, bedauert von sämtlichen Weibern der Stadt, die danach gierten, den armen Witwer zu trösten.
Nell brach auf, und Mildred hatte Haus und Kind für sich. Seit Daphne bettlägerig war, hatte sie sich nach Kräften bemüht, für Louis zu sorgen. Der Junge litt darunter, dass er seine Mutter täglich nur ein paar Augenblicke sehen durfte. Auch Daphne weinte, doch das lebhafte Kind war Gift für ihre Gesundheit. Mildred tat ihr Bestes, um ihm die Mutter zu ersetzen. Sie ließ ihn auf ihren Knien reiten, baute seine Soldaten zu Schlachtreihen auf und sah mit ihm Bücher an. Das Bücherbetrachten, das Daphne liebte, brachte Mildred schier um den Verstand, doch ihr war klar, dass ein Kind aus gutem Hause auf Bücher nicht verzichten konnte.
Davon abgesehen schenkten ihr die Stunden mit dem Kind ein Glück, wie sie es nie gekannt hatte. Wenn er vom Buch aufsah, ihr Gesicht in seine kleinen Hände nahm und es mit seiner Zärtlichkeit überhäufte, wünschte sie sich, die Zeit stünde still. Sie wollte sich in diesen leuchtenden Augen und dem seligen Lächeln verlieren, wollte hören, wie der winzige Mund ihren Namen formte, und seinen reinen Duft nach Milch und frischer Wäsche einatmen. Sie drückte ihn an sich. Ich bin für dich da, mein Sperlingsküken, was auch geschieht. Ich behüte dich.
Sie hatte ihm gerade im Buch einen furchteinflößenden Tiger gezeigt, als vor dem Haus Lärm ausbrach. Rufe ertönten, Schritte polterten die Stufen hinauf. Fäuste hämmerten gegen die Tür, und als Priscilla öffnete, schrie sie gellend auf. »O mein süßer Herr Jesus!« Mehrere Männer, geführt von Max, trugen einen Körper in triefenden Kleidern in die Halle. Daphne. Sie musste sich hinaus in den Sturm gestohlen haben, um Louise Vernon zu besuchen. Auf den ersten Blick war Mildred sicher, sie sei tot. Dann aber krümmte sich ihr Leib, und ihrer Kehle entrang sich ein Röcheln. Sie lag in den Wehen.
Die Geburt von Esther Amelia Weaver dauerte zwei Tage und Nächte, und das Geschöpfchen, das schließlich mit der Zange aus dem leblosen Leib der Mutter herausgezerrt wurde, passte in zwei Hände. Der Kollege, den Hyperion gerufen hatte, prophezeite, es werde den Morgen nicht erleben. Hyperion widersprach nicht. Vermutlich war ihm gleichgültig, was mit dem Wurm geschah. Beim Anblick seiner Frau, die in ihrem Blut auf dem Bett lag, mochte ihm die ganze Welt gleichgültig sein.
Diesmal hatte er nicht mit Mildred in der Bibliothek gewartet. Er hatte überhaupt nicht gewartet, sondern Einlass ins Geburtszimmer erzwungen. Als Mildred es ihm nachtat, versuchten Nell und Priscilla sie aufzuhalten, aber Hyperion sprang von Daphnes Bett auf und rief: »Lasst sie durch, lasst sie bei ihrer Schwester sein.«
Tage und Nächte hatten sie bei Daphne ausgeharrt, in Geschrei und Blut und zwischen wechselnden Ärzten. Als das verfluchte Kind endlich geboren war, erlitt Mildred zum ersten Mal in ihrem Leben einen Schwächeanfall. Sie wollte aufspringen und den Arzt bestürmen, er solle sich um das Kind nicht scheren, sondern Daphne retten, doch sie stand noch nicht auf ihren Füßen, da brach sie wieder zusammen. Es war Hyperion, der sie mit zitternden Armen auffing. Sie sah in sein tränennasses Gesicht und keuchte »Daphne«, ehe ihr schwarz vor Augen wurde.
