Kapitel 54
Anfang April
Besuch kam immer an Freitagen. In der Zeit zwischen drei Uhr nach der Mittagsruhe und fünf Uhr vor dem Tee durften die Insassen des Heims Besuch empfangen, sofern ihr Betragen während der Woche tadellos gewesen war und der Besuch sich ordentlich angemeldet hatte. Zu viele Besucher sah die Heimleitung nicht gern. Zu viele Besucher brachten Unordnung in den Ablauf des Heimlebens und störten die Insassen auf. Anfangs hatte Amelia zu jenen gehört, die zu viel Besuch empfingen. Ihre Mutter kam jede Woche. Irgendwann wurden die Besuche seltener, und schließlich kam die Mutter nur noch zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Amelias Geburtstag. Wäre es nach Amelia gegangen, so wäre die Mutter überhaupt nicht gekommen, doch die Heimleitung hatte ihr erklärt, sie dürfe ihre Mutter nicht hassen. Sie dürfe auch nicht durch die Gänge schreien, ihre Mutter sei eine Mörderin. Aber schweigen durfte sie. Und froh sein, dass die Mutter nur noch selten kam.
Amelia war nicht verrückt, obwohl sie in einem Heim für Verrückte untergebracht war. »Es ist ja kein Heim für Verrückte, kein Asylum«, hatte die Mutter beteuert. »Ein Sanatorium ist es, wo man aufs Beste für dich sorgt.« Aufs Beste versorgt war Amelia wirklich. Sie hatte ein eigenes Zimmer, bekam erlesene Speisen vorgesetzt und trug seidene Nachthemden, die zweimal wöchentlich gewechselt wurden. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass in dem Heim Verrückte wohnten. Menschen, die eingeschlossen werden mussten, weil sie sonst auf andere losgingen, die versuchten sich mit ihren Buttermessern Schnitte beizubringen und sich einbildeten, Tiere, Königssöhne oder Jack the Ripper zu sein.
Amelia war nicht verrückt. Sie hatte nur eine kurze Spanne Zeit durchlebt, in der sie verrückt gewesen war, gebrüllt und um sich geschlagen hatte und gefesselt werden musste, damit sie sich und anderen nichts antat. Seit die Spanne Zeit vorüber war, funktionierte ihr Verstand wieder wie zuvor, nur dass es in ihrer Erinnerung blinde Flecken gab, die blind bleiben mussten, weil ihr Anblick unerträglich war. Sie wusste auch, dass sie nicht Amelia Ralph hieß, sondern Chastity Weaver. Aber da das einzige Glück in ihrem Leben Amelia Ralph hieß und da die Pflegerinnen sich daran gewöhnt hatten, blieb es dabei.
An diesem Freitag hatte es zu Mittag Fischpastete mit Erbsen und kleinen Kartoffeln gegeben. Amelia machte sich aus Essen wenig, aber der Speiseplan war die einzige Abwechslung, die der Tag bot. An diesem Freitag regnete es, und der Regen fiel in dicken Schlieren an Amelias Scheibe. Nach der Mittagsruhe kam Liz, ihre Pflegerin. Das Personal klopfte nie an, es musste jederzeit Zugang zu den Zimmern haben. »Es gibt eine Überraschung für Sie«, sagte Schwester Liz. »Sie bekommen Besuch. Sie müssen uns aber versprechen, dass Sie sich von niemandem erregen und in Ihrem Gleichgewicht erschüttern lassen. Sie haben doch so ein schönes Gleichgewicht, das wollen wir doch nicht gefährden.«
Zuerst hoffte sie, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Als aber Liz beharrte, der Besuch im Sprechzimmer sei für sie, sagte Amelia: »Meine Mutter kommt erst an meinem Geburtstag. Ich will sie vorher nicht sehen.«
»Der Besucher ist nicht Ihre Mutter«, erwiderte Liz.
»Meine Schwester Georgia?« Amelia hatte sich gefragt, ob Georgia wohl so wie Phoebe und Esther gestorben sei.
Liz schüttelte den Kopf. »Kommen Sie, sehen Sie sich die junge Dame einfach einmal an. Und wenn sie Ihnen missfällt, bin ich ja dabei und kann sie wegschicken.«
Amelia folgte ihr. Sie hätte sich den Aufwand lieber gespart, weil sich damit für sie eine unbestimmte Hoffnung und später eine Enttäuschung verband, aber es war klüger zu tun, was die Pflegerin vorschlug. Sie kannte ja keine jungen Damen. Nach einem Blick auf sie würde sie Liz bitten, sie wegzuschicken.
