Kapitel 29
Portsmouth, April 1869
Es war einer dieser Tage gewesen. Sie hatten beim Frühstück gesessen – selten genug kam es vor, dass Victor mit ihr und Charles frühstückte –, er hatte die Post durchgesehen, war jäh aufgesprungen und hatte verkündet, er müsse fort. Seufzend hatte Sukie das Mädchen gerufen und es gebeten, das Gedeck des Herrn abzuräumen.
Sie hatte kein Recht, ihn mit Genörgel zu quälen. Er hatte ihr nie etwas vorgeheuchelt. Letzten Endes hielt er sie wie eine Fürstin, und von dem Leben, das sie führte, konnten die meisten Ehefrauen nur träumen. Allein wenn sie ihr Kind sah, brach es ihr das Herz. Der kleine Charles war so reizend, so zauberhaft, er hätte seinen Vater gewiss für sich gewonnen, wäre der Vater nur je da gewesen, hätte er sein Kind auch nur eines Blickes gewürdigt.
Erneut aufseufzend wollte Sukie sich an ihre Arbeit machen. Sie hatten jetzt auch im Winter Gäste, meist Angehörige der in Portsmouth stationierten Soldaten. Mit ersten Versuchen, einen Luxusflügel auszubauen, war Victor gescheitert. Während der Ansturm auf die billigen Betten beständig anschwoll, blieben die mit allem Komfort versehenen Suiten leer. Wer sich ein solches Quartier leisten konnte, der nahm es nicht auf der Gewürzinsel. Der Misserfolg nagte an Victor, doch die Pension hätte besser nicht laufen können. Sukie wusch längst keine Wäsche mehr, sondern führte wie eine Herrin die Aufsicht über das Personal.
Der Mann war im Empfang vorstellig geworden, und das Mädchen hatte ihn hinüber ins Verwalterhaus geschickt. »Mein Name ist Wolfe. Mr März erwartet mich.«
»Er musste dringend weg«, erklärte Sukie.
»Sie meinen, er hat vergessen, dass er mit mir verabredet ist?«
Und warum wohl nicht?, hätte Sukie am liebsten gefragt. Über diesen seltsamen Briefen vergaß Victor alles, sogar sein eigenes Kind. »Das ist nicht weiter verwunderlich«, erwiderte sie kühl. »Mr März ist ein vielbeschäftigter Mann.«
Wolfe überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Miss, mich hätte er nicht vergessen. Er weiß, dass ich eine Nachricht für ihn habe, auf die er seit Jahren gewartet hat.«
»Die kann auch ich in Empfang nehmen«, sagte Sukie. »Ich bin keine Miss. Mr März ist mein Mann.«
»O verzeihen Sie, er hat nie …« Wolfe hob entschuldigend die Hände.
Er hat nie erwähnt, dass es uns gibt, ich weiß. Vielleicht gibt es uns ja gar nicht, zumindest nicht im Universum von Victor März. Wen gab es dort überhaupt außer ihm selbst und Mildred Weaver?
Wolfe sagte es ihr. »Es geht um seine Schwester Annette.«
Um ein Haar hätte Sukie das Klemmbrett mit den Geschirrlisten fallen lassen. Dabei hätte sie es sich denken können. Ging es nicht um Mildred und die Weaver-Brüder, so ging es um Annette. Nur um sie und Charles ging es nie. »Sagen Sie bloß, Sie haben sie gefunden?«
»Sie sind also eingeweiht?«, fragte Wolfe.
