Kapitel 24
Juli
Dass ihr Hotel erst bezugsfertig wurde, als einer der einträglichsten Monate der Saison verstrichen war, bedauerte Mildred, doch es ließ sich nicht ändern. Dass sie mit geradezu phänomenaler Schnelligkeit gehandelt hatte, würden selbst ihre Feinde ihr zugestehen müssen.
Schon in den ersten Tagen der Zimmervermietung hatte sie ihr Talent für Zahlen entdeckt. Es fiel ihr leicht, auszurechnen, wie viel sie für welchen Zweck benötigte und welchen Preis sie verlangen musste, um es einzuspielen. Ihre Gäste gehörten nicht zu denen, die auf den Penny achteten, sondern zu denen, die das Besondere wollten. Kein aus dem Boden gestampftes Quartier, sondern Geborgenheit, Charme und verschwenderischen Luxus eines eingesessenen englischen Heims. Wer in diesem Geschäft ein Gewinner werden wollte, musste das Wesen der Reiselust begreifen, wie Victor März es ihr in einer Regennacht erklärt hatte. Von einem Hotel wünschten sich die Besucher Urlaub von sich selbst. Die Flucht aus einer Welt, in der selbst den Reichsten Sorgen quälten, ein Zauberland der Unwirklichkeit, das man betrat, um sich neu zu erfinden. Behandelt werden wollten sie wie die königlichen Hoheiten gegenüber auf der Isle of Wight, und Mildred war entschlossen, dies einem jeden, der dafür bezahlte, zu verschaffen.
Sie hatte den Bankier nicht nur mit ihrer Unverfrorenheit, sondern auch mit ihrer Kenntnis überrumpelt, so dass er ihr die Zusage gab, noch ehe ihm selbst vermutlich klar war, worauf er sich einließ. Für alle Buchungen hatte sie einen Satz im Voraus berechnet, und am Ende blieb ihr genug, um die Eröffnung des Grandhotel Mount Othrys mit einem grandiosen Fest zu begehen.
Dass die selbsternannten Honoratioren der Stadt der Veranstaltung naserümpfend fernblieben, musste sie schlucken. Den Touristen kam die Abwechslung wie gerufen, und Touristen waren zahlende Gäste der Zukunft. Auf ihrer Reitbahn ließ sie ein Dampfkarussell auffahren und veranstaltete Kinderritte auf Louis’ Shetlandpony, die sie die Saison über anbieten wollte. Es gab ein Büfett, einen Eisverkauf und eine Blaskapelle, und nach Einbruch der Dunkelheit tanzten die Besucher auf der hinteren Terrasse zwischen schillernden Papierlaternen, deren Lichter wie Glühwürmchen durch die Sommernacht flimmerten.
Sie hatte Hyperion gezwungen, anwesend zu sein. Ihm war anzumerken, wie er sich innerlich krümmte, doch seine tadellosen Manieren, sein Liebreiz und seine Grazie machten ihn zu einer Zierde, die dem Fest Glanz verlieh. Während des Tanzes holte sie die Kinder, die in Spitzenkleidern so herausstaffiert worden waren, dass weder Esthers Blässe noch Georgias Grobheit allzu sehr ins Auge sprangen. So standen sie am Rand der Tanzfläche, die distinguierte, attraktive Familie der Hoteliers, und gaben ein herzwärmendes Bild ab. Dass Mildred nicht Hyperions Frau und dass Georgia in Schande geboren worden war, wusste von den Gästen kein Mensch, und keiner würde es erfahren. Ohnehin war dies die Nacht, die dem unhaltbaren Zustand ein Ende machen würde.
Nachdem der letzte Gast gegangen war und aller Trubel sich gelegt hatte, sagte sie es ihm. Diesmal stellte sie ihn nicht in der Bibliothek, die sie zu privaten Zwecken nicht mehr aufsuchten, sondern schlich sich in die einstige Dienstbotenkammer des Altenteils, die er sich als Schlafraum erbeten hatte. »Hyperion«, flüsterte sie. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr beim Namen genannt?