Das Mädchen wartete in dem düster möblierten Sprechzimmer und stand auf, sobald Amelia eintrat. Amelia warf einen Blick auf sie und wusste, dass sie sie nicht wegschicken wollte. Sie war wunderschön. Sie hatte honigbraunes lockiges Haar, das sie auf Kinnlänge geschnitten trug, und helle Augen, denen Amelia sofort vertraute. »Bitte gehen Sie«, sagte das Mädchen zu Liz. »Wir wollen allein sein.«
»Das ist leider nicht möglich«, erwiderte Liz und baute sich neben der Tür auf. »Es widerspricht den Anstaltsregeln.«
»Das ist mir egal«, sagte das Mädchen. »Meine Mutter und ich sind doch keine wilden Tiere, wir haben das Recht auf Zeit für uns allein.«
Meine Mutter und ich. Sie hatte es gewusst. Immer wenn der Wunsch zu sterben sie zu übermannen drohte, hatte sie es sich allem Schmerz zum Trotz ins Gedächtnis gerufen: Eines Tages wird sie zu mir kommen. Eines Tages werde ich erfahren, wie mein Kind aussieht. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass Charles und das Kind tot seien, Charles im Krieg in Afrika gefallen und ihr Kind gleich nach der Geburt, während sie in Ohnmacht lag, gestorben, aber Amelia hatte es nicht geglaubt. Das mit Charles wohl. Charles musste ja tot sein, weil er nie gekommen war, um sie zu holen. Vielleicht hatte die Mutter ihn totgemacht. Aber ihr Kind war nicht tot – weshalb sonst war sie nicht fähig zu sterben?
»Dieses Streiten geht von Ihrer Sprechzeit ab«, sagte Liz.
Ehe das Mädchen noch einmal protestieren konnte, trat Amelia vor sie und streckte ihr die Hände hin. »Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Liz wird uns nicht stören.«
Wie im Unglauben starrte das Mädchen auf Amelias Hände. »Aber ich will mit Ihnen allein sein!«, rief sie mit dem Trotz von ganz jungen Menschen, die noch nicht gelernt haben, dass man sich im Leben fügt oder zerbricht. »Ich brauche Wochen allein mit Ihnen, ich will alles wissen, was mir verschwiegen worden ist, weil ich sonst nicht weiterleben kann.«
Amelia streckte ihre Hände noch ein Stück weiter vor. Sag es, beschwor sie das Mädchen stumm, bemerkte, dass ihr schwindlig wurde und Tränen ihr die Sicht raubten. Durch Schleier sah sie, wie das Mädchen sich überwand, ihre Hände packte und sie festhielt. »Ich bin Selene«, sagte sie. »Einen Nachnamen habe ich nicht mehr. Ich bin Ihre Tochter.«
Sie war, wie ihr Vater gewesen war, Annette Alexandrina. Sie ließ sich nicht abwimmeln. Dass Lydia verletzt war und Schonung brauchte, sah sie ein, aber sie bestand darauf, sich täglich eine Stunde lang an ihr Bett zu setzen und mit ihr zu sprechen. Es war Lydia unangenehm. Sie hatte niemanden, nicht einmal Rebecca und Nora gern um sich, so schwer sich das erklären ließ. Sie war nicht mehr Lydia. Sie war das alte Weib, das man zu hilflosem Gelump prügeln und zwangsfüttern konnte. Das alte Weib wollte allein sein, am liebsten im abgedunkelten Raum. Annette Alexandrina aber nahm keine Rücksicht darauf, und sie war, wie ihr Vater gewesen war – sie hinauszuwerfen erschien, als würfe man das Leben hinaus.