»Ich bin seine Frau«, bellte Sukie zurück. »Was denken Sie – dass mein Mann Geheimnisse vor mir hat?«
»Bitte entschuldigen Sie, Mrs März. Leider ist die Geheimniskrämerei ein Standbein meines Berufs. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen. Nein, leider habe ich sie nicht gefunden. Ich habe im Gegenteil eine schmerzliche Nachricht für Ihren Mann. Seine Schwester Annette ist im Winter 1861 vermutlich im Kindbett gestorben. Vielleicht hat es sein Gutes, wenn nicht ich, sondern Sie es ihm beibringen. Zweifellos wissen Sie, wie sehr er seine Schwester geliebt hat. Aber es gibt in all dem Dunkel auch einen Lichtstreif. Soweit ich weiß, ist nämlich gut möglich, dass die Kinder seiner Schwester überlebt haben. Der erstgeborene Sohn ist aus der Waisenpflege in Deutschland inzwischen entlassen und dürfte schwerlich aufzutreiben sein, aber wenn Mr März es wünscht, werde ich alles tun, um das in England geborene zweite Kind zu finden und in seine Obhut zu bringen.«
In Sukies Kopf überschlugen sich die Gedanken. Nur mit Mühe fasste sie sich und setzte eine unbeteiligte Miene auf. »Wir lassen von uns hören«, sagte sie zu Wolfe. »Ich nehme an, mein Mann weiß, wie er Sie erreichen kann?«
Der Detektiv gab ihr eine gedruckte Karte. »Ich habe die Adresse gewechselt. Bis Ende der Woche bin ich noch in Portsmouth. Bitte sagen Sie Ihrem Mann, ich logiere im Hotel Solent und bin jederzeit für ihn zu sprechen.«
»Ich werde es ausrichten«, erwiderte Sukie, die nicht vorhatte, auch nur ein Wort auszurichten, und die Karte in der Tasche ihres Rocks zerdrückte. Sie hatte an ihr Kind zu denken. Schlimm genug, dass es seinen Vater mit einer Schimäre von einem Luxushotel und einer verzehrenden Hassliebe teilen musste. Für das Kind einer Fremden war nicht auch noch Platz – schon gar nicht, wenn Victor diesem fremden Kind womöglich die Liebe entgegenbrachte, die er seinem eigenen vorenthielt.
»Vielen Dank«, murmelte Wolfe, offenbar unschlüssig und an der Tür noch einmal zögernd.
»Ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen«, sagte Sukie, ganz Dame des Hauses. »Nicht nur Sie, auch ich habe Pflichten.«
Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie tief und erlöst auf.
Die meisten Tage waren hart und dunkel. Zu Hyperions Verwunderung gab es jedoch noch immer Tage, die Hoffnung verliehen, obgleich er nicht wusste, worauf. Stets hingen diese Augenblicke der Hoffnung mit dem Spital zusammen. Daheim führten Mildred und er ihren Zermürbungskrieg, er, indem er schwieg und ihr auswich, und sie, indem sie ihn angriff, wo sie nur konnte. Sie hatte Sarah entlassen und statt ihrer eine Französin eingestellt. Als er sie anflehte, die altgediente Köchin zurückzuholen, fragte sie ihn: »Welches Recht hast du eigentlich, mir vorzuschreiben, wie ich mein Haus und mein Hotel führe?«
Die Frage stellte Hyperion sich selbst. Welches Recht hatte er auf irgendetwas? An manchen Tagen im Spital aber, wenn etwas gelang, was zuvor hundertmal misslungen war, wenn ein Mensch überlebte, der noch im Jahr zuvor gestorben wäre, trat er für einen Augenblick ins Freie, sog die salzige Luft in die Lungen und spürte, dass er ein Recht zu leben hatte. An manchen dieser Tage stellte er sich vor, wie er Daphne wiedersehen und was er zu ihr sagen würde. Was ich dir angetan habe, kann kein Mensch verzeihen. Aber ich habe mit dem Rest meines Lebens versucht dafür Abbitte zu leisten. Ich habe dein Leben und meines zerstört, aber ich habe danach nichts mehr gewollt, als Leben zu retten.
Einer jener Tage, der hellste von allen, war der erste Tag des Mai. Am Morgen hielt er vor Studenten eine Vorlesung über die Theorie eines deutschen Arztes namens Virchow. Dieser vertrat die Ansicht, Krankheiten würden durch Störungen in den Körperzellen verursacht werden, nicht durch ein Ungleichgewicht von Säften, wie Menschen seit zwei Jahrtausenden angenommen hatten. Es war wundervoll zu erleben, dass ein Umdenken tatsächlich stattfand, dass eine revolutionäre, mutige Vision begann sich durchzusetzen und neue Wege der Heilkunst zu eröffnen. Es war wundervoll, unter jungen Menschen zu stehen, die darauf brannten, sich auf diesem Feld zu beweisen. Dem Tod einen Kampf zu liefern. Hyperion war fünfunddreißig Jahre alt und fühlte sich nicht im mindesten mehr jung, aber die Zeit, in der er selbst so gedacht hatte, war ihm noch nah.
