Kapitel 2

Portsmouth, Southsea, November 1860

Hector Weaver hatte die Vorstadt, in der er geboren worden war, nie so geliebt wie in diesem Herbst. Sie trug den Namen Southsea, lag westlich vor der Garnisonsstadt Portsmouth und war bei seiner Geburt im Jahre 1828 nicht mehr als ein Häuflein verstreuter Häuser gewesen. Heute hingegen, zweiunddreißig Jahre später, glich sie einer gigantischen Baustelle. Nicht allein dass neue Gebäude aus dem Boden schossen, nicht allein dass Holperpflaster nach der Methode des Schotten MacAdam geglättet wurden, indem man nur Steine verwendete, die in den Mund eines Arbeiters passten, nein, noch erregender war, was es hinter dem Gürtel der Gemeindewiesen zu sehen gab – die breite Zunge aus Gestänge, die ins Meer hinauswuchs, und der aus Stahl geschmiedete Pfad. In naher Zukunft würden die Schienen der Eisenbahn geradewegs auf jene Zunge führen.

Der Clarence Pier! Die neue Anlegestelle sollte im nächsten Sommer eröffnet werden und ein Spektakel bieten, wie es Portsmouth nie gekannt hatte. Hotels und Gaststätten waren geplant, ein Vergnügungspark auf den Wiesen um den Pier, wo sich Passagiere, die auf die Fähre zur Isle of Wight warteten, möglichst kostspielig die Zeit vertreiben sollten. Die Luft summte vor Betriebsamkeit. Hier wurde an einer Quelle gezapft, die den Wohlstand der Stadt auf Jahrzehnte nähren würde und die Englands Mittelschicht gerade erst entdeckte – die Lust zu reisen.

Auf einmal fuhr alle Welt in die Sommerfrische, erholte sich an bunten Stränden, stieg in Badekabinen, um im kühlen Nass zu planschen, und verschleuderte auf wimmelnden Promenaden mühevoll erspartes Geld. Hector, der mit seinem Buchhalter am Fuß des Piers stand, um eine Lieferung zu überwachen, rieb sich die Hände. Von diesem Kuchen würde er sich seinen Batzen schneiden und manches Sahnehäubchen obendrein.

Die Weaver’sche Holzhandlung, die Hector allein führte, weil sein Bruder nicht dazu taugte, bescherte ihm noch immer beachtliche Erträge, doch die großen Tage des Holzes waren gezählt. Der Schiffsbau, dem die Weavers ihr Vermögen verdankten, würde zu Eisenverkleidungen übergehen, und die Preise für baltische Eiche begannen schon zu sinken. Hector, der nicht nur Frau und Tochter standesgemäß zu versorgen hatte, sondern stolzer Vater eines Stammhalters war, sann seit langem auf andere Wege, um seine Schäflein ins Trockene zu bringen.

Zudem bestimmte das Testament seines Vaters, dass er von den Erträgen des Holzhandels die Hälfte seinem Bruder abzutreten hatte, obgleich der das Geld für Hirngespinste verschleuderte und im väterlichen Geschäft keinen Handschlag tat. Zu behaupten, diese Klausel sei Hector ein Dorn im Auge, war auf lachhafte Weise untertrieben. Sie saß ihm als Stachel im Fleisch und würde dort zwicken und bohren, bis er über ein eigenes Imperium verfügte und die Holzhandlung keinen Penny mehr abwarf.

So fern ist der Tag nicht. So fern nicht.

Von Thomas Owen, dem Architekten, der in aller Munde war, hatte er im eleganten Südwesten ein Haus gemietet. Ein Mount Othrys war es zwar nicht – das verfluchte Märchenschloss, das sein Bruder vom Vater geerbt hatte, fand in Portsmouth nicht seinesgleichen –, aber es ließ sich darin immerhin logieren, wie es Hector für seine Familie vorschwebte. Ein zweites, käuflich erworbenes Haus, das im verwahrlosten Viertel Point beim Fischereihafen lag, diente anderen Zwecken.