Als sie zu sich kam, lag sie in ihrem Zimmer auf dem Bett, die Läden waren geschlossen, und sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. So elend sie sich fühlte, fiel ihr sofort ein, was geschehen war. Schwankend stand sie auf und eilte aus dem Zimmer. Daphne durfte nicht tot sein!
Das Haus lag in stillem Dunkel. Mit klopfendem Herzen lief Mildred den Gang entlang und riss die Tür zu Daphnes Zimmer auf. Auch in diesem Raum war es dunkel. Geräusche verursachten einzig der Sturm, der an den Fensterläden rüttelte, und der Atem der Schlafenden. Gladys, die Krankenschwester, die aus dem Spital gekommen war, schnarchte im Sessel vor sich hin. Auf dem Bett lag Daphne, als hätte sie sich seit der Geburt nicht bewegt. Mildred stürzte zu ihr, neigte das Ohr vor ihren Mund und suchte tastend den Puls an ihrem Hals. Sie atmete noch, wenn auch in schwachen Zügen. Erleichtert legte Mildred das Gesicht an ihres.
Erst jetzt bemerkte sie, dass Hyperion ebenfalls auf dem Bett lag, in den Kleidern der Geburtsnacht, die Hemdsärmel aufgekrempelt und über Daphne, als hätte er sie umarmen wollen, als Erschöpfung ihn übermannte. Eine Welle des Zorns packte Mildred. Du bist schuld daran, du hättest sie bewahren können. Ihre Hand war erhoben, wie um ihn durch eine Ohrfeige aus dem Schlaf zu reißen. Im Dunkeln fiel ihr Blick auf sein Gesicht, die wie in Marmor gemeißelten Züge, die gebogenen Wimpern und den leicht geöffneten Mund. Sie spürte, wie ihr Hass die Kraft verlor, und wenn das geschah – wie sollte sie Kraft haben, für Daphne zu kämpfen?
Er schlug die Augen auf. Sein Blick traf ihren, weit und regengrau. Aus seiner Kehle drang kein Laut, nur seine Lippen formten ihren Namen.
Mildreds Finger ballten sich zur Faust. Ehe sie ein Wort sagen konnte, drehte sie sich um und rannte aus dem Zimmer.
»Wie lange sind Sie jetzt bei mir? Bald vier Jahre? Meinen Sie nicht, das wäre einen kleinen Umtrunk wert?« Hector hatte den Deutschen nach Feierabend in sein Büro bestellt. Wenig sah er mit solchem Vergnügen wie die Angst, die in den goldbraunen Augen flackerte.
Sein Tag war ein einziges Ärgernis gewesen, auch wenn die Gewinne der Gasanstalt Anlass zu Freudensprüngen boten. Ihm war zu Ohren gekommen, dass seine Schwägerin Maria Lewis in der Stadt verbreitete, bei seinem schwammigen Sohn werde Schwachsinn vermutet. Das Gerücht hätte Hector nur halb so aufgeregt, hätte er nicht insgeheim dieselbe Befürchtung gehegt. Der Junge, an dem der stolze Name Horatio sich geradezu affig ausnahm, war mittlerweile fünf Jahre alt, erhielt strengsten Unterricht und täglich Prügel, aber er sprach keine Handvoll Worte, wurde immer hässlicher und zog sich auf Kindergesellschaften so linkisch in sich selbst zurück, dass Bernice sich schämte. Eine Charme versprühende Schönheit war auch Nora nicht, aber sie betrug sich immerhin den Regeln entsprechend und würde mit tadellosem Ruf und stattlicher Mitgift eine glänzende Partie machen. Der Stammhalter hingegen, für den er sein Imperium aufbaute, sabberte beim Essen, heulte bei jeder Maulschelle und machte sich die Hosen nass. Weshalb hatte ausgerechnet die Natter Maria davon Wind bekommen müssen?
