Kapitel 21
Advent
Sie verachtete ihn. Er war ein Navvy ohne Manieren, sein Haus war ein Exempel des schlechten Geschmacks, und sein zu breiter, zu muskelbepackter, viel zu männlicher Körper machte sie nervös. Dennoch musste Mildred eingestehen, dass nie ein Mensch so gut zu ihr gewesen war wie Victor März und dass sie sich nie irgendwo so beschützt und umsorgt gefühlt hatte wie in seiner Obhut.
Er schirmte sie ab. Er brachte ihr, was immer sie sich wünschte, Wein, bis sie schlafen konnte, dampfende Brühe, um ihr die Kräfte zu erhalten, Decken, wenn ihr die Zähne klapperten. Solange sie wollte, blieb er bei ihr, sprach oder schwieg mit ihr, und sobald sie ihn fortschickte, ging er ohne Widerspruch. Ihr Zimmer war das bequemste im ganzen Haus. Es besaß einen großen Kamin und Fensterläden, durch die die Welt sich ausschließen ließ. Am Abend des vierten Tages, als alles, was geschehen war, mit ganzer Gewalt auf sie einstürzte, bat sie ihn, bei ihr zu bleiben, weil sie das Alleinsein mit den eigenen Gedanken nicht ertrug.
In seinen Armen weinte und redete und schlief sie, schreckte immer wieder auf und redete weiter, und er zog die Decken fester um sie und sang ihr leise ein paar Zeilen von seinem Lied. Als endlich der Morgen graute, fragte sie ihn: »Was soll ich nur tun? Muss ich damit leben, dass ich sie beide verloren habe, muss denn ich allein für alles büßen?«
»Willst du hören, was ich dazu denke?«, fragte er sacht.
»Wozu habe ich dich sonst wohl gefragt?«, fauchte sie ihn an, und dann durchfuhr sie ein Anflug von Dankbarkeit, weil er es ihr erlaubte, all den Schmerz und den Zorn an ihm auszulassen. Sie hob die Hand und strich ihm flüchtig über die Wange. Er hielt ganz still, schloss halb in Träumen die Lider. Sie musste daran denken, wie Hyperion manchmal in ihren Armen still gelegen hatte, erschöpft von der Liebe und erfüllt vom Sehnen, und von neuem bildete sich ein Knoten in ihrem Hals. »Sag mir, was ich tun soll«, krächzte sie. »Ist es gerecht, dass ich allein bestraft bin?«
Sie konnte sehen, wie er sich zur Ordnung rief. »Nein«, erwiderte er schnell und schlug die Augen auf. »Das ist nicht gerecht. Ich finde, wenn so etwas geschieht, dann ist der Mann mehr schuld als das Mädchen.«
»Willst du etwa Hyperion die Schuld zuteilen?« Sie rückte von ihm ab. »Das erlaube ich nicht. In meiner Gegenwart wird von Hyperion nicht schlecht gesprochen, lass dir das gesagt sein. Hyperion ist kein Tier, das Frauen hinterhergiert und kaum die eine von der anderen kennt. Was wir getan haben, Hyperion und ich, das haben wir aus Liebe getan. Muss Liebe bestraft werden? Wenn Liebe nichts als falsch und sündig ist, weshalb hat Gott sie dann so unausweichlich gemacht?«
Als sie den Kopf hob, traf sie sein Blick. Seine Augen waren voller Traurigkeit. »Das weiß ich auch nicht, Mildred«, sagte er. »Ich weiß nur, dass du ein guter Mensch bist. Wenn dir richtig erschien, was ihr getan habt, dann wird es auch richtig gewesen sein.«
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Ich ginge zu Mrs Daphne«, sagte Victor. »Ich würde es ihr erklären, wie du es mir erklärt hast, und ich bin sicher, sie wird es verstehen. Sie wird froh sein, dich wiederzuhaben, Mildred. Ihr seid doch Schwestern.«
Ja, wir sind Schwestern, dachte Mildred. So viel Unsinn er sonst schwatzte, erschien ihr das eine, das er gesagt hatte, treffend. Sie musste mit Daphne sprechen. Im ersten Schrecken hatten sie beide Dinge gesagt, die sie unmöglich ernst meinen konnten, doch was zählten Worte, was zählte ein unbedachter Augenblick gegen die Jahre, in denen sie einander alles gewesen waren? Ihr Problem ließ sich nicht aus der Welt schaffen, aber gab es keinen Weg, sich ihm gemeinsam zu stellen? Sie mochten beide ihre Liebe verlieren, wenn es denn wahr war, dass auch Daphne Hyperion liebte und nicht nur nach Kinderart von Liebe träumte, aber dass sie obendrein einander verloren, war zu viel.