Gewiss, mit der Reiselust war Geld ohne Ende zu scheffeln, nur musste einer dazu erst einmal Geld investieren. An den Fluten der Auswanderer hingegen ließ sich ohne Risiko verdienen. Während die Leute auf ihre Passagen nach Australien warteten, brauchten sie Quartiere. Die wenigsten konnten sich leisten, wählerisch zu sein, und das eine oder andere Nebengeschäft ergab sich außerdem. Zwar sah Hector in seiner neu eröffneten Mietpension am Milton’s Court nicht mehr als eine erste Sprosse – seine Ambitionen lagen im Bereich der neuen Technik, nicht in der Arbeit mit Menschen, die ihn zumeist eher ekelten. Der Leiter aber, zu der die Sprosse gehörte, würde allein der Himmel eine Grenze setzen.

Er schaute Raymond Nettlewood, dem Buchhalter, der schon für seinen Vater gearbeitet hatte, zu, während er die letzten Posten ins Verzeichnis eintrug, dann zupfte er den Alten am Jackenärmel. »Hier sind wir fertig, was, mein Bester? Gehen wir auf einen Sprung nach drüben, sehen, wie die Navvies im Graben vorankommen?«

Nettlewood, der mit seinen runden Augen und der gewaltigen Nase einem Eulenvogel glich, warf ihm durch Brillengläser einen gequälten Blick zu. Es war später Nachmittag, leichter Regen setzte ein, und ohne Zweifel wäre er liebend gern nach Hause gegangen, um am Ofen seine Knochen zu trocknen. Auch hielt er sich von den Wanderarbeitern, die im Barackendorf hinter der Baustelle hausten, fern. All das Fluchen, Saufen und Zotenreißen war nicht Nettlewoods Welt. Hector hingegen hatte sein Herz an die Eisenbahn verloren. Zuzusehen, wie kräftige Arme den Graben für die Schienen aushoben, erfüllte ihn mit Zuversicht. Als brächte ihn jeder Spatenstich näher an sein Ziel, so wie er Portsmouth näher an London und an den Rest der pulsierenden Welt brachte.

Mit zwei Pfund Rindfleisch und einer Gallone Bier pro Tag wurden die Navvies abgefüttert. Das viele Rindfleisch mache sie blutrünstig, hieß es, und das Bier tat ein Übriges. Zudem erhielten sie einen Tageslohn von zwei Schillingen. Ein Haufen Geld für einen, der daheim am Hunger verreckt wäre – die meisten der Wanderarbeiter stammten aus dem Norden oder aus Irland und kamen her, weil sie in ihrer Heimat nichts zu beißen hatten. Das Geld aber war schwer verdient. Von einem Trupp Navvies wurde erwartet, dass er pro Schicht zwanzig Tonnen Erde aushob, und Lohn erhielten die Leute erst am Ende eines Monats ausgezahlt. Mithin waren Neulinge gezwungen, auf Kredit einzukaufen, und den bekamen sie nur im Laden der Eisenbahngesellschaft, dessen Wucherpreise berüchtigt waren. Zu allem Unglück befand sich der Laden neben dem Pub Dog and Donkey, der gleichfalls der Eisenbahn gehörte und sich den Rest der Lohngelder einverleibte.

Hector hielt Nettlewood, der vor dem Graben zu entwischen hoffte, am Ärmel fest. Bis zur Mitte der Wiesenfläche hatten die Männer der Erde ihre Scharte geschlagen, in der die Schienen verlegt werden würden. Die Strecke sollte auf den neuen Pier führen, so dass die Reisenden aus dem Zug direkt aufs Schiff steigen konnten. Gut dreißig Männer schufteten unter den Augen von drei Aufsehern in der Grube, die sich als Keil in den Boden bohrte. Sie trugen die übliche Kleidung, grobe Hosen aus Baumwolle, Leinenhemden ohne Kragen, bunte Westen und weiße Filzkappen, vor denen jedem Weib im Umkreis graute. Die Heimatlosen galten als verdorben und verroht. Ein Schwein hat mehr Anstand als ein Navvy, behauptete Hectors Gattin Bernice, aber eines musste man den Kerlen lassen, sie besaßen die Kraft von Bullen, und das, was sie schufen, veränderte das Gesicht der Nation.

