Kapitel 33
Portsmouth, Frühling 1882
Du musst mitkommen, Lydia, ich flehe dich an. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich auch nicht hin.«
Lydia musste lachen. »Auf gar keinen Fall!«, rief sie in den von stürmischen Böen gepeitschten Regen. »Ich habe nicht einmal ein Kleid, das ich auf solch illustrem Anlass anziehen könnte.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Esther gleichmütig. »Das heißt, ich habe den ganzen Schrank voller Kleider, weil Mildred immer neue hineinstopft, aber ich vergesse grundsätzlich, mich umzuziehen. Außerdem ist es kein illustrer Anlass, sondern Noras Geburtstag. Ich habe Nora schon gesagt, dass du kommst, und sie freut sich so.«
»Du bist unmöglich.« Trotz des Regens, der ihre einzige Haube durchweichen würde, blieb Lydia stehen. »Nora kennt mich doch gar nicht. Weshalb sollte sie sich freuen, wenn ich auf ihrem Geburtstag auftauche?«
»Weil die arme Nora niemanden kennt«, gab Esther zurück. »Nur alte, langweilige Bekannte ihrer Eltern wie Andrew Ternan und Philip Lewis. Sie ist selig, wenn ein bisschen Leben ins Haus kommt.« Kurzerhand packte Esther Lydia am Ärmel und zog sie unter das Vordach des Schulgebäudes. Diese Schule – die Portsmouth High School for Girls – war vor drei Jahren gegründet worden und stellte eine kleine Sensation dar. Sie war die erste weiterführende Schule für Mädchen in ganz Hampshire. Lydia unterrichtete hier, und Esther hatte es ihrer Familie abgetrotzt, die Schule besuchen zu dürfen. Sie war so klug, wie sie fleißig war, und wollte Medizin studieren. Eine Schande, dass sie in diesem Land kaum die Möglichkeit dazu erhalten würde, sondern nach Kanada oder in die Vereinigten Staaten auswandern musste. Schon jetzt, anderthalb Jahre vor ihrem Abschluss, sparte Esther jeden Penny, um sich die erträumte Zukunft leisten zu können.
Für Lydia war sie mehr als eine Lieblingsschülerin – trotz der sieben Jahre Altersunterschied betrachtete sie Esther als ihre Freundin. Seit sie einander im Sankt-Joseph-Spital begegnet waren, hatten die beiden sich nie wieder aus den Augen verloren. Den hingerissenen Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes, das von einer Entfernung des Appendix berichtete, würde Lydia für immer im Gedächtnis bleiben. Wenn je ein Mensch für den Arztberuf geboren worden war, dann war es Esther Weaver.
Ihre Pause hatten die beiden im Hof verbracht, um zum hundertsten Mal über den Tanztee bei Esthers Base zu streiten. Es rührte Lydia, dass Esther so viel daran lag, sie in ihre Familie einzuführen. Die Freundin wollte einfach nicht einsehen, dass Lydia zu dieser Familie nicht passte. Von Esthers Angehörigen, die sie höchstens flüchtig kannte, mochte sie nur ihren Vater, und der mied solche Feste, wo er nur konnte. Hyperion Weaver verbrachte jeden wachen Augenblick seines Lebens im Spital.
»He, hörst du mir überhaupt zu?« Esther zupfte sie am Ärmel. »Ich habe dich gefragt, ob du das verantworten kannst, dass die arme Nora an ihrem Geburtstag zwischen alten, langweiligen Krautern sitzt.«
»Ich bin auch ein altes, langweiliges Kraut«, gab Lydia zu bedenken.
»Du doch nicht!«, protestierte Esther. »Du bist weder langweilig wie Noras Vetter Philip, der nur von seinem Regiment schwatzt, noch uralt wie Andrew Ternan, der vermutlich überhaupt nicht schwatzen kann.«
Noch einmal musste Lydia lachen. »Die beiden tun mir beinahe leid. Wissen sie, wie vernichtend dein Urteil über sie ausfällt?«
»Ach wo!«, antwortete Esther. »Ich sage das nur hier, wo es niemandem weh tut, versprochen. Außerdem fällt ihr Urteil über mich bestimmt nicht besser aus. Ich kann es förmlich hören: Esther Weaver? Meinst du den hässlichen Blaustrumpf, der nicht weiß, wie man sich die Haare kämmt, und eine Schuluniform für ein Ballkleid hält?«
Sie lachten beide. Auch wenn Lydia Esther gern gesagt hätte, dass sie alles andere als hässlich war. Ihr Äußeres, auf das andere Mädchen so viel Mühe verwandten, schien ihr völlig gleichgültig. Sie lief in der Tat ungekämmt und in der achtlos übergeworfenen Schulkleidung umher, aber das nahm ihrer Erscheinung nicht den Zauber. Im Gegenteil. Es war bei weitem nicht nur das herrliche Haar oder die graziöse Figur des Mädchens, nach denen Männer wie Frauen die Köpfe verdrehten. Esther besaß eine Ausstrahlung, die man bei so jungen Menschen selten fand. Vielleicht war ihre Schönheit gerade deshalb so fesselnd, weil sie selbst sich ihrer gänzlich unbewusst war.