Wir können unseren Schmerz teilen, wie wir alles geteilt haben. Wir können auch die Kinder teilen. Der Junge mit seinem Temperament ist gut an meinem straffen Zügel aufgehoben so wie das schwache Mädchen in Daphnes sachter Hand. Mildred riss sich zusammen und setzte sich auf. Bei dem Versuch spürte sie die bleierne Müdigkeit, die sie in die Kissen zwingen wollte. Für das Gespräch mit Daphne würde sie wach sein müssen. »Ich bin erschöpft«, sagte sie. »Ich muss mich ausruhen.«
»Allein, Mildred?«
»Ja. Allein. Fährst du mich nachher nach Mount Othrys?«
»Natürlich«, erwiderte er. Sie rollte sich zusammen, er zog ihr die Decke bis ans Kinn und schloss den Fensterladen. »Schlaf dich aus.«
Am frühen Abend, als sie in seinem zugigen Wagen aufbrachen, fiel in dichten Schwaden Schnee. Mildred wickelte sich in den Mantel, den Victor ihr gekauft hatte. Zwar hatte sie geschworen, das hässliche Ding nie zu tragen, doch gegen die Kälte war es eine Wohltat. Es kam ihr vor, als hätte sie in ihrem Leben nie so gefroren wie in diesem Winter. Zweimal stellte Victor ihr eine Frage, dann begriff er, dass sie nicht reden wollte, und schwieg.
Mount Othrys zu sehen versetzte ihr einen Stich. So still lag ihr Haus, wie verlassen, hinter den Scheiben brannte kein Licht, und es war doch Advent und jemand hätte mit Louis bei Mince Pies und Tee sitzen sollen. War niemand zu Hause? Aber Daphne war ja zu schwach, um auszugehen, ihr Knochenbruch war schlecht verheilt und ihre Blutarmut schlimmer denn je. Wie auch immer, erfahren würde sie nur etwas, wenn sie das Haus betrat. »Möchtest du, dass ich mit dir komme?«, fragte Victor scheu.
»Um Gottes willen!«, rief Mildred. »Ich kann doch dich nicht mit nach Mount Othrys nehmen.«
Die Geste, mit der er Kopf und Schultern wie unter einem Schlag duckte, hatte sie schon häufig an ihm wahrgenommen. Unterwürfig, fand sie. Rückgratlos. »Soll ich hier auf dich warten?«
Sie nickte. »Es kann lange dauern.«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, murmelte er.
Sie machte sich um ihn keine Sorgen. Von dem Moment an, in dem sie vor dem Tor von Mount Othrys aus der Kutsche stieg und bis zum Knöchel im Schnee versank, war es, als hätte er aufgehört zu existieren. Stattdessen begann ihr Herz zu rasen. Schlug es um Daphnes willen so hart und hoch? Mildred schloss das Tor auf und ging den ersten Schritt auf das Haus zu. Ein wenig Schnee zierte das Fries mit dem sterbenden Titanen, und unwillkürlich dachte sie, dass der Nackte doch frieren musste. Wie töricht das war, aber das, was sie empfand, während sie weiter das Haus anstarrte, war nicht töricht. Es war etwas, das sie gern vergessen hätte, aber nicht vergessen würde – sie liebte dieses Haus. Es war das Haus aus ihrem Traum, und es würde sich, solange sie auch suchte, durch kein anderes ersetzen lassen.
Obwohl der Schneefall heftiger wurde und unter das Vordach wehte, hielt sie vor der Tür kurz inne. Wie oft hatte sie das Haus betreten, nicht selten gebeugt von Sorgen oder krank vor Angst. Sobald sie aber einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, war alle Last leichter geworden. Der Charme und die Wärme des Hauses hatten sie umfangen, und sie hatte bei sich gedacht: So schlimm ist es doch nicht. Mein Haus nimmt mir keiner – und für mein Haus und meine Familie werde ich es schon schaffen.