Ihre Arbeit vermochte kein anderer zu tun. Dabei war das Aufhacken der Erde mit dem Pickel nicht einmal das Schlimmste, schon gar nicht an regnerischen Tagen wie heute, an denen der Graben einem Schlammloch glich. Die gelockerte Erde wurde in Schubkarren geschaufelt, von denen jede gut zweihundert Pfund fasste. Aber auch die Schufterei mit den Schaufeln war nicht das Schlimmste. Es war der Abtransport der Erde, der alles übertraf.

Gab es in einer Epoche des Fortschritts, in der man Nachrichten um die Welt jagen und mit dem Segen von Stadtgas seinen Sonntagsbraten rösten konnte, für solche Verrichtungen keine Maschine? Die Anlage wirkte geradezu vorsintflutlich. Ein schmaler Balken führte in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus der Grube. Oben wartete ein Mann mit einem Zugpferd, an dessen Geschirr zwei Seile befestigt und einem Arbeiter zugeworfen wurden. Der Mann schlang eins der Enden um die bis zum Rand beladene Schubkarre und das zweite um die Leibesmitte. Hector sah dem Treiben häufig zu, hielt aber jedes Mal von neuem wie ein Kind den Atem an.

»Darf ich mich erkundigen, was wir hier eigentlich tun?«, fragte Nettlewood, der mit den Zähnen klapperte.

»Warten Sie’s ab, Sie Frostbeule.« In Hectors Stimme zitterte Vorfreude. »Ich versichere Ihnen, wir bekommen gleich etwas geboten, das habe ich im Gespür.«

Das war das Talent, das Hector, nicht etwa sein Bruder, vom Vater geerbt hatte – er erkannte eine Gelegenheit, noch ehe ihm bewusst war, worin sie bestand. Jeder der muskulösen, mit Fleisch und Bier gepäppelten Navvies war einen Blick wert, wenn er die mächtige Schubkarre anhob, aber der, der jetzt die Knoten sicherte und nach den Holmen griff, stellte alle in den Schatten. Ein großer Kerl mit braunem Haar, breit wie ein Ringer und derber gebaut als die Kumpane. Dabei haftete aber seinem Gesicht etwas Hungriges an, und sein Blick war unstet. Der ist nicht geeignet, durchfuhr es Hector. Beim Steuern des Karrens kam es nicht auf Kraft an, da ja das Pferd die Zugarbeit leistete, sondern auf Geschick. Wenn es dem Mann nicht gelang, das Gefährt auf dem Balken zu halten, stürzte es zur Seite, riss ihn mit und begrub ihn unter sich. Im Sommer hatte sich ein Kerl beide Beine zerquetscht, und in Southampton hatte man einen tot aus dem Graben gefischt.

»Zieh an!«, brüllte der Braunhaarige dem Pferdeführer zu. Der packte den Gaul am Zaum und zerrte ihn voran. Der Mann an der Karre musste sich mit ganzem Gewicht in den Rücken legen, dabei das Gefährt von sich wegstemmen und es an den Holmen steuern. Hector sah, wie Muskeln und Sehnen an den Unterarmen schwollen, wie das Gesicht sich vor Anspannung rötete. Während sein Buchhalter neben ihm schlotterte, genoss er den Anblick in vollen Zügen. Und erst die Geräusche. Das gemächliche Schnaufen des Pferdes, das Keuchen, mit dem der Brustkorb des Mannes sich füllte, das Schaben des Rades, das leise Pochen des Regens. Obendrein war das Holz feucht und rutschig, die Aufgabe doppelt gefährlich und die Spannung umso köstlicher.