»Wir müssen zurück«, ermahnte Lydia die Freundin und verzog das Gesicht, während sie in den strömenden Regen wies.
»Ich bleibe hier, bis du mir versprichst, dass du mit mir zu Nora kommst«, beharrte Esther. »Bitte, Lydia, ich will dir doch endlich all die Leute vorstellen, von denen ich dir erzählt habe – Tante Bernice, aus der du vier Tanten machen kannst, und die arme Nora und meinen Cousin Horatio, das Genie.«
»Den will ich ganz sicher nicht kennenlernen!«, begehrte Lydia auf. Esthers Cousin, der in Oxford Physik und Astronomie studierte und als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, galt nicht nur als Genie, sondern vor allem als unersättlicher Frauenverführer. In Fratton sollte sich eine Sechzehnjährige seinetwegen aufgehängt haben, und unter Lydias Kolleginnen wurde gemunkelt, er habe ein Verhältnis mit seiner eigenen Tante, der rassigen Maria Lewis. Lydia war keine Frau, die etwas auf Klatsch gab. Aber sie war eine, die für die Rechte von Frauen eintrat, gegen frauenfeindliche Erlasse kämpfte und forderte, dass kluge Mädchen ebenso studieren durften wie kluge Männer. Horatio Weaver war ihr zuwider, weil er in einem Kommentar in der Portsmouth Times geschrieben hatte, Frauen an Universitäten trügen zwar zum Amüsement der Studenten, aber keineswegs zum Fortschritt des Landes bei.
Aus Esthers Gesicht wich die Heiterkeit. »Horatio ist nicht der Satan, den alle in ihm sehen«, murmelte sie mit Trotz in der Stimme. »Er lässt nur keinen nah an sich heran und hat diesen Zwang in sich, Menschen gegen sich aufzubringen – aber vielleicht wäre bei einem solchen Vater ja jeder so. Ich habe einmal erlebt, wie Onkel Hector Horatio prügeln ließ. Ich war elf und Horatio sechzehn. Er hat den Gärtnern befohlen, ihn auf den Schreibtisch niederzudrücken, und dem Erzieher, ihm drei Dutzend Schläge mit dem Stock und einen Hieb mit der Kutscherpeitsche zu geben. Georgia, Nora und ich mussten dabei zusehen. Ich glaube, wenn ich Horatio wäre, ich hätte meinen Vater umgebracht.«
Lydia fand die Vorstellung, wie dem arroganten Frauenhasser der Hintern ausgedroschen wurde, ziemlich erfreulich, so pervers ihr solche Methode der Erziehung auch erschien. »Ich will das nicht hören«, erklärte sie der Freundin. »Ich mag dich, Esther. Deine Familie mag ich nicht.«
»Das ist Unsinn! Hast du nicht gesagt, solche Vorurteile seien intelligenter Menschen nicht würdig? Meine Familie, das sind doch nicht nur Horatio und Onkel Hector. Weshalb solltest du Georgia nicht mögen? Es gibt niemanden auf der Welt, der so witzig ist! Und die arme Nora, was hat die irgendwem getan? Mildred ist eben Mildred – es gibt etliche, die sich über sie die Mäuler zerreißen, aber vielleicht sollten die erst einmal zustande bringen, was Mildred geschafft hat. Mich hat sie aufgezogen, nachdem meine Mutter mich verlassen hat, und das vergesse ich ihr nicht. Wer Mildred nicht mag, mag mich auch nicht, und wer die Kleinen nicht mag, ist nicht ganz bei Trost.«
»Das denkt so mancher von mir«, erwiderte Lydia, nahm Esther beim Arm und zog sie mit sich in den Regen. »Jetzt komm, du Starrkopf. Für den Nachmittag steht Geschichte auf dem Plan, das ist nicht eben deine starke Seite. Wenn du mir die Abfolge der napoleonischen Kriege fehlerfrei herbeten kannst, komme ich in Gottes Namen mit zu deinem Tanz.«
»Ha!«, rief Esther vergnügt. »Das wäre doch gelacht!«
Ja, dachte Lydia. Das wäre doch gelacht. Sie kannte Esthers Entschlossenheit und wusste, dass sie an Weihnachten und Ostern eher vorbeikommen würde als am Tanz im Haus von Hector Weaver.