Heute war alles anders, und dass es so, wie es gewesen war, nie wieder sein würde, erfasste sie beim ersten Schritt durch die Tür. Es war nicht der Geruch, der ihr entgegenschlug, denn der war hier, in der Halle, schwach und fiel ihr erst auf, als sie schon fast die Treppe und die Tür, die zum Gang in den Küchentrakt führte, erreicht hatte. Es waren die Kälte und die Stille, eine Finsternis, die sie in Mount Othrys nie gekannt hatte, und eine Leere, die verriet, dass in diesem Haus nichts lebte. Mildreds Herz schlug ihr wie mit Hämmern bis in die Kehle, und in den Ohren begann ihr Blut wie das winterliche Meer zu rauschen. Ihre forschen Schritte verlangsamten sich, wurden zaghaft und starr. »Daphne«, rief sie mit schwachem Stimmchen, das unmöglich ihr gehören konnte. Die Schwester gab keine Antwort. »Priscilla?«, rief Mildred ein wenig lauter. »Sarah? Anne?« Wieder kam keine Antwort. Hatten sie alle miteinander Ausgang? Daphne hatte ja ein Herz wie Butter und schickte sie womöglich zum Adventssonntag heim. Aber wer kümmerte sich dann um die kränkliche Esther, doch wohl nicht die alte Nell?
Mildreds hämmerndes Herz schien abrupt zu erstarren. Wo war Nell? Wo waren Pebbles und Louis? Für die Stille der Dienstboten mochte es eine harmlose Erklärung geben, aber dass die herrschsüchtige Alte, das Kind und der Welpe nicht in der Halle auftauchten, ließ sich nicht verharmlosen. Etwas ging vor in den schweigenden Räumen, etwas, das unheilvoll und beklemmend und nicht mehr zu ändern war. Mildred brauchte all ihren Mut, um in Richtung Küchentrakt weiterzugehen. Vielleicht war dies der Moment, in dem sie den Geruch bemerkte. In viel schwächerer Form hatte sie ihn schon häufig wahrgenommen, doch die ätzenden Schwaden, die mit jedem Schritt dichter wurden, hatten damit nichts zu tun. Ehe sie husten musste, schlug sie sich ihr Schultertuch vor den Mund.
Der Drang, umzukehren, aus dem Haus zu fliehen und in Victors Kutsche im Galopp davonzufahren, war schier übermächtig. In ihrem ganzen Leben aber hatte Mildred der Wahrheit nie ausweichen können. Kannte sie sie schon, als sie die Hand auf die Klinke senkte? Im Gang, der zur Küche führte, schlugen die Schwaden sie blind. Nach Atem röchelnd stolperte sie weiter, erreichte die Tür der Hauptküche und riss sie auf.
Nein, sie hatte die Wahrheit nicht gekannt, es war keine Wahrheit, die man hätte kennen können. Das Bild, das sie trotz der betäubenden Wolken glasklar sah, schnitt sich in ihr Gedächtnis, wo es für immer bleiben und alle anderen Bilder überlagern würde. Nichts, was sie vorher gesehen hatte, hatte sie darauf vorbereitet, und alles, was sie später sehen würde, sollte dagegen verblassen. Es war der Anblick, der ihr Leben prägte.
Ihrer starken Natur war es zu verdanken, dass sie nicht das Bewusstsein verlor, sondern die Kraft fand, zu schreien und davonzulaufen, durch den Gang und die Halle und hinaus ins Freie. Sie schrie immer weiter, schrie und rannte, bis wie ein Baum Victor vor ihr aufragte und sie in seine Arme riss. Er fragte sie nichts, er hielt sie nur fest und gab ihr wieder und wieder dieselben Worte zur Antwort: »Aber ja, ich helfe dir, mein Geliebtes, natürlich helfe ich dir.«
Es dauerte endlose Momente, bis Mildred so weit gefestigt war, dass sie gehen konnte. Es half nichts, sie wussten es beide. Sie mussten ins Haus zurück. Schweigsam und Hand in Hand traten sie den Weg an, wie zwei Kinder, die eine Missetat begangen hatten und schlichen, um ihre Strafe zu empfangen. Welche Tat aber hatten sie begangen? Und welche Strafe konnte es geben, um das Getane auszulöschen? Mit jedem zitternden Schritt auf das Grauen zu wurde klarer, dass ihre Strafe lebenslang und das Grauen unauslöschlich war.
»Wir müssen sie fortschaffen«, flüsterte Mildred. »Sie können hier nicht bleiben. Hilfst du mir?«
»Aber ja doch«, flüsterte Victor noch einmal zur Antwort. »Ich helfe dir, mein Geliebtes. Natürlich helfe ich dir.«
Mehr sprachen sie nicht, und es war, als würden sie nie wieder sprechen. Über seine Wangen rannen Tränen, und sie neidete sie ihm, weil sie keine hatte.