Der Herkules machte seine Sache nicht übel. Man sah ihm an, dass er nicht zu den erfahrenen Männern der Gruppe gehörte, aber er steuerte mit Bedacht und setzte keinen übereilten Schritt. Auch schien er nüchtern zu sein, was bei Navvies nicht allzu oft vorkam und nicht für den Pferdeführer galt. Der schwankte bedenklich, trat in eine Furche und strauchelte, wobei er den Gaul im Maul riss, dass dieser erschrocken den Kopf aufwarf. Die Last sackte tiefer und warf ihren Steuermann um ein Haar hintenüber. Im letzten Augenblick fing er sich und bekam die Karre wieder ausbalanciert. »Pass doch auf, du Idiot!«, brüllte er. Seine Betonung war seltsam, jedes Wort wie zerhackt. Schweiß rann ihm aus dichten Brauen in die Augen. Er hatte keine Hand frei, um ihn fortzuwischen.

Der Pferdeführer war einer der Aufseher, die die Eisenbahngesellschaft im Ort rekrutierte. Jene Kerle soffen nicht weniger als die, deren Moral sie überwachen sollten, und waren zumeist verkrachte Existenzen, die es weidlich auskosteten, für dieses eine Mal die Oberhand zu haben. »Pass du besser auf«, brüllte der betrunkene Bursche zurück, »und zwar auf das, was du sagst, Teutone. Wenn meine Arbeit dir nicht schmeckt, mach den Kram allein.« Damit ließ er dem Gaul die Zügel schießen, trat einen Schritt beiseite und widmete sich seiner Feldflasche.

Hector warf einen Blick nach seinem Buchhalter. Wie erwartet verkrampften sich die Züge des Eulengesichts, und die Brille rutschte vom Nasensattel. »Was denken Sie, Nettlewood«, fragte er launig, »ist der Kampfstier da unten wirklich ein Teutone?«

»Wie bitte?« Gereizt schob Nettlewood die Brille zurück.

»Ob der Deutscher ist, meine ich. Wenn man sich das Kreuz betrachtet, nicht ganz von der Hand zu weisen, was?«

Der Buchhalter gab keine Antwort, und Hector wandte sich wieder dem Geschehen zu. Drei Schritte ging das Pferd von allein, so dass der Mann auf dem Balken sein Gleichgewicht fand und sich ein Stück weit nach oben rackern konnte. Dann aber tappte der Gaul wie zuvor sein Führer in ein Schlammloch. Aufwiehernd scheute er zurück und vollführte linker Hand einen Ausfallsprung.

Hector seufzte fasziniert. Die Seile wurden seitwärts gerissen, der Karren geriet ins Schlingern und neigte sich bedrohlich nach links. Noch hätte der Unglücksrabe loslassen und dem Karren ausweichen können, doch er blieb mannhaft stehen und kämpfte mit geballten Schenkelmuskeln und klammernden Händen darum, das Gefährt in den Griff zu bekommen. Von neuem seufzte Hector. Das Wissen, dass alle Mühe sinnlos war, steigerte die Lust, derweil der arme Kerl ächzte und schwitzte.

Letzten Endes musste er aufgeben, dulden, dass die Karre ihn niederriss. Zur Kugel gerollt, blieb er liegen, bis ein Rad ihn im Gesicht traf und er den Hang hinunterstürzte. Erdklumpen und Steine ergossen sich über ihn, und die Karre fiel in Hüpfern hinterdrein und traf ihn am Leib. Trotz des Lärms drehten die meisten Arbeiter nicht einmal die Köpfe. Nur einer der Aufseher, ein drahtiger Mann mit einem Gehstock, eilte zu der Stelle, an der der Verunglückte aufgeprallt war. Vielleicht hat er sich das Genick gebrochen, durchfuhr es Hector. Noch immer hielt der Mann die Beine umschlungen und das Gesicht an die Knie gepresst. Sein brauner Schopf sah hübsch aus zum Burgunderrot der Weste.

Der Aufseher blieb vor ihm stehen und rief ein paar Worte, die ihn dazu bewegen sollten, sich zu rühren. Als der Gestürzte keine Anstalten machte, wurde der Aufseher lauter, und als auch das nichts half, schwang er den Stock und schlug ihn auf den Rücken.

