Kapitel 41
Herbst ohne Ende
Lydia hatte Esther, solange sie sie kannte, nie weinen sehen. Oft hatte sie gedacht, das Mädchen müsse doch weinen oder wenigstens wüten über die Ungerechtigkeit, mit der Mildred sie behandelte, über die Gleichgültigkeit ihres Vaters und über den Schlag, den ihre Mutter ihr zugefügt hatte, aber Esther hatte stets ihre Fassung bewahrt. Sie weinte auch jetzt nicht. Sie saß mit starrem, bleichem Gesicht auf dem Stuhl und berichtete, was man ihr angetan hatte, in stockenden, splitternden Worten.
»Ich bringe sie um«, sagte Lydia. »Ich gehe hin und bringe die verfluchte Mildred endlich um!«
»Nicht doch«, presste Esther hervor. »Bitte schimpf nicht auf Mildred. Was hätte sie denn anderes tun sollen?«
»Was weiß denn ich? Jedenfalls nicht dein Geld stehlen, um diesen Schweinehund als Mann für ihre Tochter zu kaufen!«
»Phoebe ist schwanger, Lydia.« Sie klang, als müsste sie weinen, aber es flossen keine Tränen.
»Das ist mir gleichgültig. Sie hat dich bestohlen. Sie hat das Geld genommen, für das du verflucht hart gearbeitet hast.«
»Einen Teil davon habe ich geschenkt bekommen. Von euch und von Nell …«
»Und wenn schon. Das Geld war dein Eigentum, es gehörte weder Phoebe noch diesem Dreckskerl und schon gar nicht Mildred!«
Als Lydia Atem holen musste, stand Horatio auf, ging vor Esther in die Knie und nahm ihre Hände. »Du fährst am Montag nach Kanada«, sagte er. »So wie du es geplant hast und wie du es verdienst. Wir geben dir das Geld. Ich gehe es morgen früh für dich holen, und jetzt mische ich dir meinen Zaubertrank für die Nerven, und du versuchst dich zu beruhigen.«
»Du willst mir das Geld geben?«, rief Esther. »Aber ihr habt doch selbst nichts, ihr bezahlt Noras Arztkosten und die Raten für das Haus …«
Horatio winkte ab. »Das lass unser Problem sein. Wir beleihen das Haus eben noch einmal, mein Institut kann für uns bürgen. Wir verdienen ja beide Geld und haben für kein Kind zu sorgen, und wenn du eine berühmte Ärztin bist, zahlst du es uns mit Wucherzins zurück.«
Bei allen Himmeln, dachte Lydia. Welche Macht auch immer mir diesen verrückten, wundervollen Mann beschert hat, sie soll ihn mir ja bis an mein Lebensende erhalten. Sie ging zu ihnen und umarmte sie beide. »Genauso machen wir es, hast du gehört, Liebes?«
»Aber ich will nicht, dass ihr meinetwegen verarmt!«
»Wir sind steinreich«, sagte Horatio. »Wir haben nur kein Geld. Dafür kommen wir dich nächstes Jahr in Kanada besuchen und fressen dir die Haare vom Kopf.«
Jetzt weinte Esther. Weinte und lachte zugleich und hielt sich an ihnen fest. »Meint ihr, das geht wirklich? Ich sollte ein solches Geschenk eigentlich nicht annehmen, aber ich weiß einfach nicht, wie ich sonst leben soll …«
»Es ist doch gar kein Geschenk«,entgegnete Horatio. »Es ist unser Beitrag für die Wissenschaft – die Versuchsreihe Esther Weaver hat sich bewährt.«
Ohne dass Esther es sah, küsste Lydia seinen Nacken. Rebecca kam die Treppe hinunter und schimpfte: »Könntet ihr Goldkinder euch vielleicht ein bisschen leiser herzen? Nora ist gerade eingeschlafen!«
»Wir bitten untertänig um Entschuldigung«, sagte Horatio. Rebecca drohte ihm mit dem Finger und verschwand wieder nach oben.
»Müsste Rebecca nicht schon wieder in London sein?«, fragte Esther, die sich die Tränen abwischte. »Das Semester hat doch begonnen. Wohnt sie denn jetzt bei euch?«
»Das ist so einfach nicht zu erklären«, begann Lydia, die sich vorgenommen hatte, dieser Frage, wer immer sie stellte, offen zu begegnen, und die es jetzt unerwartet schwierig fand.