Sie versuchte es täglich auf dieselbe Weise. »Jetzt erzählen Sie mir von meinem Vater. Sehen Sie nicht, dass ich vor Neugier platze?«
»Dann fragen Sie Ihren Vater, nicht mich.«
»Mein Vater ist schweigsam wie das Aztekengrab von Calixtlahuaca.«
»Das ist Ihr Problem, nicht meines.«
»Aber es war einmal Ihres, oder nicht?«
Sie war frech, respektlos und umwerfend. So übel es ihr erging, es machte Lydia froh zu erleben, dass junge Mädchen im Jahre 1912 so sein konnten. Sie wollte sie loswerden, wollte sich in ihrer Austernschale verkapseln, doch zugleich hatte sie vor dem Tag, an dem sie gehen würde, Angst. Zuweilen ließ Annette sich ablenken, weil sie sich für alles und jedes interessierte. Dann sprachen sie über die Frauenbewegung, über Annettes Hoffnung auf ein Studium und über den Zauber der Archäologie. »Sie haben recht«, gestand Lydia. »Vielleicht haben wir in unserem Fortschrittsglauben wirklich nicht genug Lehren aus der Geschichte gezogen. Vielleicht kommen wir deshalb in unserem Kampf so schlecht voran.«
»Und was ist mit Ihrer eigenen Geschichte?«, ergriff Annette die Gelegenheit beim Schopf. »Wenn Sie die nicht so verbissen leugnen würden, vielleicht könnten Sie daraus Lehren für Ihre Zukunft ziehen.«
Ich bin ein altes Weib. Für welche Zukunft brauche ich noch Lehren? Sie bemühte sich um ein Grinsen. »Ich bin der Azteke im Grab von Calixtlahuaca. Ich behalte meine Geschichte für mich.«
»Ach kommen Sie, Lydia, war es mit meinem Vater wirklich so übel, dass Sie sich wie ein Krebs verschalen müssen, wenn Sie nur daran denken?«
Lydia fuhr zusammen. Sah man ihr so deutlich an, wie es ihr ging? Sie schwieg, und ausnahmsweise schwieg Annette auch. Nein, dachte Lydia, mit deinem Vater war es so schön, dass das verschalte Weib nicht daran denken mag. Fahr endlich nach Hause, Wunderwesen. Ich gönne dir deinen Vater und deinem Vater von Herzen dich.
Und dann fiel ein Gepolter ins Schweigen, von dem sie augenblicklich wusste, was es bedeutete. Türen schlugen, und Nora rief etwas, doch eine Männerstimme übertönte sie: »Nein, Nora, ich höre dich nicht an. Ich muss Lydia sprechen, und mir ist völlig egal, ob euch das passt oder nicht.«
Er kam, um sein Kind zu holen. Sie musste die Augen zukneifen, bis er mit seinem Kind aus dem Zimmer war, dann hätte sie alles überstanden. Die Tür flog auf. »Aha«, sagte er, »das hier ist also ein archäologischer Kongress.« Lydia kniff die Augen zu, was gegen den Klang seiner Stimme jedoch nichts bewirkte.
»Vater«, stammelte Annette überrumpelt.
»Es ist beschämend, findest du nicht? Ich wüsste nicht, dass einer von uns je Grund gehabt hätte, den anderen zu belügen.«
»Ach nein?«, rief Annette, ihre Verlegenheit überspielend. »Hast du es vielleicht mit der Wahrheit genau genommen, hast du jemals erwähnt, dass Lydia auch nur existiert?«
»Etwas für sich zu behalten hat nichts mit Lügen gemein«, erwiderte er. »Aber das weißt du selbst. Geh jetzt und pack deine Sachen. Wir fahren in einer Stunde nach Hause.«
»Hast du es nötig, vor der Frau, die dich verlassen hat, den Machthaber herauszukehren, oder warum kommandierst du mich herum?«
»Die Frau, die mich verlassen hat, sieht nicht einmal zu, wie ich den Machthaber herauskehre«, versetzte er ungerührt. »Ich will, dass du mit nach Portsmouth kommst, weil deine Freundin Selene dich braucht. Was du anschließend tust, liegt selbstredend bei dir.«
Annette zögerte, dann ging sie zu ihm. Gegen ihren Willen öffnete Lydia die Augen und sah, wie sie ihm die Hände auf die Schultern legte. Er trug Schwarz wie vor hundert Jahren, seine Schönheit war gealtert wie Wein, und die beiden sahen einander so ähnlich, dass es schmerzte. »Es tut mir leid«, sagte Annette.
Horatio zog sie kurz an sich. »Nein, tut es nicht. Und das macht nichts. Geh jetzt packen, ja?«
»Ich habe ja fast nichts ausgepackt. Kann ich nicht bleiben?«
»Nein. Ich muss mit Lydia allein sein.«
Geh nicht, wollte Lydia rufen, nimm ihn mit, aber das Mädchen ging und ließ den einzigen Mann ihres Lebens allein mit dem alten, zerbrochenen Weib. Sie kniff die Augen wieder zusammen, aber das Bild saß längst dahinter fest.