Er hatte nicht geschlafen. Mit einem Ruck setzte er sich auf. So achtlos, wie er mit allem umging, das ihn selbst betraf, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sich ein Nachthemd überzustreifen. Die Haut seiner Schultern schimmerte im Licht des vollen Mondes, das ins Fenster fiel. Mildred kroch zu ihm, ehe er protestieren konnte. Sie wollte ihn halten, während sie es ihm sagte. Ob er heute Nacht mit ihr Liebe machte oder nicht, war Nebensache.
»Woran denkst du?«, fragte sie ihn. In ihren Armen erschien er ihr starr und seine Haut für die schöne Sommernacht zu kalt.
»Das willst du nicht wissen.«
»Doch.« Wenn er mir sagt, er schäme sich, wenn er sagt, er hasse das Hotel, den Trubel, die Fremden in seinem Haus, dann tröste ich ihn. Ich erkläre ihm, er soll sich nicht sorgen, er soll es mir überlassen, und es wird schon werden. »Sag es mir.«
»An Daphne«, erwiderte er und starrte in den dunklen Raum. »Ich habe diesem Londoner Detektiv geschrieben, der wegen des Mordfalls in Road aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist. Er befasst sich mit der Auffindung verschwundener Menschen. Ich habe ihn gebeten, mich zu treffen, wenn ich wieder in London bin.«
Sie packte sein Gesicht und zwang es zu sich herum. »Schreib diesem Mann, du hast kein Interesse mehr«, sagte sie. »Du hast Daphne mehr als ein Jahr lang suchen lassen und jede Menge Geld dafür verschleudert. Einmal muss Schluss sein. Ich bin schwanger von dir. Willst du mir zumuten, noch ein Kind in Schande zu bekommen?«
Obwohl sie ihn nicht länger umarmte, spürte sie, wie er zusammenzuckte. So feige er sonst war, wich er ihrem Blick nicht aus, sondern ließ sie das pure Entsetzen, das sich in seinen Augen spiegelte, sehen. Hast du Daphne so angesehen, als sie dir sagte, sie sei schwanger mit Louis? Wie wirst du mich ansehen, wenn dein neuer Sohn geboren ist? Das unirdische Lächeln, die überbordende Zärtlichkeit, mit der er Daphne und ihr Neugeborenes bedacht hatte, würde sie nie vergessen. Dass einmal das, was Daphne gegolten hatte, all die Liebe und die Dankbarkeit, ihr gelten konnten, war unvorstellbar, und doch würde es so sein. Ich schenke dir zurück, was du verloren hast. Zum Lohn will ich nichts, nur dass du einmal Mildred sagst, wie du noch immer, hundertmal, Daphne sagst.
»Mildred«, sagte er. So, wie sie es nie mehr hören wollte, gepresst und zerquält. »Es kommt mir wie Hohn vor zu sagen, es tue mir leid, denn was nützt dir das? Ich begreife nicht, wie ich dir das noch einmal antun konnte.«
»Du begreifst nicht, wie du mir das antun konntest? Ich denke, du bist Arzt.«
»Ja«, murmelte er zerstreut und stützte die Stirn in eine Hand. »Ja, natürlich. Ich habe sagen wollen: Ich begreife nicht, warum ich mich noch mal dazu habe hinreißen lassen.«
Weil du kein Heiliger bist, dachte Mildred. Laut sagte sie: »Weil du mich willst, so sehr du dich dagegen wehrst. Meinst du nicht, es wäre an der Zeit, das anzuerkennen?«
»Ach, Mildred.« Er seufzte. »So ist es doch nicht. Du und ich, wir teilen das, was wir mit keinem anderen teilen können – die Erinnerung an Daphne, die Liebe, den Verlust und die Schuld. Aber das ist kein Fundament, auf dem ein Haus gut steht. Kannst du mir glauben, dass ich dir so viel Besseres gewünscht hätte? Einen Mann, der dir Liebe und Respekt erweist und dir das Leben bietet, das du verdienst.«
Sie musste mit all ihren Kräften an sich halten, um ihn nicht zu schlagen. »Spar dir dein ewiges Gerede«, bellte sie. »Wie du selbst bemerkt hast, kann ich mir von den schönen Worten, die irgendwann nur noch hohl klingen, nichts kaufen. Du wirst handeln müssen, mein Lieber, so sehr es dir widerstrebt.«
»Ja, das muss ich wohl. Was willst du, das ich tue?«
»Musst du wirklich mich danach fragen? Hast du keine Ehre?« Ihre Lautstärke erschreckte sie. So dicht, wie sie jetzt alle aufeinanderwohnten, bestand ständig die Gefahr, dass Nell etwas hörte, das ihrem Schlangenherzen einen billigen Triumph bescherte.