»Rebecca unterbricht ihr Studium, bis es Nora bessergeht«, sagte Horatio. »Ja, sie wohnt bei uns. Bei Nora. Wenn Nora so weit ist, gehen beide zusammen nach London.«
Er nahm es hin, wie es war. Für einen, der sein Leben lang nach Liebe gehungert hatte, konnte Liebe offenbar kein Problem sein. Lydia wollte ihm nicht nachstehen. »Sie lieben sich«, fügte sie hinzu.
»Rebecca und Nora? Aber das ist doch verboten!«, brach es aus Esther heraus.
Horatio lächelte und schüttelte den Kopf. »Nur zwischen Männern. Von Frauen steht nichts im Gesetz.«
»Und warum nicht?«
»Weil unsere Gesetzgeber sich nicht vorstellen können, dass Liebe zwischen Frauen existiert«, antwortete Horatio. »Es ist in Ordnung für dich, oder nicht? Ich glaube, von der Tochter meines Vaters kann kein Mensch erwarten, einen Mann zu lieben.«
Noch einmal küsste Lydia seinen Nacken, dann stand er auf und mixte Gin, Limonade, Gurken und Zitronen, weil es keine Erdbeeren mehr gab. Sie tranken auf die Liebe, auf Esthers Zukunft in Kanada und auf Noras Zukunft in London. »Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann alle hier wieder«, sagte Horatio. »Bei elektrischem Licht und Gesetzen, die etwas anderes als Liebe verbieten, und noch immer bei Gurken in Gin.«
»O ja!«, rief Esther und drückte ihn an sich. »Ihr seid die besten Freunde auf der Welt. Ich werde euch hundert Briefe schreiben, und ihr kommt mich besuchen, und ich …«
Lydia lachte. »Erst einmal wirst du vergessen, dass es uns gibt. Und das ist gut so.«
»Ist es nicht.« Sie lachten und steckten die Köpfe zusammen. Horatios ungehaltenes Haar kitzelte Lydia am Hals und machte ihr Lust.
»Jetzt geh und pack deine Koffer fertig«, sagte er zu Esther.
»Ich habe ja schon alles hundertmal ein- und wieder ausgepackt.«
»Dann tu es noch einmal. Wir sehen uns morgen früh.«
Sie standen in der Tür und winkten Esther nach. Horatio hatte den Arm um Lydias Hüften gelegt, und Lydia hatte den Arm um Horatios Taille gelegt, und wie sie so in der Tür ihres Hauses standen, sahen sie vielleicht aus wie eins jener Ehepaare, von denen Lydia nie ein Teil hatte werden wollen. Aber sie wollte es jetzt. Es war schon fast Herbst und wurde kühl, und Horatio schloss hinter ihnen den Riegel. »Wir sind allein«, sagte er und grinste hinreißend unverschämt.
»Nein«, sagte sie und hängte sich an seinen Hals. »Nein, mein Liebster, wir sind nie wieder allein, bei uns wohnt die halbe Welt, aber wir haben immerhin noch unser Bett für uns.«
»Stört es dich, dass die halbe Welt bei uns wohnt?«, fragte er und küsste sie.
»Nein«, sagte sie und küsste ihn wieder. »Mich stört gar nichts, erst recht nicht, dass du Geld, das wir nicht haben, an die halbe Welt verschenkst.«
Sie liefen die Treppe nach oben wie Kinder, ehe ihre Mutter sie erwischte. Anderntags bat er seinen Dekan um die Bürgschaft für einen Kredit, bekam anstandslos die Bewilligung und brachte Esther das Geld ins Spital. Lydia würde Esther vermissen, aber sie freute sich für die Freundin unbändig. Vor allem freute sie sich, dass es Mildred letzten Endes doch nicht gelungen war, ihrer Stieftochter die Zukunft zu zerstören. So wie es Hector nicht gelungen war, Horatio und Nora die Zukunft zu zerstören. Die neue Zeit gehörte ihnen. Sie konnten das, was die Alten angerichtet hatten, abschütteln, wie man nach dem Erwachen einen Traum abschüttelt, der Qual und Furcht bereitet hatte, aber keine Bedeutung mehr besaß.
Esther verabschiedete sich von Will Ackroyd, wie sie es versprochen hatte, dann traf sie Horatio, der ihr das Geld gab, in der Kantine. Ihr Gewissen plagte sie, er aber versicherte ihr noch einmal, dass er und Lydia das Geld mit Freuden wegschenkten. »Uns geht es gut, Esther. Dir soll es auch gutgehen.«
»Dass es dir gutgeht, sieht man«, sagte sie und musste lächeln.
In gespielter Panik griff er sich an die Taille. »Wie meinst du das? Findest du, ich setze Fett an?«
Sie grinsten sich an, umarmten sich und küssten einander auf die Wangen.