Er wartete, bis die Tür sich schloss. »Nein, Lydia«, sagte er dann, »schrei nicht, ich soll mich zum Teufel scheren, und ruf auch nicht Nora und Rebecca. Ich verspreche, ich komme nicht näher und stelle keine Fragen. Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche. Nicht für mich. Für Esther. Bitte komm mit mir nach Portsmouth. Sag Esther, die völlig willenlos ist, dass sie kämpfen muss, weil sie sonst ihre Tochter verliert.«
Es erstand alles wieder auf. Die Tage im ewigen Regen und Esther, die tränenüberströmt vor ihrer Tür stand. »Du weißt es?«
»Ich denke. Und ich würde dir gern Handschuhe für deine Augen geben, damit du sie nicht so zukneifen musst.«
Lydia schlug die Augen auf. »Esthers Tochter – das ist Chastitys Kind?«
»Ja. Selene.«
»Und sie haben es ihr bis jetzt verschwiegen, Mildred hat es befohlen, und der ganze Rest hat mitgespielt?«
»Ich kann es auch nicht glauben«, sagte er. »Hyperion hat in Portsmouth ein Stück Medizingeschichte geschrieben, aber in seinem eigenen Haus hat er nie den Mund aufgemacht.«
»Und Georgia? Esther?«
Er zuckte mit den Schultern. »Für Georgia ist Mount Othrys ihr Leben. Und auf Esther hätten wir achten müssen, damals, als ihr Traum zerplatzt ist. Ich wünschte, ich hätte ihr geholfen. Ich wünschte, ich hätte nicht beiseitegesehen und ignoriert, dass sie daran zerbrochen ist.«
Lydia ertappte sich bei dem Wunsch, die Hand auszustrecken und zu ihm zu sagen: Ich auch. Zugleich wollte sie ihm sagen, dass er gehen musste, dass sie ein altes Weib und zu schwach war, um irgendwem zu helfen.
»Esther überlässt alles Mildred und Georgia«, sagte Horatio. »Ich habe sie angebrüllt, sie solle mit ihrer Tochter sprechen, aber sie erklärt, sie habe keine Kraft. Ich solle mich an Mildred wenden. Oder an Andrew.«
»Mein Gott.«
»In der Tat.«
»Und das Mädchen?«
»Ist entschlossen, mit Chastity auf einem Riesenschiff, das wir in unserem Größenwahn zusammengepfuscht haben, nach New York zu reisen und nicht wiederzukommen.«
»Mit Chastity? Hat sie sie denn gefunden?«
»Ja. Darauf, dass wir immerhin aus Mildred herausbekommen haben, wo Chastity ist, können wir stolz sein.«
»Nicht in der Anstalt!«, rief Lydia, dem Schmerz in ihrer Kehle zum Trotz. »Nicht noch immer in der furchtbaren Anstalt.«
»Du hast das gewusst, ja?«
Verurteile mich, dachte Lydia. Sag, ich habe verdient, als verprügeltes altes Weib zu enden, weil ich eine von denen bin, die versuchen die Welt zu retten und ihre eigenen Freunde im Regen stehen lassen.
»Ich höre jetzt auf, dich zu quälen«, sagte er. »Ich wusste nicht, wie schlecht es dir geht. Kannst du trotzdem mit mir kommen und mit Esther reden? Ich weiß mir sonst keinen Rat, und wir haben nur noch drei Tage Zeit.«
Mit dir nach Portsmouth kommen. Die Ruine aus der Tudorzeit wiedersehen, die nassen Wiesen, die Kastanienstraße, wo unser Haus stand.
»Ich bitte dich«, sagte Horatio. »Die Fahrt dauert keine drei Stunden, und ich nehme zwei Abteile. Du brauchst mich nicht einmal zu sehen, das verspreche ich.«
Sie sah ihn jetzt. Und sie spürte sich. »Es tut mir so leid«, sagte sie, und der Schmerz, der ihr in kleinen Stößen in den Leib fuhr, stammte nicht allein von den wunden Lungen und der Kehle. »Du hast das Richtige getan, aber ich kann nicht mit dir kommen. Ich bin zu schwach, ich schaffe es nicht.«
»Das glaube ich dir nicht!«
»Hast du dich nie so gefühlt?«, platzte sie heraus. Sie hätte Esther, Chastity, Selene und der ganzen Welt helfen müssen, aber ihre Kraft war zu Ende, sie wollte nur noch, dass jemand ihr half.