Hyperion starrte ins Leere und sagte nichts.
»Du musst mich heiraten«, zischte sie und kam sich entsetzlich erniedrigt vor.
Er senkte den Kopf. »Aber ich kann doch nicht Daphne …«
Mit Mildreds Beherrschung war es vorbei. Sie schlug ihn auf den Mund, dass es klatschte, und es verschaffte ihr Erleichterung. »Daphne ist nicht mehr da, lass das endlich in deinen Kopf! Es widert mich an, wie leicht du es dir machst. Eine Verschwundene zu vergöttern kostet dich kein bisschen Mühe, aber wenn es darum geht, dich um die Lebenden zu kümmern, ziehst du den Schwanz ein und bist nicht Manns genug.« Er biss sich auf die Lippen, dass sie nicht mehr zu sehen waren. Sie sah zu, wie sein Gesicht sich vor ihr verschloss, und hätte die Zeit zurückdrehen, alles ungeschehen machen wollen. »Hyperion!«, rief sie ihn. Mein Liebster. Warum sperrst du dich dagegen, zu begreifen, was ich dir geben könnte? Ihr Finger zitterte, während sie ihm über die zerbissenen Lippen strich. Er hielt still, reagierte nicht, bis sie ihre Hand zurückzog.
Dann sagte er: »Du hast in allem recht. Ich gehe morgen aufs Rathaus und erkundige mich, wie ich der Todeserklärung wegen vorgehen muss. Ich verspreche dir, wir heiraten so schnell, wie es juristisch möglich ist, und ich werde keinerlei Rechte daraus ableiten.«
»Was meinst du damit?«
Sein Blick traf sie. »Du musst mich nicht berühren, Mildred. Und es ist auch nicht deine Pflicht, des Nachts in mein Zimmer zu kommen. Wir haben uns tief genug entwürdigt, wir können uns das zumindest ersparen.«
Immer am Freitag war Sukies Waschtag, an dem sie des Morgens mit den beiden Zimmermädchen alle Schmutzwäsche der Pension einsammelte und den Tag damit verbrachte, jedes Stück zu waschen und es auf Leinen kreuz und quer im Hof aufzuhängen. Es war ein außergewöhnlicher Service, den sie den Gästen bot, jeden Freitagabend sauber bezogene Betten, denn dort, wo die Gäste herkamen, wechselte niemand die Wäsche wöchentlich. Aber das, so hatte ihr Victor erklärt, war das Geheimnis des Hotelwesens: Das Leben, das die Gäste daheim führten, verschwand, und stattdessen erstand ein anderes, in dem jeder sein durfte, was er sich erträumte. Ein Prinz in seinem Schloss, wenn auch das Schlossfenster Ausblick auf einen Hof voller Wäscheleinen bot. Umsorgt wurde der prinzliche Gast, als würde sich die Welt um nichts als seine Wünsche drehen. So wollte es Victor. Und was Victor wollte, war Sukie Befehl.
