Kapitel 9
Hoher Frühling
In einer Pause zwischen zwei Operationen rannte Hyperion hinüber zum Postamt, um Verlobungskarten an entfernt lebende Verwandte aufzugeben. Man konnte inzwischen eine Briefmarke mit dem Bild der Königin auf einen Umschlag kleben und ihn in eine der überall aufgestellten grünen Briefsäulen werfen, aber diesem seltsamen Verfahren mochte Hyperion seine kostbare Fracht nicht anvertrauen. Es ging um seine Verlobung, um Daphne, da brachte er den Stapel Umschläge lieber höchstpersönlich zur Post.
In einer der Schlangen vor den Schaltern entdeckte er Hectors Deutschen. Etwas an dem Mann berührte ihn, sooft er ihn sah. Verdankte er nicht ihm sein Glück? Hätte er nicht in der Weihnachtsnacht an seine Tür gehämmert, hätte er Daphne nie gesehen. So sehr er sich bemühte, Hyperion vermochte sich diese Möglichkeit nicht vorzustellen. Seine Sorgen waren nicht geringer geworden, er hatte noch immer für jedes Bett fünf Kranke, es starben ihm noch immer Menschen unter den Händen, die rechtzeitige Hilfe hätte retten können, und noch immer fehlte es ihm an reichen Patienten, die für die Armen mitbezahlen konnten, aber die Schuld, die er auf sich lud, hatte jetzt einen Ausgleich. Es gab einen Menschen, dem er Glück bedeutete, nicht Leid.
Und das verdankte er dem Deutschen. »Mr Victor«, rief er spontan, weil ihm der Familienname des Mannes nicht einfiel, trat neben ihn und zog seinen Hut. »Wie geht es Ihnen? Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, seit wir uns zum letzten Mal begegnet sind.«
Der Deutsche trug seine Kappe nicht mehr. »Ist kein Wunder, oder? Wir verkehren nicht in denselben Kreisen.«
»Doch, das tun wir«, widersprach Hyperion. »Wir haben sogar gemeinsame Bekannte.«
»Und wer soll das sein?« Der Deutsche sah müde aus. In beiden Händen hielt er einen prall gefüllten Beutel.
»Die Schwestern Adams, deren Bekanntschaft ich Ihnen verdanke. Miss Mildred ist derzeit in meinem Haus als Mädchen tätig, wobei sich das bald ändern wird, und Miss Daphne …«
»Warum wird sich das ändern?«, herrschte der Mann, in den mit einem Schlag Leben fuhr, ihn an. »Wollen Sie Miss Mildred etwa wieder auf die Straße setzen, nach allem, was sie durchgemacht hat? Wollen Sie sie zurück nach Milton’s Court schicken, so schlimm, wie es dort für sie war?«
»Aber nicht doch!« Hyperion hob die Hände. »Ich habe in Kürze Grund, Miss Mildred als Mitglied meiner Familie zu betrachten. Selbstredend wird sie dann nicht länger als Mädchen in meinem Haushalt leben, sondern als geschätzte Schwester und Schwägerin.« Ohne zu wissen, welcher Teufel ihn ritt, nahm er den Mann beim Arm. »Hören Sie, Victor, Miss Daphne und ich geben in der ersten Maiwoche ein Fest zu unserer Verlobung. Machen Sie uns die Freude und seien Sie unser Gast. Ohne Sie würde es schließlich dieses Fest gar nicht geben.«
Der große Mann sah ihn an, als verstünde er nicht. Hinter ihnen begannen ein paar Frauen zu kichern. »Sie verloben sich? Mit Miss Mildred?«
»Aber nein, mit ihrer Schwester, Miss Daphne. Sie haben mich doch damals zu ihr geholt, als sie mit dem Fleckfieber lag.«
»Ah!«, stieß Victor aus. Seine Züge entspannten sich. »Die arme Miss Daphne. Hat gar keine Kraft.«
»Glauben Sie mir, ich werde so gut für sie sorgen, wie es menschenmöglich ist. Versprechen Sie, dass Sie kommen?«
»Wenn Sie es wünschen. Und Miss Daphne und Miss Mildred auch.«
»Sie werden sich freuen. Von ihrer eigenen Familie kommt ja niemand.«
»Das wundert mich nicht.«
Es waren nur noch zwei Kunden vor dem Deutschen an der Reihe, und siedend heiß fiel Hyperion ein, dass er sich selbst hätte anstellen müssen. »Gehen Sie ruhig vor mich«, sagte Victor, als läse er seine Gedanken. »Ein Arzt hat es ja immer eilig, und ich habe mir eine Stunde freigenommen.«
»Um zur Post zu gehen?«
Mit unverhohlenem Stolz hob Victor den Beutel. »Die Post eröffnet heute ihre Kampagne Sparverträge für den einfachen Mann. Ich möchte zu den Ersten gehören, die ihr Erspartes in ein Sparbuch einzahlen.«
Nicht ohne Bewunderung betrachtete Hyperion den Beutel. »Ihnen liegt wohl sehr viel daran«, murmelte er lahm.