»Danke«, sagte Horatio.
»Habe nicht ich dir zu danken?«
»Nein, ich dir. Wenn ich dir Geld geben müsste, um Lydia zu entgelten, könnte ich ein Nabob sein und hätte doch nie genug.«
»Wenn du es so siehst – tust du mir dann noch eine Liebe? Geh zu Phoebes Hochzeit, auch wenn du Redknapp lieber durchprügeln möchtest, als ihm zu gratulieren. Hab ein Auge auf sie und schreib mir, wenn es ihr schlechtgeht. Sie tut mir so leid, Horatio.«
»Mir auch. Ich verspreche, ich habe ein Auge auf sie.«
Vermutlich war es nicht möglich nach allem, was geschehen war, Überschwang oder Leichtigkeit zu empfinden, aber als Esther nach Hause ging, begann sich die Freude auf das, was ihr bevorstand, sachte aufs Neue zu regen, und sie ließ es geschehen. Schließlich half sie Phoebe nicht, indem sie Trübsal blies, und was wäre das wundervolle Opfer, das Lydia und Horatio ihr brachten, dann wert? Zu ihrer Erleichterung fand sie das Mädchenzimmer leer vor. Die Schwestern mussten ausgegangen sein. Lediglich der Duft eines Rosenstraußes, den zweifellos wieder Andrew Ternan geschickt hatte, erfüllte den Raum.
Esther tat, was Horatio ihr geraten hatte, packte noch einmal Dinge aus dem Überseekoffer aus, sortierte sie und schichtete sie wieder hinein. Morgen früh würde sie die letzte Rate für die Passage ins Büro der Schifffahrtsgesellschaft bringen und dabei die Abholung des Gepäcks bestellen. Ihren Reisemantel hängte sie vor den Schrank und den Pullover von Horatio, der ihr auf der Überfahrt nützlich sein würde, daneben. Sechs Wochen auf einem Schiff – es war kaum vorstellbar. Sie nahm ein wollenes Tuch aus dem Koffer und faltete es neu.
»Du kannst das auspacken, Esther.«
Sie fuhr herum und sah Mildred, die sich gegen den Türrahmen lehnte. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung grau.
»Ich packe nichts aus«, sagte Esther so fest wie möglich. »Ich fahre am Montag nach Kanada. Es ist nicht schlimm, dass du mein Geld genommen hast, um Phoebes Verlobten auszulösen. Du hattest ja keine Wahl, und ich brauche es nicht. Horatio und Lydia haben mir das Geld für die Überfahrt und die erste Zeit geliehen.«
Mildred sagte lange nichts. Dann: »Esther?« Verrückterweise fiel Esther nicht ein, wann Mildred sie je zuvor beim Namen genannt hatte. »Ich habe noch mehr Geld genommen. Alles Geld.«
»Was meinst du damit – alles Geld?«
»Geld, das für eure Mitgift angelegt war. Von einem Freund deines Vaters. Ich habe alles genommen und damit das Patent für Redknapp bezahlt. Was hätte ich sonst tun sollen? Der Mann hat ja sonst nichts, womit er Phoebe und das Kind ernähren könnte.«
»Ja, was hättest du sonst tun sollen?«, wiederholte Esther, ohne zu begreifen. Dass Mildred Geld genommen hatte, das für ihre Heirat bestimmt war, erschien ihr nur recht und billig. Schließlich war sie nicht Mildreds Tochter, und zudem hatte sie Geld von der Urgroßmutter bekommen, wenn sie es auch nicht mehr besaß. Wie aber stand es mit den Schwestern? »Was ist mit Georgia und Chastity?«, fragte sie leise. »Werden sie nichts brauchen, wenn sie heiraten wollen?«
»Georgia und Chastity können von Glück sagen, wenn es nur die Mitgift ist, die sie verlieren«, erwiderte Mildred in nicht zu deutendem Ton. »Wahrscheinlich ist allerdings, dass ihnen nicht einmal das Dach überm Kopf bleibt. Ich will dich etwas fragen. Erinnerst du dich an unsere Ausflüge zum Clarence Pier, damals, in den ersten Jahren, bevor der Teufel uns das Kreuz Chastity aufgebürdet hat? Einmal wollte ich nicht mit euch gehen, vielleicht, um euch dafür zu bestrafen, dass mein Leben ein solches Elend war. Du hast gesagt, ich soll Phoebe verschonen, du würdest alles aufgeben und im Leben nie wieder Karussell fahren, wenn ich nur Phoebe nicht traurig mache. Erinnerst du dich daran, Esther?«
Esther tat es. Sie glaubte Phoebes Kinderkörper in den Armen zu spüren und sich singen zu hören: Lavendel ist blau, dilly dilly, Lavendel ist grün. »Warum willst du das wissen?«, fragte sie.