»Wie, Lydia?«, fragte er. »Wie habe ich mich gefühlt?«
»Schwach«, schrie sie ihn an. »So schwach, dass du dich nicht mehr bewegen konntest, dich keinem Menschen mehr zeigen, hilflos, grün und blau geprügelt, gänzlich ohne Würde!« Sie schämte sich, doch die Erleichterung war ungleich größer.
»Ich fühle mich immer noch so«, sagte er. »Von Zeit zu Zeit. Ganz geht es nicht weg.«
»Und wie lebst du damit? Was tust du, wenn es dich anfällt?«
»Willst du, dass ich es dir zeige?«, fragte er.
In seiner Stimme und in seinen Augen war die Wärme, die ihr so sehr fehlte. Sie kam sich vor wie in einen Eisblock eingeschlossen. »Bitte zeig es mir.«
Er schlang die Arme um sich und hielt sich fest. Nach einiger Zeit, während der sie fasziniert zugesehen hatte, wie er sich selbst in den Armen hielt, tat sie es ihm nach. Sie hielt sich mit aller Kraft, auch wenn der geschwollene Arm schmerzte. Irgendwann gab sie auf. »Du hast mehr Übung als ich«, bekannte sie kleinlaut.
Er stand auf und kam zu ihr. Vor ihrem Bett ging er in die Knie, stellte mit einem Blick eine Frage und legte die Arme so sacht um sie, dass er sie kaum berührte. Erst verkrampfte sie sich. Dann begriff sie, dass er weiter nichts tun würde, dass er sie nur hielt, ohne etwas zu fordern, und dass sie sich ihm anvertrauen durfte. Ihre Spannung löste sich. Irgendwann konnte sie weinen, und er ließ sie. Seine Arme schützten sie vor einer Welt, der sie sich nicht länger gewachsen fühlte. Lange hielt er sie schweigend. Dann sagte er über ihren Kopf hinweg: »Ich wünschte, ich könnte dir wiedergeben, was sie dir zerschlagen haben. Deine Würde. Die Gewissheit, die wundervolle, einzigartige Lydia Burleigh zu sein.«
Sie blickte auf. Sein Gesicht war knapp über ihrem, und der Wunsch, seine Lippen zu streicheln, die das zu ihr gesagt hatten, war kaum zu bezähmen. Sie verschränkte die Hände. »Horatio, wie hat dein Vater dich genannt? Kannst du es mir bitte sagen, auch wenn es hart ist?«
Er drehte den Kopf zur Seite. »Idiot, sabbernder Wurm, Missgeburt ohne Hirn, später Galgenstrick, Verbrecher, Satan.«
»Geht das auch nicht mehr weg? Bleibt es für immer kleben?«
Von der Seite sah sie die Sehnen, die aus seinem Hals traten, den Kehlkopf, der auf und ab zuckte. »Sooft du mich anders genannt hast, war es weg. Sooft Annette mich Vater nennt, verliert es jedes Gewicht.«
Der Schmerz, der durch sie hindurchfuhr, brach das Eis. »Ich bin ein altes Weib«, sagte sie. »Der Polizist hat das seinem Kollegen zugerufen, ehe er mir eine Ohrfeige verpasst hat – bei Gott, sieh dir die an, ein altes Weib! Es klebt an mir. Kannst du mich anders nennen, Horatio? Nur heute, damit ich aus diesem Bett aufstehen und zu Esther fahren kann?«
Er wandte ihr sein Gesicht wieder zu. »Nein, Lydia.« Seine Augen glänzten. »Nur heute kann ich nicht. Ich nenne dich immer so. Jeden Tag. Meine Liebste. Meine Einzige. Meine schönste Lydia.«
In weichen Wellen zogen die Worte durch ihren Körper und trieben die Eisschollen fort. Sie wollte sich gegen ihn lehnen. Sie wünschte, er würde sie wiegen.