Als wäre das nicht genug, hatte Hector sich mit zwei Inspektoren der Stadt herumschlagen müssen, die behaupteten, bei einem Unfall mit einem seiner Gasherde wäre eine junge Mutter um ein Haar erstickt. Mit den Engelszungen eines Wanderpredigers versuchte Hector die beiden davon zu überzeugen, dass es mit seinen Gasherden, wenn sie fachgerecht installiert waren, keine Unfälle gab – sie waren um vieles sicherer als die alten Kohleöfen. Käme dennoch jemand durch das Gas zu Schaden, so handle es sich keineswegs um einen Unfall, erklärte Hector den Herren, sondern um einen Versuch, sich das Leben zu nehmen.
Die Inspektoren hörten ihn nicht einmal zu Ende an. Ob er der Mutter etwa eine solche Sünde unterstellen wolle, fragten sie und beorderten ihn, eine Überprüfung der Leitungen auf seine Kosten vorzunehmen. Hector würde wieder einmal Henry Lewis’ Hilfe in Anspruch nehmen müssen, um die übereifrigen Staatsdiener in die Schranken zu weisen. Nach allem, so fand er, hatte er eine kleine Freude am Abend verdient. »In einem Club sind Sie ja wohl kaum Mitglied?«, fragte er den Deutschen.
Der senkte den Kopf. »Fremde nehmen sie da nicht.«
»Auch keine Hungerleider, mein Bester.« Hector lachte und klatschte dem Deutschen aufs Schulterblatt. »Na kommen Sie, gehen wir ins Victoriana. Eine bessere Weinkarte finden wir in ganz Portsmouth nicht.«
»Dafür bin ich nicht angezogen«, murmelte der Deutsche und zupfte an seinem abgewetzten Revers.
»Natürlich sind Sie das nicht. Aber Frederic Ternan wird ein Auge zudrücken. Zur Not gewähre ich ihm einen Nachlass auf die Gaskocher, mit denen er seine Hotelküche ausstatten lässt.« Hector hätte jetzt aus vollem Halse lachen mögen. Dem Deutschen voran verließ er das Büro.
Das Victoriana hatte sich zum glanzvollsten Luxushotel der Küste gemausert. Den Erfolg verdankte Frederic Ternan seinem Geschmack und seinem Geschäftssinn ebenso wie seiner Diskretion. Er fragte nicht, warum Hector ihn um einen Tisch in der Nische bat, in der sonst stadtbekannte Persönlichkeiten mit ihren Flittchen speisten, und er fragte ihn auch nicht, warum er einen ehemaligen Navvy im schäbigen Anzug zum Trinken ausführte. Hector ließ einen schweren Burgunder servieren und fühlte sich geradezu glücklich. Der Deutsche, für den Tisch, Stuhl und Glas zu klein geraten schienen, kauerte ihm gegenüber wie ein Raubtier vor der Peitsche des Dompteurs – eingeschüchtert, bebend vor Misstrauen und dabei atemberaubend in seiner rohen, ungezähmten Schönheit.
Als er die zweite Flasche bestellte, begann seine Laune sich zu verdüstern. Dass der Mann einsilbig blieb, dass er ihn weder verleiten konnte, zu viel zu trinken, noch ihm sein Herz auszuschütten, brachte ihn auf. »Nun mal raus mit der Sprache, März«, sagte er. »Sie sind doch kein ganz hässlicher Bursche – Sie werden wohl ein Liebchen haben?«
»Nein, Mr Weaver«, erwiderte der Deutsche wie ein Schuljunge.
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Ja, Mr Weaver.«
Hector nahm die Flasche und schenkte März das Glas bis kurz vor dem Überlaufen voll. Er hatte nicht übel Lust, diesem Schweiger in sein unbewegtes Gesicht zu schlagen. »Jetzt wird hier mal wie ein Mann getrunken, nicht wie ein Klosterfräulein. Ich hatte mir nämlich eine hübsche Überraschung für Sie ausgedacht, um mich für Ihre Treue erkenntlich zu zeigen. Aber wenn Sie es nicht für nötig halten, mir ein wenig Vertrauen entgegenzubringen …«
»So ist es doch nicht, Mr Weaver …« Mit einer Mühe, die Hector zum Prusten reizte, hob er das übervolle Glas an die Lippen. Der Wein schwappte über den Rand und lief ihm auf die Manschetten, auf deren Weiße er so peinlich Wert legte. Beim Trinken hatte er keine Wahl, als zu schlürfen, oder er hätte noch mehr verschüttet.