Hector war sicher, dass er ihn nicht prügeln wollte, sondern lediglich hoffte, ihn mit dem Hieb ins Leben zurückzutreiben. Letztendlich tat er das auch. Kaum getroffen, schnellte der Verletzte auseinander und sprang auf. Er war wahrhaftig ein Prachtkerl, überragte den Aufseher um gut einen Kopf und wirkte doppelt so breit. Seine Kleider waren schlammbedeckt und zerrissen, an Arm und Stirn blutete er. Er packte den Aufseher bei den Schultern und schüttelte ihm die Seele aus dem Leib. Der arme Teufel quiekte wie ein Schwein, ehe ein Steinschlag von Worten auf ihn niederprasselte, in einer Sprache, die Hector frösteln ließ.

Die Erregung, die ihn packte, war ihm bekannt, allerdings nicht aus Nächten, in denen er über Bernice im Rüschenhäubchen seiner ehelichen Pflicht genügte. Der Kerl in der Grube war stark. Er mochte ein grobes Tier sein, aber er besaß die Kraft längst versunkener Götter, die gesoffen, geliebt und getötet hatten wie Naturgewalten. Würde er den Aufseher, auf den er einschrie, umbringen?

Zu seinem Bedauern würde Hector nie erfahren, ob er es getan hätte, denn endlich schreckten die übrigen Wächter aus der Starre und eilten dem Gefährten zu Hilfe. Als ihr Zupfen ohne Wirkung blieb, befahlen sie Navvies hinzu, die das schöne Tier von seinem Opfer pflückten. Sie warfen ihn nieder, und jetzt bezog er von allen Seiten Prügel. Dass er einer der ihren war, kümmerte die Navvies wenig, wenn sie nur zuschlagen durften. Ein wenig dauerte es Hector, dass ein solch wohlgestaltetes Geschöpf derart gnadenlos verdroschen wurde, doch seinem Genuss tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil. So furchterregend der Mann gebrüllt hatte, so still hielt er unter den Schlägen. Fein, mein Hübscher. Dich kriegen die so leicht nicht klein.

»Er ist einer«, vernahm er Nettlewoods Stimme neben sich.

»Wie bitte?«

»Ein Teutone. Deutscher. Das wollten Sie doch wissen.«

»Und woher wissen Sie’s?«, entfuhr es dem verblüfften Hector.

»Ich habe Ohren«, erwiderte Nettlewood und kratzte sich an einem. »Er sprach Deutsch, als er auf den Vorarbeiter losging.«

Hector vergaß es immer wieder – die Eule von Buchhalter war der reinste Polyglott. »Jetzt erzählen Sie mir bloß noch, Sie haben verstanden, was der Anfall von Tobsucht zum Inhalt hatte?«

»Sie meinen, ich soll Ihnen darlegen, was der Mann gesagt hat?«

»In der Tat, Nettlewood.« Unten befahl ein Aufseher Einhalt und ließ den Mann, der böse zugerichtet war, auf die Füße zerren.

»Er hat gesagt: Du schlägst mich nicht, du Drecksmann. Mich schlägt auf der Welt kein Mensch mehr, oder ich mach euch tot.«

Ich hab’s dir angesehen, Bürschlein. Die Mordswut, die in dir brodelt, und du ahnst nicht, wie gern ich wüsste, woher du die hast. Von dem Aufruhr, mit dem deutsche Arbeiter ihre Obrigkeit das Fürchten lehrten, war allerorts die Rede, aber mit eigenen Augen sah er einen solchen Mann zum ersten Mal. Der gebeutelte Aufseher wimmerte noch immer vor sich hin. Sein Kollege versetzte dem Deutschen eine Ohrfeige. Der tat zu Hectors Vergnügen just, was er erwartet hatte, schnappte nach der schlagenden Hand und erwischte die Fingerspitzen mit den Zähnen.