»Ich würde dir gern ein Paar Handschuhe geben«, sagte er, »damit du nicht solche Angst hast, mich anzufassen. Leider habe ich meine im Auto vergessen.«
»Im Auto? Bist du verrückt, Horatio? Du bist von Portsmouth bis hierher in einem Auto gefahren?«
Er biss sich auf die Lippe. »Ich fürchte, es war eine meiner schlechteren Ideen. Hinter Petersfield gab der Motor den Geist auf. Zu meinem Glück habe ich den Zug erwischt.«
»Und das Auto?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das steht irgendwo am Gleis.«
Ihre Hände krallten sich umeinander. »Handschuhe brauche ich nicht«, sagte sie. »Ich habe Angst, dich anzufassen, weil ich dich nicht noch einmal loslassen könnte.«
»Und musst du?«
»Hör auf!«, rief sie, aber da hatte sie schon ihren Kopf an seine Brust gelegt, und er hatte die Arme fest um sie geschlossen. »Wir machen ja alles schlimmer, Horatio, wir haben doch dafür keine Zeit, und ich muss dir auch sagen, wer der Vater von Chastitys Kind ist, denn gewiss hat es euch Mildred nicht gesagt. Sie hat es nicht einmal Chastity gesagt, es wird für sie und das Mädchen entsetzlich sein, und ich habe nichts Besseres im Kopf als diesen Wahnsinn …«
»Was hast du im Kopf?«, fragte er. »Willst du, dass ich mit dir schlafe, damit du dich wieder spürst? Das ist kein Wahnsinn. Glaub mir, es hilft.«
»Ich bin ein altes Weib«, fauchte sie ihn an und fragte sich: Ist das dein Ernst? In Portsmouth geht die Welt unter, und du liegst im Bett und flirtest mit Horatio Weaver?
Sie hatte vergessen, was sein Lächeln mit seinem Gesicht tat. »Dann passen wir ziemlich gut zusammen«, sagte er. »Und wenn du mich ohrfeigst, weil ich dich küsse, wäre das unseres Alters nicht würdig, Lydia.«
»Wir sind unseres Alters sowieso nicht würdig«, entgegnete sie, dann war es zu spät. Er küsste sie behutsam, wie um alles, was in ihr wund war, zu liebkosen. Ihre Kehle, ihre Lippen, ihr Herz. Er streichelte ihre schmerzenden Rippen, ihren Rücken, ließ seine Finger ihren Hals trösten und umfasste, ehe seine Lippen sich von ihr lösten, mit beiden Händen ihre Wangen. »Ich schwöre, ich habe das nicht geplant«, sagte er, und seine Stimme war so rau wie ihre. »Ich bin ein Idiot, ich hätte es wissen müssen – du hast nie aufgehört mir zu fehlen.«
»Nein«, sagte sie und begann mit allen Fingern sein Gesicht zu streicheln. »Du bist kein Idiot. Mein Liebster. Mein Einziger. Mein verboten schöner Horatio. Und was machen wir jetzt?«
»Wir fahren nach Portsmouth.«
Sie schwang die Beine aus dem Bett. »Aber ich will dich nicht loslassen.«
»Liebste Lydia«, sagte er, »ich bin ein alter Mann und lasse dich altes Weib in dem bisschen Zeit, das uns bleibt, gewiss nicht los.«
»Aber was soll denn aus uns werden?«
»Sind wir zum Werden nicht zu alt? Lass uns nicht denken, wir haben schon so viel gedacht. Wenn du gesund bist, will ich dich lieben, bis du den blinden Trottel von Polizisten vergisst, und wenn dieses fürchterliche Chaos mit Esther und Selene gelöst ist, will ich dekadent mit dir essen gehen und dir erzählen, dass du die hübschesten Ohren von England hast. Ich will meinen Kopf in deinen Schoß legen und mich wie ein Rotzjunge bei dir ausweinen, weil ich mich nach dir krank gesehnt habe. Mehr weiß ich nicht. Und mehr will ich jetzt auch nicht wissen müssen.«
Er erhob sich und wandte sich zur Tür. Sie sprang auf, lief hinter ihm her und warf ihm die Arme um die Schultern. Der linke tat weh. Aber ihre Füße waren gesprungen wie die von einem jungen Mädchen. »Ich will’s auch nicht wissen müssen«, flüsterte sie in sein Ohr. »Nur nicht noch einmal allein sein.«
Er drehte sich um, sah ihr in die Augen und schwieg.