Meist bekam sie ihn den ganzen Tag nicht zu Gesicht, weil er so viel Arbeit hatte. Er machte alles selbst, holte Gäste vom Bahnhof ab, nahm Reparaturen am Gebäude vor, erledigte die gesamte Buchhaltung und handelte Bedingungen mit Lieferanten aus. Für den Empfang hatte er ein frisch und adrett wirkendes Mädchen eingestellt, doch um spezielle Wünsche seiner Gäste kümmerte er sich persönlich. Darüber hinaus übernahm er noch immer Aufträge für Hector Weaver und zahlte den Lohn in sein Sparbuch ein. Kam er nach Hause, so wirkte er grimmig und in sich gekehrt und war sichtlich froh, wenn Sukie ihm seine Ruhe ließ. Nach ein paar gemurmelten Worten des Lobes zog er sich in sein Büro zurück, wo er über Papieren oft bis in die frühen Morgenstunden saß.
Sukie machte sich Sorgen um ihn, aber sie konnte ihm nicht helfen. Sie wusste, dass sein geplatzter Traum vom Grandhotel noch immer an ihm nagte und dass er sich davon durch nichts auf der Erde abbringen ließ. Zweimal hatte sie versucht ihm zu erklären, dass ein Schuster besser bei seinen Leisten blieb und dass es andere Dinge gab, um davon zu träumen. Er war dabei von einem Fuß auf den anderen getreten, als könnte er es nicht erwarten, dass sie fertig war und ihn entkommen ließ. Sie hatte es aufgegeben. Während sie die Wäsche aus Leibeskräften wrang und knetete, dachte sie unentwegt darüber nach, was sie sonst noch tun könnte, doch ihr fiel nichts ein. Er war wie ein Tier, das sich in etwas verbissen hatte und sich lieber totprügeln ließ, als es loszulassen.
Und dann kam er an jenem Freitag nach Hause, während sie noch im Waschkleid im Hof stand und trockene Stücke in einen Korb sammelte, schwenkte fröhlich den Hut, um die Gäste an den Fenstern zu grüßen, und stürmte Sukie entgegen. Der Korb war fast voll und bereits so schwer, dass sie ihn kaum noch auf der Hüfte tragen konnte, doch er riss ihn ihr weg, als hätte er kein Gewicht, und setzte ihn ab. »Sukie, Sukie!«, rief er, packte sie in der Taille und warf sie wie ein Kind in die Luft. Als er sie wieder auffing, gab er ihr übermütig einen Kuss auf die Wange, und dann lächelte er sie auf so bezaubernd zerknirschte Weise an, dass sie ihm unmöglich böse sein konnte. Alles Niedergedrückte, Erbitterte schien aus seiner Miene verschwunden. Sie war sicher, sie hatte ihn nie so ausgelassen und nie so unwiderstehlich erlebt. »Wir gehen feiern, willst du?« Er strahlte sie an. »Du schuftest dir tagaus, tagein den Rücken krumm, du hast es redlich verdient.«
Sie hätte jauchzen und ihm vor den Gästen, die Beifall klatschten, den Kuss zurückgeben mögen. »Und was feiern wir?«, fragte sie.
Seine Augen leuchteten. »Mr Weaver hat mir die Hälfte der Pension verkauft. Wir haben heute die Verträge unterzeichnet.«
»Aber woher nimmst du denn das Geld?«
»Ha!«, rief er, packte sie noch einmal und schwang sie im Kreis um sich selbst. »Du meinst, weil die vernagelten Bankiers lieber einer verschuldeten Aufschneiderin Kredit für ihre größenwahnsinnigen Pläne gewähren, als einem ehrlichen Mann unter die Arme zu greifen? Nun, Mr Weaver denkt anders darüber. Er weiß, dass er sich auf mich verlassen kann, und hat mir heute mitgeteilt, dass er keinen anderen Käufer für Milton’s Court möchte. Es ist ja ein wenig sein Lebenswerk, verstehst du? Er will, dass ich es weiterführe, und deshalb hat er mir angeboten, mir den Kaufpreis zu stunden. Die monatlichen Raten sind zwar etwas höher als bei der Bank, aber wenn die Saison so weiter für uns läuft und wir für den Winter noch Dauergäste bekommen, sollten wir es schaffen.«
Sukies Heiterkeit verflog. Sie hatte zu lange in Hector Weavers Dienst gestanden, um nicht zu wissen, dass all das, was Victor von ihm erzählte, erlogener Unsinn war. Wenn es überhaupt etwas gab, das Weaver als Lebenswerk betrachtete, so war es die Gasanstalt, und selbst die hätte er morgen verscherbelt, wenn er sich davon einen Vorteil versprochen hätte. Wenn Weaver einem anderen ein so großzügiges Angebot machte, steckte ohne Frage eine unheilvolle Absicht dahinter, die zu durchschauen Victor März und Sukie Ralph nicht gewieft genug waren. »Was ist, wenn wir es nicht schaffen?«, wagte sie ihn zu fragen und bereute es gleich darauf. Warum war sie so dumm, sich den Augenblick der Freude zu verderben, was kümmerte es sie, was morgen geschah?