»Wie ist es denn dann?«, fragte Hector.
»Ich bitte um Verzeihung …« Mit der Serviette wischte er albern an seinen Handgelenken herum. »Ich möchte mir erst etwas aufbauen, einer Frau etwas bieten können, ehe ich … ehe ich ans Heiraten denke.«
»Soso. Und wie alt wollen Sie sein, wenn Sie das geschafft haben? Neunzig? Meinen Sie, die dralle Miss Adams sitzt so lange züchtig am Herd und dreht Daumen?«
Es war ein Schuss ins Blaue, den der Wein ihm eingab, und das Zucken, das über das Gesicht des Deutschen glitt, verriet ihm, wie gut er getroffen hatte. »Miss Adams und ich sind Freunde!«, rief er hastig. »Nichts Ehrenrühriges daran – wenn jemand versucht, Miss Adams’ Ruf zu beschmutzen, dann ist er ein Lügner und bekommt es mit mir zu tun.«
»Soso«, sagte Hector noch einmal. »Aber wenn ich Ihnen nun die Möglichkeit gäbe, sich etwas aufzubauen, wie Sie sagen – wäre es dann nicht Miss Adams, die Sie um ihre Hand bitten würden? Na kommen Sie, März, seien Sie kein Stoffel. Mir können Sie’s doch sagen – glauben Sie, ich hätte nie geliebt?«
»Doch natürlich, Sir. Mrs Weaver ist …«
Hector lachte. »Mrs Weaver lassen wir dabei besser aus dem Spiel. Es war Miss Adams, von der wir sprachen. Also was ist, würden Sie nicht gern um sie anhalten?«
Und ob du das tun wirst – und sie wird dir eine Abfuhr erteilen, wie du im Leben noch keine bekommen hast. Keinen Tag werde ich dich mehr aus den Augen lassen, damit mir dieser Moment nicht entgeht.
Der Deutsche hatte den schönen Kopf gesenkt, dass das Haar ihm über die Stirn fiel. Welch ein Glück, dass noch niemand ihm beigebracht hatte, wie ein Mann sich ordentlich frisierte. »Es müsste ein großes Haus sein«, sagte er nahezu unhörbar. »Für meine Schwester und mich wären zwei saubere Zimmer genug. Aber Miss Adams …«
»Die hat Ansprüche, was?«
»Es steht ihr zu«, erwiderte der Deutsche still. »Sie ist eine Königin.«
Selten hatte Hector einen Mann etwas so Albernes aussprechen hören, und dennoch berührte es ihn. »Ach, was ich Ihnen sagen wollte, März«, murmelte er gespielt beiläufig, »in der Gasanstalt sind Sie gekündigt. Ich bekomme einen Mann aus London, ich brauche Sie da nicht mehr.«
Der Schrecken, der die dunklen Züge erstarren ließ, war köstlicher als Champagner. »Ich dachte, Sie wären mit meiner Arbeit zufrieden, Sir …«
Hector ließ ihn ein, zwei Augenblicke zappeln, dann beugte er sich vor und klopfte ihm auf die Schulter. »Bin ich doch, März. Sie sind nicht gerade mein bestes Pferd im Stall, aber fraglos mein stärkster Maulesel.« Über den Vergleich musste er lachen, ehe er fortfuhr: »Ich gebe Ihnen eine andere Stellung. Sie kommen wieder nach Milton’s Court.«
»Nach Milton’s Court?« Neuerliches Erschrecken blitzte im Gold der Augen.