Hätte es eine Wahl zum unbeliebtesten Mann der Stadt gegeben, so hätte Weaver sie zweifellos gewonnen. Er war der Inhaber der Gasanstalt. Wer in Portsmouth nicht bei Kerzenschein hocken wollte, war auf Weaver angewiesen, und wer mit der Zahlung seiner Wucherpreise auch nur eine Woche im Rückstand war, dem kappte er kurzerhand die Leitung.
Lydia und ihre Mutter konnten ein trauriges Lied davon singen. Der Lohn, den Lydia in der Schule bezog, war kaum mehr als ein Almosen – nicht zu vergleichen mit den Gehältern an Knabenschulen. Ihre eigenen Bedürfnisse waren mehr als bescheiden, doch ihrer Mutter sollte es an nichts fehlen. Die Mutter hatte sich den Rücken krumm geschuftet, um der Tochter den Weg zu ebnen, und jetzt sollte sie in der kleinen Wohnung, die Lydia für sie beide gemietet hatte, den Rest ihres Lebens genießen. Wer ihrer Mutter das Gas abstellte, der machte sich Lydia zum Feind.
Das Haus der Weavers – größenwahnsinnig Mount Olymp getauft – erhob sich als protziger Palast. Hätte Esther sie nicht am Arm gezerrt, hätte Lydia kehrtgemacht. Drinnen war es nicht besser. Inmitten von überladenem Zierrat kam sie sich vor, als wäre sie ins Sommerhaus der Königin geraten, und die aufgesetzte Vornehmheit erschien geradezu grotesk. Esthers Tante, die ihr hoheitsvoll die behandschuhte Hand entgegenhielt, war tatsächlich die dickste Frau, die sie je gesehen hatte. Wie viele Menschen hätte man von den Bergen, die Bernice Weaver vertilgte, ernähren können? »Noch Kuchen übrig, Tantchen?«, fragte Georgia, die mit den jüngeren Schwestern im Schlepptau folgte. Der giftige Blick, den der Fleischberg ihr zuwarf, imponierte ihr nicht.
Die Geburtstagsgesellschaft saß im Salon um weißgedeckte Tische, zwischen denen Hausmädchen mit beladenen Teewagen hin und her hetzten. Lydia kam es falsch vor, dass Frauen im Alter ihrer Mutter diese Backfische, die niemandem von Nutzen waren, bedienen mussten. »Danke, ich kann das allein tun«, erklärte sie deshalb der Bediensteten, die zum Büfett eilen wollte, um einen Ständer mit Teekuchen für sie zu holen. Die Frau sah sie an, als wäre sie nicht bei Verstand.
Die Kapelle, die sich um einen Flügel gruppierte, spielte dezente Klänge zur Untermalung. Dass hier später getanzt werden sollte, erschien Lydia unvorstellbar, so steif, wie die Versammelten auf ihren Stühlen hockten. Esther und Georgia hatten den jüngeren Schwestern geholfen, an einem langen Tisch Platz zu nehmen, der offenbar der Jubilarin und ihren Verwandten vorbehalten war. Auch das kam Lydia falsch vor – dass sich Esther und Georgia um ihre Schwestern, die vierzehn und elf Jahre alt waren, kümmerten wie um zwei Wickelkinder. Die Jüngste litt an krankhafter Schüchternheit und bekam auch jetzt den Mund nicht auf. Ein paar Jahre in einer öffentlichen Schule hätten sie davon kuriert, befand Lydia, aber so etwas kam für die Töchter von Mildred Weaver natürlich nicht in Frage. Stattdessen wurde der älteren Phoebe erlaubt, in dasselbe Verhalten zu verfallen. Verängstigt, als hätte man sie in einen Karzer gesperrt, kauerten beide vor vollgehäuften Kuchentellern.
Die Jubilarin auf dem Ehrenplatz in der Mitte sah nicht glücklicher aus. Ihr hellblaues, mit einer Unzahl von Rüschen und Spitzen besetztes Kleid betonte ihre unnatürliche Blässe, und der Blumenkranz drohte aus ihrem farblosen Haar zu rutschen. Als sie die Hand nach ihrer Teetasse ausstreckte, erschrak Lydia. Nie zuvor, nicht einmal im Arbeitshaus, hatte sie ein so mageres Geschöpf gesehen. Nora Weavers Hand glich dem Porzellan der Tasse – bei einer festen Berührung würden beide zerbrechen.