»Alles«, erwiderte Victor. »Jede Woche zahlt man in sein Sparbuch ein und bekommt eine Marke zum Einkleben. Wenn mein Buch voll ist, hole ich das Geld und kaufe mir ein Haus.«
»Sie wollen mit diesen Marken so viel Geld sparen, dass es für ein Haus reicht?«
»Es muss nicht groß sein«, sagte Victor. »Meine Schwester und ich, wir brauchen nicht viel. Sie sind an der Reihe, Dr. Weaver.« Ohne Federlesens schob er ihn vor sich. Erwartungsvoll sah ihm der Angestellte auf dem Schalterplatz entgegen.
»Oh, entschuldigen Sie.« Hyperion schob seine Umschläge unter die Scheibe. Der Angestellte zählte sie und nannte ihm den winzigen Betrag, den die Versendung kosten würde.
Mit beiden Händen fuhr sich Hyperion in die Hosentaschen. In der Früh hatte er einen Haufen Kleingeld eingesteckt, aber jetzt fand er nicht einmal einen Knopf. Dann fiel ihm der Alte ein, der für sein Antiphlogistikum nicht hatte bezahlen können, und die Frau mit den Zwillingen, denen er Geld für die Suppenküche mitgegeben hatte. Der Angestellte wiederholte den lachhaften Betrag.
Hyperion, dem klar war, dass er keinen Penny finden würde, konnte nicht aufhören, in seinen Taschen zu wühlen. Was, wenn jemand, der ihn kannte, zu Daphne davon sprach? Hatte er sich nicht geschworen, Daphne jegliche Sorge zu ersparen? Seine Wangen glühten. Er öffnete den Mund, wusste aber nichts zu sagen.
»Lassen Sie mich das machen.« Der Deutsche, der, wie er sich jetzt besann, Victor März hieß, zog seinen Geldbeutel auf und ließ Münzen auf die Theke purzeln. »Stimmt es so? Genügt es für die Briefe?«
»Ich gebe es Ihnen zurück«, stammelte Hyperion. »Ich habe wohl heute in der Früh meine Börse vergessen …«
»Betrachten Sie es als Geschenk«, entgegnete der Deutsche schlicht. »Ein Verlobungsgeschenk von einem Mann, der nicht viel hat. Bitte grüßen Sie doch Miss Mildred. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das für mich täten.«
Als Hyperion heimkam, wurde es eben dunkel. Er war noch bei Daphne gewesen und erst aufgebrochen, als sein Gewissen ihn drängte. Ewig konnte er sich nicht drücken, es war des Mannes, der Daphne Adams heiraten durfte, nicht würdig. Irgendwann musste er mit seiner Großmutter sprechen. Irgendwann musste er aufhören, im Zickzack durch die Stadt zu laufen, um seinem Bruder auszuweichen.
Vor dem Portal stand Mildred und fegte die Treppe. Ein Anblick für Götter. Hatte sie nicht zugelegt, seit sie auf Mount Othrys lebte, und gab es eine Haube, die ihre Massen von Haar im Zaum hielt? Er blickte auf, um statt ihr beim Besenschwingen dem alten Kronos beim Sterben zuzusehen. »Sie sollten das nicht tun«, sagte er.
Sie hielt inne. »Tue ich es nicht zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Doch, Mildred, sogar sehr.« Ein Seufzer entfuhr ihm. Hier hatte er ein weiteres Problem an der Hand und wusste nicht einmal, worin es bestand. »Es erscheint mir nur nicht richtig, Sie solche Arbeiten machen zu lassen.« Wenn deine Schwester wüsste, dass ich dich noch immer als Dienstmagd halte, wäre sie entsetzt.
»Sie bezahlen mich dafür«, erwiderte Mildred, ging aber zwei Stufen hinauf und lehnte den Besen an die Hauswand. »Trotzdem haben Sie recht. Es ist nicht richtig so.« Sie sah ihm geradewegs ins Gesicht. Empört, als würde er ihr etwas schulden, und ehe er sich’s versah, war ihm ein Lächeln entglitten.