Der Aufseher schrie vor Schmerz. »Jetzt reicht’s!«, brüllte er. »Bringt den Satan auf die Wache, der ist ja gemeingefährlich.«

Die beiden Navvies rissen ihn in Richtung Hang, aber der Deutsche rührte sich nicht. Die Aufseher winkten weitere herbei, von denen einer den Einfall hatte, die Brust des Mannes wie bei einem Schlachttier zu umwickeln und vereint an den Seilenden zu zerren. Der Deutsche sträubte sich, doch es half nichts. Er musste klein beigeben und hinter ihnen hertrotten, wenn er nicht geschleift werden wollte.

Sie würden ihn ins Gefängnis von Marshalsea werfen, wo ihm noch mehr Prügel und eine völlig überhöhte Haftstrafe blühten. Er würde abmagern, diese freche, rohe Schönheit verlieren, und wenn er irgendwann auf freien Fuß kam, gab es nur noch das Arbeitshaus für ihn. Ein Jammer, dachte Hector. Ehe er sich besann, hob er die Hand und rief: »Halt!«

Sämtliche Aufseher sowie mehrere Navvies wandten die Köpfe. »Guter Mann, was halsen Sie sich den Ärger auf?«, wandte Hector sich an den vorderen. »Überlassen Sie den Burschen mir, es soll Ihr Schaden nicht sein.«

Er zog seinen Hut und deutete eine Verbeugung an. »Gestatten, Hector Weaver.«

Das wäre nicht nötig gewesen. Die Weaver’sche Holzhandlung kannte in Southsea jedes Kind. Der Aufseher grunzte. »Was wollen Sie mit dem Galgenstrick? Darauf, dass der da, wo er herkommt, Ärger gemacht hat, wette ich meinen Hintern.«

Hector schenkte ihm ein Schmunzeln. »Behalten Sie das gute Stück. Und Ihren Galgenstrick lassen Sie meine Sorge sein, ich finde schon Verwendung für ihn.« Während er Kleingeld aus der Innentasche seiner Weste fischte, befahl der Aufseher den Navvies, den Deutschen zu ihm hochzuhieven. Was für ein Coup! Zwar war Sklaverei in Britannien inzwischen verboten, aber ein Mann kaufte sich noch immer leichter als ein Paar Mastgänse.

Selig sah er den Hünen durch den Schlamm stapfen. Aus der Nähe kamen die Muskeln von Schenkeln und Schultern zur Geltung und spannten den feuchten Kleiderstoff. Der Bursche war blutjung. Trotz der Narben, trotz der verbissenen Lippen haftete ihm etwas Unversehrtes an, das Hector seltsam berührte. Ein Rippenstoß schreckte ihn auf. Über den Rand der Brillengläser stierten Nettlewoods Eulenaugen ihn an. »Und was, wenn die Frage gestattet ist, fangen wir mit dem Menschenkind nun an?«

Hector lächelte. »Vorerst kommt er mir als Eintreiber für meine Mietpension gelegen.«

Bevor der Buchhalter etwas erwidern konnte, blieb der Zug vor ihnen stehen. So dicht, dass Hector den Deutschen atmen hörte. Tapfer hielt der Mann seinem Blick stand, die Augen wie helles Bier und voller Funken. »Fein«, sagte er und klopfte dem Gefesselten auf die Schulter. »Sprechen Sie unsere Sprache, junger Mann?«

Die hellen Augen blitzten, ehe er mit Überwindung nickte.

»Fein«, wiederholte Hector. »Los, nehmt ihm den Strick ab, wir sind ja nicht auf dem Schweinemarkt. Und was uns betrifft, mein Freund – haben wir wohl einen Namen, und darf ich den erfahren?«

»Ob Sie einen haben, weiß ich nicht«, gab der Deutsche in hartem, aber fehlerfreiem Englisch zurück. »Ich heiße Victor März.«

Victor, der Sieger. Hector und Victor. Der regnerische Tag schien zu leuchten. Noch einmal klopfte Hector dem Deutschen auf die Schulter, warf die Beherrschung in den Wind und lachte.

Die Mondrose
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