»Weshalb sollen wir es denn nicht schaffen?«, fragte Victor zurück und lachte ihr in die Augen. »Gib mir zehn Jahre, kleine Sukie, und du wirst meinen Namen auf der Liste der reichsten Männer dieser Stadt finden. Und dir selbst wird es dann auch wohlergehen, das verspreche ich dir. Keine endlosen Waschtage mehr.« Er nahm ihre Hand, die vom Waschwasser verschwollen und rot war, und gab ihr einen flüchtigen Kuss darauf. »Jetzt lass mich dich ausführen. Nicht ins Dog and Donkey oder einen von den anderen dreckigen Pubs, sondern in ein richtiges Restaurant.«
Er bestand darauf, dass Sukie ihr gutes Kleid anzog, und wechselte selbst in seinen dunklen Abendanzug, der ihm stand wie auf den Leib geschneidert. Sie nahmen einen Wagen, und als sie ausstiegen, spürte Sukie die Blicke, die ihnen folgten. Wir sind ein schönes Paar, dachte sie mit einem Anflug von Traurigkeit.
Im Cathedral behauptete man, es gebe keinen Platz, obgleich die Hälfte der Tische unbesetzt war. Dass Victor an der Kränkung schluckte, war nicht zu übersehen, aber er schien entschlossen, sich den Abend nicht vergällen zu lassen. Nachdem man sie aus zwei weiteren Restaurants hinauskomplimentiert hatte, endeten sie in einem kleinen Gasthaus nicht weit von der Gewürzinsel. Victor bestellte französischen Wein, und als der Wirt bedauernd erwiderte, er habe keinen im Haus, schickte er ihn mit barschen Worten los, um welchen zu kaufen. Taten das alle Menschen, selbst Victor? Einen anderen treten, wenn sie getreten worden waren?
Nachdem der Wein serviert worden war, fand er jedoch zu seiner Ausgelassenheit zurück. In schönsten Farben malte er ihr aus, wie er den neu erworbenen Flügel der Pension umgestalten wollte, wie aus dem tristen Innenhof ein blühender Garten zum Flanieren und Verweilen werden sollte, wo er eine Terrasse und einen Wintergarten anzubauen hoffte, und was für Personal nötig wäre, um den Gästen jeglichen Komfort zu bieten. Sukie erschien sein Gerede wie ein Märchen, von dem kein Wort sich je als wahr erweisen würde. Sie gehörten einer Klasse an, die man selbst in ihren besten Kleidern in keinem guten Restaurant zu sehen wünschte. Wie sollten sie ein Hotel leiten, in dem eben diese Leute, die über sie die Nase rümpften, Urlaub machten?
»Natürlich wird es Jahre dauern«, sagte Victor. »Aber wir haben auch Jahre Zeit, oder nicht? Nur eines kann nicht länger warten, es hat schon viel zu lange gewartet und muss endlich getan werden. Ich habe dir nie von meiner Schwester Annette erzählt, nicht wahr? Ich will es jetzt tun, Sukie. Ich glaube, wenn ich je einen Freund hatte, dann bist du es, und deshalb will ich, dass du von Annette weißt.«
Sein Ton änderte sich, wurde starr, fast ausdruckslos. Zwischen den Sätzen trank er Wein, wie er neulich den Brandy in sich hineingeschüttet hatte, und während der gesamten Erzählung sah er den Tisch an, als läse er die Worte von dort ab. Annette war seine jüngere Schwester, die er nach dem Tod seiner Eltern umsorgt und behütet hatte. Kaum war er in die Lehre getreten, hatte er sie aus dem Waisenhaus zu sich geholt. »Wir waren lachhaft bescheiden«, sprach er hinunter auf den Tisch. »Hätte man uns nur die Kammer, um darin zu hausen, gelassen und das bisschen, was wir zum Essen brauchten, wir wären glücklich gewesen.«
So wie ich, dachte Sukie. Hätte Hector Weaver mich nicht mit seinen dreckigen Händen zur Hure gemacht, ich hätte meine Arbeit getan und nichts weiter verlangt.