Lydia fand die meisten Männer, aber nur die wenigsten Frauen hässlich, und auch Nora Weaver hätte schön sein können. Sie hatte ein streng und klar geschnittenes Gesicht, reine Haut und mandelförmige Augen. Sie wäre schön, wenn sie es sich erlauben würde, durchfuhr es Lydia.
Neben Nora saß ein dunkelhaariger Mann im schwarzen Cutaway, der seinen Teller mit einer Geste von solcher Verachtung von sich schob, als hätte man ihm keine sahnigen Teekuchen, sondern Würmer und Milben vorgesetzt. Er lehnte sich zurück, kreuzte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Was dachte sich der Kerl? Wollte er den Ehrenpreis für die schlechtesten Manieren gewinnen? Verärgert bemerkte sie, dass sie ihn anstarrte. Er hatte lange, wie Muscheln geformte Lider und Wimpern wie in schwarze Tinte getaucht.
»He, Horatio, auf mit dir!«, rief Georgia. »Ehe dir ein Zacken aus der Krone fällt, sag deinen Untertanen zumindest guten Tag.«
Lydia sandte ihr ein anerkennendes Grinsen. Sie mochte Georgia, die mit ihrem stämmigen Bau, dem strohigen Haar und dem breiten Mund jedem Schönheitsideal widersprach.
Wie ein schönes träges Tier erhob sich der Mann vom Stuhl. Erst jetzt begriff Lydia. Das also war der berüchtigte Horatio, dem sein Vater den Hintern offenbar nicht kräftig genug versohlt hatte. Wütend sah Lydia zu, wie er die drei jüngeren Basen begrüßte, ohne ihnen auch nur die Hand zu geben, und sich dann mit lässigem Schwung der Schultern zu ihr und Esther umdrehte. »Lydia, das ist mein Cousin Horatio«, rief Esther geradezu stolz. »Es gefällt ihm, sich wie die Axt im Walde zu benehmen, aber wenn es ihm nicht so peinlich wäre, wäre er ein netter Kerl.«
Horatio hob eine teuflisch schwarze Braue, die sich zum perfekten Bogen krümmte. »Was soll mir bei der Verwandtschaft noch peinlich sein?«, entgegnete er trocken und schob hastig die Hand auf seinen Rücken, als Esther danach greifen wollte. Sein Blick traf Lydia.
»Das ist meine Freundin, Miss Lydia Burleigh«, murmelte Esther, dann ließ etwas sie verstummen. Lydia, der eine pfeilspitze Bemerkung auf der Zunge lag, sagte kein Wort.
Sie wollte dem Mann nicht in die Augen sehen. Seine Augen waren braun und arrogant und schön. Als er sich nicht abwandte, senkte sie den Blick. Gleich darauf wurde sie noch wütender. War es nicht das, was sie ihren Schülerinnen predigte: Nie, nie, nie hat ein Mädchen Grund, vor einem Mann den Blick zu senken. Sie zwang sich, wieder aufzuschauen. Der Mann sah sie noch immer an. Die blasierte Langeweile auf seinem Gesicht war fortgewischt, doch was jetzt darauf lag, vermochte sie nicht zu deuten. Etwas Erschrockenes, Verstörtes – aber was sollte den Widerling verstört haben? Er öffnete den Mund und stieß zwei Worte aus: »Verzeihen Sie.«
Hatte er das je zuvor getan, jemanden um Verzeihung gebeten? Er senkte den Kopf, dass ihm sein schweres Haar in die Stirn fiel und verriet, wie jung er war. Lydia zwang sich, die Schultern zu straffen. »Ich wüsste nicht, was ich Ihnen zu verzeihen hätte«, versetzte sie kühl. »Ich habe mit Ihnen nämlich nichts zu schaffen.«
In seiner Wange zuckte ein Muskel. »Doch«, sagte er.
Georgia kicherte.
»Wie bitte?«, entfuhr es Lydia.