»Weil du es wieder tun musst«, antwortete Mildred. »Alles aufgeben, bis an dein Lebensende nicht Karussell fahren, damit Phoebe nicht traurig ist. Ich werde auch das Geld, das dein Cousin dir gegeben hat, brauchen. Wie es aussieht, hat dieser Mensch, der mein Schwiegersohn wird, in jedem Bordell und jeder Kaschemme der Stadt Schulden gemacht, und wenn ich will, dass die Gläubiger dichthalten, werde ich sie auszahlen müssen. Aber das ist nicht alles. Ich brauche mehr Geld. Viel mehr. Und ich kann dir nicht einmal sagen, wofür. Wenn du mir nicht hilfst, muss ich Mount Othrys verkaufen, und wo wir alle dann bleiben, weiß ich nicht.«
»Aber Mount Othrys …«
Mildred schüttelte den Kopf. »Nein, Mount Othrys gehört nicht deinem Vater, der mich mit dem ganzen Irrsinn allein gelassen hat. Es gehört schon lange mir und sollte eines Tages meinen Kindern gehören. Jetzt aber wird einer es uns nehmen, einer, von dem ich nicht einmal den Namen kenne, und nicht nur Phoebe, sondern auch Georgia und das arme Unglückswurm werden am Ende sein. Es sei denn, du hilfst uns, Esther.«
»Aber wie soll ich euch denn helfen?«
Mildred wies auf die Rosen, die auf der Anrichte standen. »Andrew Ternan hat um deine Hand angehalten. Als durch Heirat verbundenes Hotel würde das Victoriana Mount Othrys unter die Arme greifen. Dein Vater wäre vermutlich dagegen, aber dein Vater ist ja nie hier, wenn seine Kinder ihn brauchen. Also habe ich mir erlaubt, seinen Antrag in deinem Namen anzunehmen.«
Einen Herzschlag lang glaubte Esther, der heisere, wie zerbrochene Schrei, der aufgellte, sei ihrer eigenen Kehle entsprungen. Erst als Mildred herumfuhr, begriff sie, dass er aus dem Gang gekommen war, dass jemand direkt hinter der Tür gestanden und das Gespräch mit angehört haben musste. »Du«, entfuhr es Mildred. »Hältst du noch immer nicht still, schleichst dich noch immer durchs Dunkel und steckst in alles deine knochigen Finger? Hast du noch immer nicht genug zerstört?«
»Ich?«, hallte die Stimme der Urgroßmutter zurück. »Ich habe genug zerstört? Und das sagst du mir, Mildred Adams, die meine Familie zerstört hat und sich jetzt noch an meiner Urenkelin vergreift? Wenn der verfluchte Horatio ihr Geld gegeben hat, dann segne ihn der Herrgott – dann hat er genauso begriffen wie ich, dass sie von hier fortmuss, bevor du sie dir einverleibst, wie du dir Hyperion einverleibt hast, um alles, was er hätte sein können, zunichtezumachen.«
Ohne Besinnung sprang Esther auf und lief zur Tür. Im Gang stand die Urgroßmutter. Sie musste sich mit letzter Kraft aufgerappelt haben, schwankte vor und zurück wie ein Geist und streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten.
»O nein«, schrie Mildred, »nicht ich habe zunichtegemacht, was Hyperion hätte sein können. Ich werde dir sagen, wer das getan hat. Du und deine heilige Amelia! Die eine mit ihrem Verzärteln und die andere mit ihrem Verachten. Ihr seid schuld, dass aus dem Mann, den ich geliebt habe, überhaupt nie ein Mann geworden ist, sondern ein verzagtes Jüngelchen mit grauem Haar!«
Esther sah, wie die Urgroßmutter noch stärker schwankte, wie sie die Arme wie Flügel ausbreitete, um Halt zu finden, wie sie den Mund aufriss, um gegen die Beschuldigung anzugehen, und wie sie vornüber auf den Boden fiel. Hätte Mildred die federleichte Greisin auffangen können, wenn sie gewollt hätte? Die Frage war müßig. Es hätte nichts genützt. An Mildred vorbei trat Esther in den Gang und kniete vor Nell Weaver, die mehr als ein Jahrhundert in sich trug, nieder. Routiniert tasteten ihre Finger nach Herz und Puls, um zu bestätigen, was sie ohnehin wusste. »Lass Vater aus dem Spital holen«, sagte sie. »Die Urgroßmutter ist tot.«