Hector Weaver aber hatte sie zur Hure gemacht, und die hohen Herren hatten Victor und seiner Schwester ihre Kammer und ihr bisschen Glück nicht gelassen. Er war im Gefängnis gewesen. Während er tonlos weitererzählte, umfasste sie sein Gelenk und streichelte die geschwollene Ader, in der sein Leben pochte. Als er seine Strafe abgesessen hatte und zu seiner Schwester nach Hause gehen wollte, wohnte in dem kleinen Zimmer ein anderer und Annette war nicht mehr dort. Sukie glaubte die Einsamkeit, die ihn befallen haben musste, am eigenen Leib zu spüren. Es war die Einsamkeit von jenem Abend, als Hector Weaver sie aus seinem Haus geworfen hatte, ehe Victor gekommen war, um ihr zu helfen. Ihm selbst aber hatte niemand geholfen. So sehr er bettelte, fluchte und drohte, man hatte ihm nicht erlaubt, Annette wiederzusehen.
Er zog ihr die Hand weg und stützte seinen Kopf darauf. Sie beugte sich vor und streichelte sein Gesicht. Sie las gern Romane, die in einzelnen Folgen in Zeitungen erschienen, und wenn dem Helden ein unverdientes Leid widerfuhr, weinte sie heimlich in ihr Taschentuch. Auch wenn sie von traurigen Schicksalen las – Frauen, denen ihre Kinder am Hunger starben, junge Liebende, die widrige Umstände trennten –, kamen ihr die Tränen. Sie war nah am Wasser gebaut, wie man sagte, doch noch nie hatte ihr ein Mensch so leidgetan wie der Mann, der vor ihr saß. Sie wollte ihm den Schmerz abnehmen und selbst tragen, sie wollte ihn wissen lassen, dass die Qual seiner Einsamkeit vorbei war, dass sie bei ihm bleiben würde, solange er es ihr erlaubte.
Endlich hob er den Kopf. Seine schwarzen Wimpern glänzten. »Bitte verzeih mir«, sagte er. »Du bist immer so nett zu mir, Sukie.«
»Ich tue das gern für dich«, sagte Sukie und streichelte ihn weiter. »Ich tue alles gern für dich.«
»Ich werde es dir vergelten, das verspreche ich.«
Dazu bräuchtest du nicht wieder mit deiner Aufschneiderei vom Grandhotel anzufangen. Du bräuchtest nicht mehr, als den Kopf zu neigen, so nahe zu mir, dass ich dich auf die Lippen küssen kann.
»Sag, kennst du dich aus? Weißt du vielleicht, wie man vorgeht, wenn man jemanden suchen lassen will?«
»Wenn man jemanden suchen lassen will?«, wiederholte sie verständnislos. »Woher soll ich das denn wissen, ich suche ja keinen.«
»Du hast recht. Die Frage war dumm. Woher solltest du so etwas auch wissen?« Er rückte mit dem Stuhl nach hinten, so dass sie ihn nicht länger berühren konnte, und sah aus, als zöge er sich in sich zurück.