»Doch, Sie haben mit mir zu schaffen«, entgegnete Horatio Weaver, drängte sich zwischen seiner Schwester und einem älteren Gast hindurch und kam zu ihr. Lydia sah alles, was sie nicht sehen wollte – breite Schultern, schlanke Hüften, lange Beine, die sich geradezu graziös bewegten. Warum durfte Verdorbenes so schön sein? Bevor er sich vor ihr verbeugte, gab er der Kapelle ein Zeichen. So nah war er ihr jetzt, dass sie seinen Duft wahrnahm. Sie mochte den Duft von Frauen, der von Männern war ihr zu beherrschend, zu herb, zu intensiv. Die Kapelle begann, einen langsamen Walzer zu spielen. Horatio Weaver reichte ihr den Arm.
»Habe ich zugesagt, mit Ihnen zu tanzen?«
Er nickte.
»Das wäre mir neu«, sagte Lydia und wandte sich ab. Er umfasste ihren Oberarm und drehte sie zu sich zurück, legte die Arme um sie und begann mit ihr zu tanzen. Lydia hatte nie tanzen gelernt, sie hatte für derlei Nichtigkeiten weder Zeit noch Geld. Der hingegen, der Horatio Weaver tanzen gelehrt hatte, war ein verteufelt guter Lehrer gewesen. Die sanfte Gewalt, mit der er sie in jede Schwingung der Musik hineinwiegte, versetzte sie in Zorn. Er überragte sie um einen knappen Kopf und tanzte mit ihr wie ein Mann, der eine Frau durchs Leben tragen wollte. Aber Männer trugen Frauen nicht durchs Leben, sie brachten sie höchstens ins Straucheln und brachen ihnen das Genick.
Zwei, drei Paare hatten sich auf die Tanzfläche gesellt. Was taten die Übrigen? Blieben sie auf ihren Plätzen sitzen, um Lydia anzuglotzen und einander zuzutuscheln: Habt ihr’s gesehen? Horatio hat ein neues Opfer gefunden, er vernascht jetzt Esthers fade kleine Lehrerin. »Lassen Sie mich los«, sagte sie.
Er sah sie an und erwiderte: »Nein.« Etwas Dringliches lag in dem Wort. Etwas Unerwartetes.
»Wenn Sie es nicht tun, gebe ich Ihnen eine Ohrfeige«, sagte Lydia. »Zwar hätte ich mir dazu lieber ein Paar Handschuhe geborgt, aber zur Not mache ich mir auch die Finger schmutzig.«
Er sah sie immer noch an. Flüchtig schien es, als würde sich sein Griff lockern, dann fasste er nach und führte sie in den Erker mit der Glastür, die auf die Terrasse hinausging. »Verzeihen Sie«, sagte er noch einmal. »Ich fürchte, ich muss das riskieren.«
Die Angst, die sie packte, stand in keinem Verhältnis zu dem, was geschah. »Sie sind feige!«, herrschte sie ihn an. »Los, tanzen Sie in die Mitte, wo uns alle sehen, oder wagen Sie nur in dunklen Ecken einer Frau Gewalt anzutun?«
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn tatsächlich geohrfeigt. Mit einer weichen Wendung führte er sie in die Mitte des Saals zurück und gab sie frei. »Ich habe noch nie einer Frau Gewalt angetan«, sagte er verletzt.
»Eine Frau, die nicht mit Ihnen tanzen will, zu zwingen, ist Gewalt.«
Verstört furchte er die Stirn und grub eine Hand in sein Haar, so dass der scharfe Ansatz sich zeigte. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie nicht mit mir tanzen wollten«, bekannte er.
»Ach!«, rief sie höhnisch. »Sind Sie derart von Ihrer Unwiderstehlichkeit überzeugt, dass Sie meinen, jede Frau müsse sich nach einem Tanz mit Ihnen verschmachten?«
»Nein«, sagte er, »das meine ich nicht.«
»Aber die meisten tun es, oder etwa nicht?«
»Ja«, antwortete er, »die meisten tun es.«
»Dann gehen Sie und machen Sie die meisten selig. Mir sind halbgare Schnösel mit schlechten Manieren ein Gräuel.«
»He!« Über sein Gesicht flog die Spur eines Lächelns, und eine Faust schloss sich um Lydias Herz. »Das ist ein bisschen hart, finden Sie nicht? Eine Ohrfeige, haben Sie gesagt. Nicht drei hintereinander.«
Sie wollte alles, aber nicht lachen. Nicht in seine Augen sehen, die sie blitzend und funkelnd zum Lachen verführten. »Lydia«, murmelte er wie in Träumen. »Der Name passt zu Ihnen.«
»Und wie vielen Frauen erzählen Sie das?«
»Keiner«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. »Andere Frauen dürfen nicht Lydia heißen. Lydia sind Sie.«
»Für Sie bin ich Miss Burleigh«, wies sie ihn zurecht.