»Das schmeckt Ihnen nicht? Wie bedauerlich. Mir schien, Sie hätten ein gewisses Interesse am Hotelgeschäft.«
»O ja, Sir!«, rief März eilfertig. »Ich beschäftige mich damit seit längerer Zeit. Wenn Sie meine Unterlagen einsehen wollen …«
Hector winkte ab. »Ihre Unterlagen brauche ich nicht. Ich lasse meine von Fachleuten erstellen. Was ich brauche, ist ein Mann, der mir Milton’s Court vom Emigrantenpack reinigt und in der Lage ist, einen Umbau zu beaufsichtigen. Aus den Schlafsälen werden Fremdenzimmer. Einfachste Ausstattung, kein Schnickschnack und optimale Nutzung des Raums.«
»Aber Milton’s Court ist an der Gewürzinsel!«, platzte März heraus und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, als wollte er die verschwenderische Pracht des Luxusrestaurants mit dem traurigen Speisesaal von Milton’s Court vergleichen.
»Gut erkannt«, bemerkte Hector. »Aber was denken Sie denn? Dass nur die Reichen und Schönen verreisen wollen? Glauben Sie mir, Mann, das, was Sie in diesen Sommern seit der Eröffnung des Piers gesehen haben, ist erst der Anfang – und zwar der Anfang einer Sturmflut, die sich nicht mehr legen wird. In Kürze wird es Ihresgleichen genauso nach einer Sommerfrische verlangen wie den Londoner Geldadel und die Königin. Der Bedarf an bezahlbaren Fremdenzimmern wird enorm sein, und wie sage ich immer – Kleinvieh macht auch Mist.« Eine Weile ließ er das Gesagte im Hirn des Deutschen, das eine langsam mahlende Mühle war, Fuß fassen. »Was meinen Sie?«, fragte er dann. »Sie verwandeln mir meinen Emigrantensumpf in eine respektable Herberge für den kleinen Geldbeutel, und wenn Sie Ihre Sache gut machen, erlaube ich Ihnen, sich als mein Partner in das Projekt einzukaufen. Was das Haus betrifft, so könnte ich Ihnen das Verwalterheim von Milton’s Court zur Verfügung stellen. Zugegeben, es ist nicht Mount Othrys, aber Platz ist reichlich dort, und der Geschmack einer Dame hat schon aus ärgeren Schuppen Schmuckkästlein gemacht.«
»Sie wollen …« Mühsam suchte der Deutsche sich zu fassen. »Sie wollen, dass Milton’s Court ein Hotel wird? Und Sie wollen mich als Ihren Partner?«
»Warum denn nicht? Als Unternehmer braucht man auch ein wenig Abenteuerlust, stimmen Sie mir nicht zu?« Victor März sagte nichts mehr. Er starrte Hector nur an. Der genoss seinen Blick in vollen Zügen, ließ sich keinen sprühenden Funken in den goldenen Augen entgehen. Und das ist erst der Anfang, versprach er sich. Alles, was du dir erhofft hast, seit du den Kerl vor den Prügeln der Aufseher gerettet hast, erfüllt sich jetzt. »Mein Buchhalter könnte nächste Woche die Papiere aufsetzen. Natürlich nur, wenn Sie Interesse haben.«
»Wenn ich Interesse habe?« Fahrig strichen die großen Hände über Gesicht und Haar. »Sie bieten mir die Teilhabe an einem Hotel und fragen mich, ob ich Interesse habe? Mr Weaver, ich habe von einem Hotel geträumt, seit ich hierhergekommen bin, und ich werde es Ihnen vergelten. Ich weiß, ich bin ein Habenichts ohne Bildung, aber das kann sich ändern. Wenn Sie je Hilfe brauchen – bitte denken Sie an Victor März.«
»Schön gesprochen«, lobte Hector und hob sein Glas, um März zuzuprosten. Seit langer Zeit freute er sich endlich wieder auf das, was vor ihm lag, auf das Erregende, Neue, das jeder Tag ihm bringen konnte.