Sukie begriff. Er wollte seine Schwester suchen, und wenn er weiterhin spüren sollte, dass sie für ihn da war, musste sie über diese Schwester mit ihm sprechen. Ein Einfall kam ihr. In einem der Zeitungsromane hatte sie davon gelesen, gerade kürzlich, in einer der spannendsten Folgen. »Hm«, machte sie, als würde sie angestrengt über seine Frage nachdenken. Dann hob sie wie in einem jähen Einfall den Kopf. »Ich glaube, mit einem solchen Problem wendet man sich am besten an einen Detektiv«, sagte sie. »Hast du darüber schon einmal nachgedacht, kennst du dich mit Detektiven aus? Es sind eigens ausgebildete, mit allen Wassern gewaschene Beamte der Polizei, die im ganzen Land Verbrecher und vermisste Personen aufspüren. Was denkst du, wäre das vielleicht etwas für deine Suche nach deiner Schwester?«
In seinen Augen blitzte Interesse auf. »Und du meinst, einen solchen Detektiv kann jeder beauftragen, der es sich leisten kann?«
»Warum nicht?«, erwiderte Sukie, darum bemüht, sich den Anschein zu geben, als würde sie sich mit der Materie seit langem beschäftigen. »Wenn du einen für deinen Fall interessieren kannst?«
»Sukie, du bist Gold wert!«, rief er und hob sein Glas. »Ach was, wer würde Gold haben wollen, wenn er einen Freund wie dich haben kann?«
Sukie nahm ebenfalls ihr Glas und nippte daran. »Ich bin eigentlich kein Freund«, sprach sie über den Glasrand vor sich hin. »Eine Freundin schon eher. Es ist übrigens nicht sehr schmeichelhaft für ein Mädchen, wenn von ihr gesprochen wird wie von einem Mann.«
Er schlug sich die Hand vor den Mund. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wollte dir etwas Nettes sagen, und stattdessen beleidige ich dich.«
»Dir liegt eben doch nicht so viel an mir, wie du sagst.«
»Doch, Sukie, doch!« Er sprang halb vom Stuhl auf, besann sich und setzte sich wieder. »Du glaubst, ich achte dich gering, weil du …« Er rieb sich die Stirn und rang nach Worten, doch er fand keine.
»Weil ich mich an Männer verkauft habe?«, half sie ihm weiter. Sie würde es niemals auslöschen können. Es waren nur ein paar Wochen ihres Lebens, aber sie hingen ihr wie ein Stigma für immer an. Und von den Jahren mit Hector Weaver wusste er nicht einmal etwas. Wie hätte er sie achten oder gar lieben sollen, ein bis ins Mark verdorbenes Mädchen, wie hätte sie ihm je bedeuten können, was die Frau, deren Namen er nicht nannte, ihm bedeutet hatte?
»Glaubst du das wirklich von mir?«, fiel seine Stimme in ihr Schweigen. »Stell dir einmal vor, dieser Detektiv, zu dem du mir geraten hast, würde meine arme Schwester bald finden, aber er würde mir sagen müssen, dass Annette, um nicht am Hunger zu verrecken, sich so wie du verkaufen musste? Meinst du, ich würde sie dann weniger lieben? Im Gegenteil, Sukie. Ich würde alles tun, damit sie das Schreckliche, das sie erlebt hat, vergisst, und dasselbe täte ich auch gern für dich.«
»Annette ist deine Schwester«, erwiderte Sukie. »Ich bin es nicht.«
»Ich weiß«, sagte er. »Aber wenn du es möchtest, dann hätte ich gern, dass du dich wie meine Schwester fühlst. Du bist so gut zu mir, wie Annette es gewesen ist, und wenn wir sie finden und zu uns holen – meinst du nicht, wir könnten zu dritt wie eine Familie miteinander leben? Annette und ich hatten nie eine Familie. Ich stelle es mir ein bisschen wie den Himmel vor, eine zu haben.«
Sukie warf ihre Serviette auf den Tisch und schob den halb geleerten Teller beiseite. Es war sinnlos. Er würde sie nie so sehen, wie sie von ihm gesehen werden wollte, und dass daran das Leben, das sie geführt hatte, schuld war, wusste sie, was immer er beteuerte. Es war wie die Flecken, die Wein und Bratensauce auf dem Tischtuch hinterlassen hatten – sie mochten beim Waschen blasser werden, aber sie waren immer noch sichtbar und kündeten von dem, was am Tisch verzehrt worden war. »Ich möchte gern nach Hause«, sagte Sukie. »Mir ist der Appetit vergangen.«
»Habe ich dich verärgert?«, fragte er.