»Sie haben wilde Gerüchte über mich gehört, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie. »Und wenn Sie mir gleich erzählen, sie seien alle erlogen, werde ich Ihnen kein Wort glauben.«
»Sie sind nicht erlogen«, entgegnete er und senkte den Kopf, so dass sie statt seines Gesichts den dichten schwarzen Haarschopf sah.
»Sie widern mich an«, sagte sie, um den Wunsch, die Hand nach diesem Haar auszustrecken, zu ersticken. »Sie brüsten sich mit Taten, für die ein Mann von Charakter sich schämen würde.«
»Schämen?«, wiederholte er, als hätte er das Wort nie gehört.
»Allerdings. Aber was geht es mich an? Tun Sie, was Sie wollen, Mr Weaver, nur lassen Sie mir meine Ruhe.«
Es kostete unendliche Anstrengung, sich umzudrehen und zwischen den Gaffern hindurch zum Tisch zurückzugehen. Bei jedem Schritt war sie sich ihrer selbst bewusst – des billigen Kleides, das sie wie üblich ohne Korsett trug, ihres Haars, das geschnitten gehörte, ihres Gangs, der ihr eckig und unbeholfen vorkam. Inzwischen waren mehr Gäste auf die Tanzfläche geströmt. Am Tisch saß allein Nora Weaver und starrte in ihren Tee. Wie herzlos, das Mädchen an ihrem Geburtstag einsam sitzen zu lassen – wie herzlos von ihrem Bruder, den die Schwester offenbar nicht scherte.
Er hatte sich rasch getröstet und beglückte jetzt eine Schönheit im zartgrünen Spitzenkleid. Dass er besser tanzte als jeder Mann im Saal und sich hielt, als ließe sein Rücken sich nicht beugen, machte ihn ihr umso hassenswerter. Seltsam war allerdings, dass seine Fingerspitzen auf dem Arm der Tänzerin kaum auflagen, als würde er tatsächlich vor Berührung zurückscheuen.
Esther tanzte mit dem älteren Gast, der neben Horatio gesessen hatte, und Georgia amüsierte ihre jüngeren Schwestern mit einer komischen Schrittabfolge. »Ich hoffe, Sie langweilen sich nicht«, vernahm Lydia kleinlaut die Jubilarin neben sich. »Mochten Sie nicht mit meinem Bruder tanzen? Wie schade. Alle anderen, die kommen, streiten sich darum.«
Lydia schreckte auf. »Wollen Sie mit ihm tanzen?«, fragte sie. »Er sollte sich schämen zu vergessen, dass seine Schwester Geburtstag hat.« Es war das zweite Mal, dass sie erklärte, Horatio Weaver solle sich schämen, obgleich er gewiss kein Schamgefühl besaß.
»Horatio?« Nora lachte traurig. »Er bestürmt mich immer, ich solle mit ihm tanzen, aber ich kann es doch nicht.«
Sie konnte nicht tanzen? Lernten diese höheren Töchter nicht Walzerschritte, ehe sie ihren Namen schreiben konnten? Nora vollzog offenbar ihre Gedanken nach. »Gelernt habe ich es schon«, berichtigte sie sich. »Aber ich habe eine Störung im Blut, mir wird schwindlig und schwarz vor den Augen dabei.«
Das würde es mir auch, wenn ich so verhungert wäre wie du, dachte Lydia. Laut sagte sie: »Das tut mir leid.« Mehr fiel ihr nicht ein.
»Oh, das muss es nicht. Mir tut leid, Sie damit zu langweilen. Als ich Sie mit meinem Bruder sah, hatte ich gehofft …«
»Was hatten Sie gehofft?«
»Dass Sie Vergnügen haben. Dass Sie wiederkommen. Esther erzählt immer so nett von Ihnen.«
»Ich würde gern wiederkommen«, sagte Lydia, obwohl sie entschlossen war, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen. »Aber zu Ihnen, nicht zu Ihrem Bruder.«
Verwundert blickte Nora auf. In diesem Moment verstummte die Musik, die Tänzer strömten zurück an ihren Tisch und ersparten Lydia damit eine Frage, die sie nicht beantworten wollte. Kaum entdeckte sie Esther, packte sie sie am Arm. »Lass uns nach draußen gehen, wenn du nicht willst, dass ich ersticke«, zischte sie.