Anschließend rief ihn Ackroyd zu einem Notfall, dem Sohn einer Witwe, der sich vor Leibschmerzen krümmte, so dass die Witwe schrie, das Kind werde ihr in den Armen sterben. Als er im Laufschritt den Saal verlassen wollte, sah er in einen Winkel hinter die Bankreihen gedrückt seine Tochter Esther.
Er hatte Mildred versprechen müssen, das Kind nicht mehr mit ins Spital zu nehmen, er hatte ihr auch versprechen müssen, es streng zu bestrafen, wenn es auf eigene Faust das Haus verließ. Esther aber ließ sich von Strafen nicht schrecken. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in seinem Phaeton versteckte, um unbemerkt ins Spital zu gelangen.
»Bestraft werde ich sowieso«, bekundete sie gleichgültig, »ob nun Phoebe etwas Böses tut oder Georgia. Da kann ich es genauso gut selbst tun.«
»Ist das denn so?« Hyperion ging vor ihr in die Hocke. »Bestraft dich Mildred für Dinge, die die anderen tun?«
»Georgia ist lieb«, erwiderte Esther. »Immer sagt sie zu Mildred: Ich hab’s getan. Aber Mildred will das nicht hören. Darf ich hierbleiben, Vater? Nur heute, nur heute!«
Es ihr abzuschlagen und jemanden zu suchen, der sie nach Hause brachte, würde kostbare Zeit in Anspruch nehmen, also gab er nach. Mit seiner Tochter im Schlepptau eilte er in den Empfang.
Mildred hatte recht, das Kind sollte hier nicht sein. Erst kürzlich hatte es wieder etliche Fälle von Diphtherie und zwei von Typhus gegeben. Das Spital war ein Seuchenherd, eine Brutstätte der Gefahr. Andererseits waren hier überall Mütter mit Kindern, sogar solche, die ihre Säuglinge vor der Brust trugen und zwei, drei größere Geschwister an der Hand hielten. Mütter, die keine Wahl hatten, für die das Spital keine Quelle des Übels, sondern die letzte Hoffnung auf Rettung darstellte. Waren die Kinder dieser Mütter weniger schützenswert als sein eigenes?
»Sieh nur, Vater!«, rief Esther, als würde sie seine Gedanken teilen. »Hier ist ja doch ein Ort für Kinder – überall sind welche.«
Verwundert sah er auf sie hinunter, ehe er vor den kranken Jungen trat, den die Mutter, umringt von weiteren Patienten, auf die Kacheln des Bodens gebettet hatte. Das Kind war höchstens zwei Jahre älter als Esther. So alt wie Louis. Es krümmte sich und röchelte vor Schmerz. Hyperion ging in die Knie, befühlte die Stirn des Jungen und tastete seinen Leib ab, wobei der Kleine wimmernde Laute wie ein gequälter Hund ausstieß.
»Wie lange geht es ihm schon so schlecht?«, fragte er die Mutter, die auf der anderen Seite kniete.
»Ach, seit drei Tagen«, jammerte die Frau.
»Und weshalb bringen Sie ihn erst jetzt?«
»Ach«, wiederholte die Frau. »Man braucht ja doch einen Einweisungsschein oder Geld, und wir haben beides nicht.«
»Hören Sie«, befahl ihr Hyperion, »sagen Sie allen Leuten, die Sie kennen, sie sollen ihre kranken Kinder ins Spital bringen. Warten Sie nicht auf eine Einweisung. Kommen Sie hierher. Es gibt nicht viel, das wir tun können, aber das mag besser sein als nichts.«
Sie hatten noch immer für jedes Bett fünf Patienten, die darauf warteten. Wenn die Sponsoren Wind davon bekamen, dass er das Einweisungsprinzip überging, würde man ihm die Leitung entziehen, aber für derlei Sorgen hatte er jetzt keine Zeit. »Hat Ihr Sohn sich erbrochen?«, fragte er die Frau, die von neuem zu weinen begonnen hatte und nickte.
»Und war er noch auf dem Abort?«
Die Mutter schüttelte den Kopf.