Er setzte sich auf die Treppe und klopfte auf den Platz neben sich. »Haben Sie Zeit? Ich hätte Ihnen etwas zu sagen.«
Skeptisch musterte sie ihn. »Ich weiß, es schickt sich nicht, dergleichen in den Mund zu nehmen«, sagte sie. »Und mich geht es auch nichts an, denn es ist ja Ihr Hosenboden, den Sie sich ruinieren, aber bemerkt haben wollte ich es doch.«
Verblüfft erwiderte er ihren Blick, dann lachte er schallend los. »Tun Sie mir eine Liebe, Mildred, ruinieren Sie sich den Hosenboden mit mir.«
Sie schnaubte und warf den Kopf mit dem schönen Haar zurück.
»Verzeihen Sie.«
Er wollte sich gerade erheben, da sprang sie die fehlende Stufe hinunter und setzte sich an seine Seite. Er vernahm ihren heftigen Atem, ihr ganzer Körper bebte. »Danke«, sagte er.
»Da ist nichts zum Danken.«
Sie schauten beide hinunter auf den Stein, als fänden sie nicht mehr den Mut, einander anzusehen. »Ich möchte nicht länger, dass Sie in diesem Haus die Arbeit einer Magd verrichten«, sagte Hyperion. »Ich gebe Sarah und Priscilla Bescheid.«
»Und was möchten Sie, dass ich tue?«
Händeringend suchte er nach einer Antwort. »Das, was eine Schwester täte«, sagte er schließlich, wusste aber, dass etwas daran ganz und gar nicht stimmte.
»Ich bin nicht Ihre Schwester«, bemerkte Mildred. »Es würde das Leben erleichtern, wenn jeder wüsste, was ich bin.«
Hatte ihr Daphne geschrieben, war sie schon eingeweiht? »Selbstverständlich«, sagte er eilig. »Am Wochenende spreche ich mit meiner Großmutter. Sie haben mein Wort darauf.«
»Das ist gut«, murmelte sie. »Heute nämlich kam der Fischmann und verlangte Geld, aber Sarah war auf dem Markt. Ich hab ihm nichts geben und ihm auch nicht sagen können, er habe gefälligst zu warten, weil ich ja niemand bin. Also hat er den Fisch wieder mitgenommen, und es ist nichts zum Freitag im Haus.«
»Der Fischmann hat sein Geld verlangt? Wird der denn nicht am Monatsersten im Voraus bezahlt?«
»Wie soll ich das wissen?« Ein wenig pikiert zuckte Mildred mit den Schultern. »Stünde ich diesem Haushalt vor, würde ich über alles Buch führen. So jedoch sagt mir kein Mensch, was vor sich geht.«
Das war dreist, aber ihm gefiel es. Womöglich wäre es ein Segen für den Haushalt, wenn sie ihm vorstünde. Die Sache mit dem Fischhändler musste er in Ordnung bringen. War er ehrlich, so hatte er keine Ahnung, was sonst noch im Argen lag, doch er war entschlossen, das zu ändern. Wenn demnächst sein Quartalsanteil aus dem Holzhandel fällig war, würde er sich einen Überblick über die Konten verschaffen und an faulen Stellen für Ausgleich sorgen.
Und als Nächstes brauchte er dringend mehr betuchte Patienten. Anschaffungen würden nötig sein, und an seiner Hochzeit wollte er nicht sparen. Das Spital würde eben häufiger auf ihn verzichten müssen, damit es Daphne an nichts fehlte. Sie hatte ihm erzählt, wie sie als Kind aus Furcht vor Geldeintreibern nicht hatte schlafen können, und eine solche Erfahrung sollte ihr für den Rest ihres Lebens erspart bleiben.