Ohne viel Federlesen lief Esther in den Erker, öffnete eine der Glastüren und zog Lydia ins Freie. Es begann gerade zu dunkeln, und die plötzliche Kühle war erlösend. »Du bist ein Engel.« Esther stöhnte. »Hätte ich auch nur einen Augenblick länger mit Andrew Ternan zubringen müssen, wäre ich im Stehen eingeschlafen.«
Fragend runzelte Lydia die Stirn.
»Ich weiß, ich bin gehässig«, gestand Esther zerknirscht. »Der Ärmste kann ja nichts dafür, dass er alt ist und die Kiefer nicht auseinanderbekommt, aber warum muss er ausgerechnet mich auffordern?«
»So sonderlich alt ist er doch gar nicht«, warf Lydia ein.
»Mindestens dreißig! Aber bitte, sprechen wir von etwas anderem.« Esther hielt inne und suchte Lydias Blick. »Das sah schön aus«, sagte sie.
»Was sah schön aus?«
»Du und Horatio.«
»Wie meinst du das?«, fragte Lydia, obwohl sie es nicht wissen wollte.
»Ihr habt euch angeschaut, als wäre euch nie zuvor ein Mensch begegnet.« Esther sagte solche Dinge, ohne zu grinsen. Sie beschrieb, was sie wahrnahm, wie sie als Kind die Entfernung des Appendix beschrieben hatte, und traf damit ins Schwarze. In Lydias Magengrube. Um sich zu beherrschen, ballte sie die Hände zu Fäusten.
»Er ist mir zuwider«, begann sie schleppend. »Und das sollte er dir auch sein. Wenn du ihm erzählen würdest, dass du Ärztin werden willst – was glaubst du, würde er dazu sagen?«
»Ich habe es ihm erzählt.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dass ich so hässlich doch nicht wäre – wenn ich mich ein bisschen zurechtmachen würde, fände sich sicher ein Bräutigam für mich.«
»Und solche Kanaille verteidigst du?«, brach es aus Lydia heraus. »Weißt du, wo der dich und mich gern sähe? Unter der Fuchtel, als ergebene Weibchen, die einem Männchen ein süßes Heim bereiten. Und wenn du dazu nicht taugst, kannst du vor die Hunde gehen wie seine Schwester, die vor vollen Tellern verhungert, ohne dass es ihn kratzt.« Sie biss sich auf die Lippe. Vor Empörung hatte sie nicht bemerkt, wie laut sie geworden war.
»Vorurteile.« Esthers Stimme klang traurig. »Ich habe immer gedacht, du seist der einzige Mensch, der keine hätte. Wie sollen eigentlich Männer wie Horatio lernen, anders zu denken, wenn Frauen wie du sie als Kanaillen abtun und sich weigern, mit ihnen zu sprechen? Übrigens, Horatio liebt Nora. Er konsultiert einen Arzt nach dem anderen, er hat sich ihretwegen sogar mit seinem Vater angelegt.«
»Wie mutig«, bemerkte Lydia höhnisch. »Inzwischen wird ihm sein Vater ja wohl kaum mehr den Hosenboden dafür strammziehen.«
Esther wandte sich ab. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so gemein sein kannst«, sagte sie.
»Esther!« Lydia legte den Arm um sie. Sie stellte es nicht zum ersten Mal fest: Das Mädchen war zu gut für diese Welt, sie vermochte einfach nicht in einem Menschen das Schlechte zu sehen. »Lass uns bitte nicht um diesen Kerl streiten, ja?«
»Dieser Kerl ist mein Cousin«, erwiderte Esther. »Ja, er geht hässlich mit Frauen um, er nimmt sie und wirft sie weg, und deswegen habe ich ihm mehr als einmal den Kopf zurechtgesetzt. Aber das ist nicht der ganze Horatio. Weißt du, wie klug er ist? Wie seine Professoren von ihm schwärmen?«
»Ich bin zwar kein Professor, sondern nur eine mickrige Lehrerin, aber ich schwärme lieber von dir. Was Klugheit betrifft, so kannst du es mit diesem Prahlhans zehnmal aufnehmen.«
»Horatio prahlt nicht«, entgegnete Esther. »Über seine Arbeit spricht er kein Wort, und an Klugheit nimmt es niemand mit ihm auf.«
»Es gibt auch eine Klugheit des Herzens«, sagte Lydia. »Menschen, die wirklich klug sind, wollen anderen nicht weh tun.«
Endlich wandte Esther sich ihr wieder zu. »Und wer sagt dir, dass Horatio jemandem weh tun will? Vielleicht braucht er ja all die Frauen, die ihn vergöttern, weil sein Vater ihn immer nur verachtet hat. Im Übrigen sah er nicht aus, als wollte er dir weh tun, Lydia.«