Mehr brauchte er nicht zu wissen. Eine eindeutige Diagnose war unmöglich, aber in diesem Fall war er sicher. Der Junge hatte eine Appendizitis, und um auf eine Heilung durch althergebrachte Mittel zu hoffen, war die Krankheit zu weit fortgeschritten. Binnen kurzem würde der Schmerz verstummen und Mutter und Sohn in der Hoffnung wiegen, das Schlimmste sei überstanden, während die Pause in Wahrheit bedeutete, dass das entzündete Organ aufgebrochen war und der Eiter in die Bauchhöhle quoll. Im Handumdrehen käme der Schmerz zurück, und mit ihm träte der Tod in den Raum, um den Jungen in die Arme zu reißen.
Der Junge war so alt wie Louis. Er würde nicht älter werden.
»Robert ist doch mein Einziger«, sagte die Frau weinend. »Er geht zur Schule. Er lernt so gut.«
Robert würde nicht weiter lernen, und sein Tod, den seine Mutter miterleben musste, würde qualvoll sein.
Es sei denn, ich schneide ihm den Appendix heraus.
Hyperion wusste, was Kollegen von ihm sagten: »Hüte dich vor Dr. Weavers Skalpell!« oder: »Der Weaver ist vom Schneiden so besessen wie vom Waschen.« Manchmal übte er nächtelang an Puppen, Blutbahnen abzuklemmen, Schnitte zu setzen und beim Vernähen Blutungen zu stoppen. Solange wir nichts haben, um die Krankheit zu heilen, bleibt uns nur, das Organ zu entfernen, ehe uns der Körper stirbt. Noch immer hatte die Chirurgie nicht die Anerkennung gefunden, die ihr gebührte, aber es gab Ärzte, die anders dachten. Der junge Ackroyd zum Beispiel. Er würde ihm assistieren. In Deutschland hatte ein Chirurg eine Niere entfernt, damit ihm an einer Fistel kein ganzer Mensch starb. Die Schilddrüse ließ sich aus der Kehle lösen und der Uterus aus der Tiefe des Frauenleibes. Warum nicht ein Appendix, den der Körper zum Leben gar nicht brauchte? Zumindest theoretisch war der Schnitt beschrieben worden, er stellte nicht einmal eine besondere Schwierigkeit dar.
»Ich muss Ihren Sohn operieren«, hörte er sich sagen und sah sich dabei schon nach Ackroyd um.
Vielleicht hätte er die Operation nicht gewagt ohne Listers Karbolsäure, die er inzwischen bei jedem Eingriff einsetzen ließ. In seinen Augen war die Flasche mit der Säure, die Lister nach den Erkenntnissen von Pasteur und dem Ungarn Semmelweis entwickelt hatte, ein größeres Weltwunder als alle Pyramiden Ägyptens. Sie tötete Keime. Sie rettete Leben. Als er mit Ackroyd den Operationssaal betrat, den die Maisonne in gleißendes Licht tauchte, war Hyperion seiner selbst so sicher, wie er es außerhalb dieses Raums niemals war. Was er tat, war richtig. Dem Tod die Stirn bieten. Um ein Leben kämpfen bis zu dem Augenblick, in dem es verlosch.
Hatten Chirurgen vor der Erfindung der Narkose ihre Schnitte innerhalb von Sekunden setzen müssen, so hatten sie jetzt Zeit, mit Sorgfalt und Bedacht zu arbeiten. Der menschliche Körper kam Hyperion jedes Mal, wenn er die Hände darauf legte, noch immer wie der einzige Tempel vor, dem er zu huldigen vermochte. Er hatte die Bauchhöhle kaum geöffnet, als er sah, dass der Junge Glück gehabt hatte. Das befallene Organ war nicht aufgebrochen. Und kein Tropfen Eiter ausgetreten. Alles lag so heil und wohlgestaltet an seinem Platz wie bei einem gesunden Kind. Er hatte eine Chance. Wenn jemand dieses Husarenstück von einer Operation überleben konnte, dann der Junge, der Robert hieß, gut lernte und so alt wie Louis war.