Sie sah ihm in die schönen schillernden Augen. »Vielleicht schon. Aber das lässt sich nicht erklären.«
»Versuch es«, bat er sie.
Einen Herzschlag lang überlegte sie. »Dieser Frau würdest du nicht anbieten, deine Schwester zu werden«, sagte sie dann.
»Welcher Frau?«
»Mildred«, erwiderte Sukie.
Victor zuckte zusammen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und an seiner Schläfe trat eine Ader hervor. »Ich habe dir gesagt, in meinem Haus wird der Name dieser Person nicht genannt«, presste er heraus.
»Wir sind aber nicht in deinem Haus. Außerdem hast du mich gebeten, dir zu erklären, warum ich verärgert bin, und so habe ich es dir eben erklärt. Besser kann ich es nicht.«
Er griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. Als er es nachfüllen wollte, entdeckte er, dass die Flasche leer war, und winkte damit so ungehobelt wie ein Navvy, um eine neue zu verlangen. »Woher weißt du das?«, fragte er, und seine Augen wurden schmal.
»Was?«
»Das von ihr – und mir.«
Sukie zuckte mit den Schultern. »Um das zu wissen, braucht man nicht schlau und gebildet zu sein. Du bist ein gutaussehender Mann, Victor, du bist liebenswürdig und verdienst gutes Geld. Du könntest manche Frau für dich gewinnen, aber du schaust nicht nach Frauen. Für dich gibt es in Wahrheit nur eine, auch wenn du es hundertmal bestreitest. So sehr, wie du sie beschimpfst, so sehr begehrst du sie auch.« Ein Mädchen von Anstand nahm ein Wort wie Begehren nicht in den Mund, aber Sukie war kein Mädchen von Anstand mehr. Es hatte auch sein Gutes, es machte frei, weil man nichts mehr zu erhoffen hatte.
Durchdringend sah Victor sie an. Die Wärme, die sie an seinen Augen vom ersten Tag an geliebt hatte, war gänzlich daraus verschwunden. Ohne zu sprechen hielt er ihren Blick, bis der Wirt mit der bestellten Flasche kam. Dann wandte er sich ab, riss dem Mann die Flasche aus der Hand und sagte: »Sparen Sie sich das Einschenken und bringen Sie mir die Rechnung. Die Flasche nehme ich mit.« Kaum hatte er bezahlt, stand er auf. Immer wieder aufs Neue überraschte es Sukie, wie groß und wie breit in den Schultern er war. »Also los, gehen wir«, sagte er und war schon auf dem Weg. Durch den lauen Sommerabend stampfte er ihr voraus, ohne sich nach ihr umzudrehen, ohne einen Mietwagen anzuhalten, vielleicht ohne die Welt um ihn überhaupt wahrzunehmen. Er ging nicht ins Verwalterhaus, das ihr Zuhause war, sondern hinüber in die Pension, und Sukie folgte ihm. Im Empfang setzte er sich an einen der kleinen Tische, lud sie nicht ein, sich zu ihm zu setzen, aber protestierte auch nicht, als sie es tat. Das erste Glas, das er sich eingeschenkt hatte, leerte er in einem Zug. Seine Augen waren noch immer kalt, und genauso klang seine Stimme. »Du glaubst also, ich kann keine Frau begehren, ja? Nur Mildred Adams, die mit einer Frau so viel gemein hat wie eine Wölfin mit einem treuen Hund?«
Seine Kälte machte Sukie Angst, doch tapfer nickte sie.
Victor leerte noch ein Glas, dann stand er auf und trat um den Tisch herum zu ihr. »Ich werde dir zeigen, dass ich eine Frau begehren kann.« Er packte sie bei den Oberarmen und riss sie zu sich hoch. Ein Schmerzenslaut entfuhr ihr, dann verschloss er ihr die Lippen mit seinen, und seine Zunge öffnete ihr den Mund.