»Mir?« Ihr Lachen geriet nicht echt. »Dazu wird der werte Herr keine Gelegenheit erhalten. Ich gehöre nämlich nicht zu den Scharen, die ihn vergöttern, sondern schließe mich in dem Fall der Meinung seines Vaters an.«
Unverwandt sah Esther sie an. »Weißt du, was ich glaube?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Ich glaube, du lügst«, sagte Esther. »Ich bin keine Romanleserin, ich verstehe von alldem nichts, aber es war etwas Besonderes zwischen dir und Horatio, und es war so schön, dass nicht mal Georgia einen Witz gerissen hat. Du möchtest es klein und schmutzig reden, doch das gelingt dir nicht. Du bist keine mickrige Lehrerin, und Horatio ist keine Kanaille, und das, was mit euch geschehen ist, ist weder schmutzig noch klein. Horatio, und wenn er noch so viele Frauen verführt, hat Angst, dass Menschen ihn berühren. Ich habe noch nie gesehen, dass er sich wünschte berührt zu werden wie von dir.«
Lydia schwieg. Gern hätte sie Esther gesagt, dass sie Unsinn schwatzte, aber ihre Kehle weigerte sich. Eine seltsame Traurigkeit befiel sie. Sie wollte fort aus dieser künstlichen, kalten Welt, zu ihrer Mutter, zu Dünnbier und Schwarzbrot. »Sei mir nicht böse«, sagte sie zu Esther und stand auf. »Ich will nach Hause. Nein, mach kein Aufhebens, lass mich einfach gehen, ich bitte dich.«
Esther war anzusehen, dass sie mit sich kämpfte, doch am Ende gab sie sich geschlagen. Es gelang Lydia, von einem der Hausmädchen ihren Mantel zu ergattern und sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Auf dem Gartenweg begann sie zu laufen, eilte durchs Tor und die Straße hinunter und blieb hinter der Häuserecke stehen. Sie war eine gute Läuferin, doch jetzt war sie von den paar Schritten außer Atem und musste sich an der Mauer abstützen. Über ihr Gesicht rannen Tränen.
Als sie die Schritte hörte, war es längst zu spät. Sie hob den Kopf, und er stand schon vor ihr. Schwarzes Haar, schwarze Brauen, das weiße Plastron um seinen Kragen gelöst. Nicht seine Schönheit berührte sie, sondern das Verlorene, Bittende in seinem Gesicht, das zu der blasierten Schönheit nicht passte.
Er sagte nichts, hielt ihr nur etwas entgegen. Einen Damenhandschuh, der zwischen seinen Fingerspitzen baumelte.
»Was soll das?«
»Damit Sie sich die Finger nicht schmutzig machen müssen«, antwortete er und streifte ihr den Handschuh über. »Ich habe Sie belauscht, Miss Burleigh. Ich schäme mich.«
Ungläubig starrte sie erst auf ihre Hand und dann in sein Gesicht.
»Bitte«, sagte er, »geben Sie mir eine Ohrfeige oder meinetwegen so viele Sie wollen, und dann erlauben Sie mir, Sie wiederzusehen. Ich verspreche, ich tue nie wieder etwas, das Sie nicht wollen. Ich will Sie nur kennenlernen. Mit Ihnen sprechen. Ihnen so lange einreden, dass ich mich bessern könnte, bis Sie es mir glauben.«
»Glauben Sie es?«, entfuhr es Lydia.
»Ich weiß es nicht«, sagte er, und seine Ehrlichkeit zerbrach ihren Widerstand. »Aber ich will es um jeden Preis glauben.«
Sie tat es. Holte aus und schlug ihm so hart, wie sie konnte, auf die Wange. Sie hatte nie zuvor einen Menschen geschlagen. Als sie die Hand hinuntersacken ließ, sah er sie immer noch an. Auf seiner Haut zeichneten sich rot die Spuren ihrer Finger ab, und auf seine Stirn trat ein Rinnsal Schweiß. Er hielt sich an sein Versprechen. Schob die Hände auf den Rücken und rührte sie nicht an. Nur sein Mundwinkel zuckte, ein verlegenes Zugeständnis an den Schmerz. »Morgen?«, fragte er rau.
Sie schüttelte den Kopf. Gegen ein Zittern kämpfend, zog sie den Handschuh aus, legte einen Finger in seinen Mundwinkel und spürte die Regung unter der Haut.