Er überlebte sie. Als eine Stunde später die Naht gesetzt war, atmete er zwar noch flach, aber gleichmäßig, und das Fieber war nicht gestiegen. Die Nacht würde zeigen, ob er es endgültig schaffte – darüber befanden nicht die Ärzte, die ihr Möglichstes getan hatten, sondern eine andere Instanz. Mit geradezu seligem Lächeln ergriff Will Ackroyd seine Hand. »Das war großartig, Dr. Weaver«, sagte er. »Ein Meisterwerk.«
Hinter seinem Bein drückte sich ein kleines Gesicht mit leuchtenden Augen hervor. »Um Gottes willen!«, entfuhr es Hyperion.
»Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte Ackroyd. »Sie hat sich irgendwie eingeschlichen, und als ich es bemerkte, war es zu spät, sie nach draußen zu bringen.«
»Nicht Sie trifft die Schuld, sondern mich.« Ratlos sah Hyperion hinunter auf seine Tochter. Kaum zu glauben, dass sie eine Operation am offenen Menschenkörper mit angesehen hatte, ohne zu schreien oder auch nur ein Wort zu sagen. Er wusste, er hätte sie bestrafen müssen, aber etwas in ihren Augen, das Leuchten, hielt ihn zurück. Er vermochte nicht, sie anzurühren, da er die Erregung, die er an ihr wahrzunehmen glaubte, allzu gut kannte.
Weil Ackroyd und Esther ihn drängten, überließ er den Jungen den Pflegerinnen und ging mit den beiden in die Kantine. »Wir haben etwas zu feiern«, sagte Ackroyd. Vor allem hatten sie dem Kind etwas zu essen zu beschaffen, aber was aß ein Kind dieses Alters? Hyperion hatte keine Ahnung. Zu seiner Erleichterung wollte Esther überhaupt nichts essen, sondern war glücklich, weil sie Limonade trinken und von Robert schwatzen durfte, der bald wieder spielen und lernen würde. »Weil du ihn heilgemacht hast, Vater.«
»Ich bin kein Gott, Esther. Ich kann Kranke behandeln, nicht sie heilmachen.«
»Wenn ich groß bin, mache ich auch Kranke heil«, erwiderte Esther ungerührt.
Ackroyd lachte. »Wirklich schade, dass Ihre Tochter kein Junge ist. Der würde in Ihre Fußstapfen treten.«
Wäre Louis in seine Fußstapfen getreten? Die Sehnsucht nach seinem Sohn überfiel ihn einmal mehr mit einer Macht, die solche Gedanken lächerlich unwichtig machte. Ackroyd hatte offenbar bemerkt, an welche Wunde er gerührt hatte, denn er verstummte und senkte beschämt den Kopf.
»Dürfen nur Jungen Arzt werden, Vater?« Esthers Augen waren weit aufgerissen und die kleine Stirn in Falten gelegt.
»Ja«, antwortete Hyperion unwirsch, weil er das Gespräch kaum ertrug. »Und das ist auch gut so. Von jetzt an bleibst du zu Hause, verstanden?«
Esther öffnete den Mund. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als eine der Schwestern in die Tür trat, sich umsah und auf ihren Tisch zusteuerte. »Ah, Dr. Weaver.« Hyperion wurde kalt. Sie würde ihm sagen, dass Robert gestorben war, dass ihre eitle Freude nur ein Hohn gewesen war.
Die Schwester lächelte. »Sie haben Besuch«, sagte sie und winkte eine zweite Person, die noch in der Tür stand, herein. Die zweite Frau, die in die schlecht ausgeleuchtete Kantine trat, war klein und hatte dichtes braunes Haar, das in Wellen unter ihrer Haube hervorfiel.
Mit einer leisen Art von Grazie trat sie vor den Tisch und knickste. Jetzt erst erkannte Hyperion, dass sie keineswegs eine Frau, sondern ein Mädchen von höchstens zwölf Jahren war. Sie trug einen der Körbe am Arm, in denen sonst der Bursche des Metzgers ihnen Wurst brachte. »Das Spital gehört ab heute zu meiner Schicht«, sagte das Mädchen. »Also dachte ich, ich schaue einmal, ob ich Sie finden und mich bedanken kann. Das wollte ich nämlich schon lange tun.«
Sie war von außergewöhnlicher Schönheit, fand Hyperion. Nicht, weil etwas an ihr spektakulär war, sondern weil ihr Gesicht eine innere Ruhe und Stärke ausstrahlte, wie er sie nie zuvor bei einem Kind gesehen hatte. Ihre Stimme war auch schön, und sie sprach wie ein Mensch, der seiner selbst ganz sicher ist. Der grobe Dialekt, der zu den schäbigen Kleidern gepasst hätte, fehlte, und beim Lächeln entblößte sie zwei Reihen makelloser Zähne, wie man sie bei Menschen ihres Standes kaum je fand.
Zweifellos erwartete sie eine Entgegnung von ihm. Als ihm keine einfiel, lachte sie auf. »Erkennen Sie mich nicht wieder?« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Lydia Burleigh. Sie haben mir in den Hals geschnitten und mich von der Bräune gerettet.«
Hyperion konnte nicht glauben, was er hörte, und noch weniger, was er sah. »Du … du hast überlebt?«, stotterte er, was so albern klang, dass sogar die ernste kleine Esther lachen musste.
»Aber ja doch«, erwiderte Lydia Burleigh fröhlich und fischte etwas aus dem Korb. »Das musste ich ja, ich hatte doch meinen Abakus.«
Noch immer ohne Fassung nahm Hyperion das alte Spielzeug in die Hand. Von den hölzernen Perlen war die Farbe fast völlig heruntergeschabt, als hätte sie ihn ständig benutzt.
»Im Arbeitshaus haben mich alle Kinder darum beneidet«, erzählte sie. »Und ich habe mir fest vorgenommen, nie wieder krank zu werden, damit ich in die Schule gehen und lernen kann, wie man ihn richtig benutzt.«
»Und hast du dein Ziel erreicht?«
Sie nickte. »Meine Mutter hat uns aus dem Arbeitshaus herausgeholt. Sie hat eine Stellung im Haushalt gefunden, und dann haben wir beide jeden Penny gespart und jede Woche mit dem Abakus ausgerechnet, wie viel wir schon haben. Jetzt gehe ich auf Pounds’ Armenschule. Jeden Tag, wenn ich kann. Nur am Abend trage ich Lebensmittel aus.«
Bisher hatte Hyperion geglaubt, in dem einstöckigen Gebäude, in dem John Pounds seine Schule für die Kinder der Armen begründet hatte, würden nur Jungen unterrichtet. An Entschlossenheit nahm es dieses Mädchen jedoch spielend mit jedem Jungen auf. Unbändige Freude packte ihn, ein tief verschüttetes Gefühl. Er hob das Glas, das Ackroyd ihm hingestellt und das er nicht hatte trinken wollen. »Mein Kollege hat recht«, erklärte er, »wir haben wohl wirklich etwas zu feiern.«
»Danke, Herr Doktor«, sagte das Mädchen.
»Danke, dass es dich gibt«, erwiderte Hyperion.
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als er mit der schlafenden Esther im Phaeton nach Mount Othrys fuhr. Das Mädchen Lydia war leichtfüßig nach Hause zu seiner Mutter gelaufen, und der Junge Robert war noch am Leben, und sein Fieber sank. War dieser Tag nicht zu reich, um wahr zu sein, konnte ein solcher Tag wirklich ihm gehören? Im Licht der Gaslaternen sah er einen Mann die Straße hinuntergehen, den er kannte. Selbst von hinten war seine Statur nicht zu verkennen. Es war Victor März.
Wie ein Schlag traf ihn die Erinnerung an das, was er dem Mann getan hatte. Vielleicht lag es an dem Wiedersehen mit Lydia Burleigh, dass ihm so plötzlich das alles wieder einfiel. März hatte auch jemanden wiedersehen wollen. Seine Schwester, die tot war. Seine Schwester, die ein Kind geboren hatte. Dass März nach dem Kind nicht suchen konnte, war Hyperions Schuld. Weil er an nichts als seinen eigenen Schmerz hatte denken können, wussten diese beiden – Onkel und Nichte – voneinander nicht einmal, dass sie existierten. Ohne nachzudenken zog er die Zügel straff und sprang vom Bock, ehe das Pferd stand. »Mr März!«, rief er dem Hünen hinterher. »Auf einen Augenblick – ich muss Sie sprechen!«
Der Deutsche blieb stehen und wandte den Kopf. Unschlüssig machte er einen halben Schritt weiter.
»Es geht um Ihre Schwester«, sagte Hyperion.
Victor März drehte sich um und kam ihm die Straße hinunter entgegen.