»Dr. Weaver?« Leicht stieß ihn Mildred mit dem Ellbogen. »Ich habe wohl etwas Falsches gesagt.«
»Nein, überhaupt nicht. Ich muss schon wieder um Verzeihung bitten. Mir sind die Gedanken davongaloppiert.«
»Das muss schön sein.«
»Was?«
»Galoppieren«, antwortete Mildred träumerisch. »Auf einem Pferd reiten, und die Leute unter einem sind klein und weit weg.«
»Finden Sie das wirklich schön? Ich finde es anstrengend, aber wenn Sie Lust darauf haben, sorge ich dafür, dass Sie zum Reiten kommen.«
Jetzt sah sie ihn an. Ihre Augen glänzten. »Meinen Sie das ernst?«
»Todernst.« Er lächelte. »Versprechen Sie mir, dass Sie sich nicht den Hals brechen, wenn so ein Gaul mit Ihnen losprescht. Ihre Schwester würde mir im Leben nicht verzeihen.«
»Meine Schwester hat Angst vor Pferden.«
»Ich auch.«
Sie wandte den Blick nicht von ihm. »Dr. Weaver …«
»Hören Sie«, bat er, »können Sie sich wohl dazu durchringen, mich Hyperion zu nennen? Ich weiß, es ist kein sehr gefälliger Name, und als Omen ist er geradezu fatal, aber meiner Mutter gefiel er. Wie gesagt, sie hatte eine Schwäche für das in Schönheit Sterbende.«
»Mir gefällt er«, unterbrach sie ihn. »Warum sollte jeder John oder Harry heißen, und was ist falsch daran, wenn der Name eines Mannes seinen Stand und seine Bildung verrät?«
Schon wieder war ihm zum Lachen zumute. »Also abgemacht?« Er hielt ihr seine Hand hin, und sie schlug mit ihrer sehnigen, festen Hand ein. Im Aufstehen fiel ihm etwas ein. »Ich soll Sie übrigens von jemandem grüßen.«
»Von wem?«
»Von Victor März.«
Sie sah zu ihm auf. »Den kenne ich nicht.«
»Aber natürlich kennen Sie ihn«, entgegnete Hyperion. »Es ist der bemerkenswerte Deutsche, der bei meinem Bruder arbeitet. Er hat mich damals geholt, als Daphne krank war, und heute habe ich ihn auf dem Postamt getroffen, wo er sich ein Sparbuch ausstellen ließ. Er hat mich gebeten, Sie von ihm zu grüßen.«
Im Zwielicht funkelten ihre Augen. »Den kenne ich nicht«, wiederholte sie und stand auf. »Mit solchen Kerlen hab ich nichts zu schaffen, und wenn der noch einmal zu Ihnen von mir spricht, dann wünsche ich, dass Sie ihn in die Schranken weisen.«
»Was hast du denn erwartet? Dass ich dir wie als grünem Bürschlein ein paar an die Ohren verpasse? Wahrhaftig, manchmal hätte ich nicht übel Lust dazu, aber was damals nicht half, nützt auch heute nichts mehr, also spare ich mir die Mühe.«
Wahrscheinlich hätte Hyperion sich an diesem Abend abermals vor dem Gespräch mit seiner Großmutter gedrückt, aber die alte Dame hatte ihn an der Treppe abgefangen. »Meinst du nicht, es wird Zeit?«, hatte sie gefragt und war ihm voraus in ihr Altenteil stolziert. Dass eine zierliche Frau von gut achtzig Jahren noch immer wie ein Feldwebel stapfte, würde nicht aufhören ihn zu verblüffen. Als Kind hatte er sie gefürchtet. Ihre Ohrfeigen, die sie ihm mit dem Handrücken verpasste, als wäre ein Subjekt wie er die Fläche ihrer Hand nicht wert. Seinem klopfenden Herzen nach fürchtete er sie heute kaum weniger.
Daran, dass er kein mutiger Mann war, hatte er sich gewöhnt. Aber für Daphne wollte er es sein, seine Daphne verdiente keinen Zauderer. »Ich werde mich verloben«, stieß er atemlos aus, kaum dass sie in Nell Weavers Salon standen.
Statt sich zu setzen, trat seine Großmutter zum Kamin und wies auf die Karte auf dem Sims. »Darüber bin ich im Bilde. Nur nahm ich an, es schicke sich, seine engste Verwandte persönlich von solcher Neuerung zu unterrichten.«
Was hatte er erwartet? Ohrfeigen, Tadel, am Ende ein Verbot? Du bist ein Mann, beschwor er sich. Du wirst Daphne Adams heiraten, und kein Mensch auf der Welt kann es dir verbieten. Eine Antwort aber gab er ihr nicht.
»Es mag dich überraschen«, fuhr seine Großmutter, die sich endlich in einen Sessel gesetzt hatte, fort. »Du hast vermutlich geglaubt, ich würde vor Wut über deine Mesalliance toben, aber was ich vornehmlich empfinde, ist Erleichterung. Wir sind von dir ja Kummer gewohnt, und um ehrlich zu sein, war ich lediglich froh, nicht das größere von zwei Übeln ertragen zu müssen. Mich plagte nämlich seit Wochen die Furcht, du könntest auf den Gedanken kommen, diese Mildred zum Altar zu führen.«
Hyperion fuhr zusammen. Was würde Daphne dazu sagen, dass er ihre Schwester ohne Widerspruch beleidigen ließ? »Miss Mildred ist ein liebenswerter Mensch«, rang er sich ab und fand, er hätte sich dümmer nicht ausdrücken können.
»In der Tat«, erwiderte seine Großmutter ungerührt. »Liebenswert wie eine Londoner Kanalratte. Dass du solche Kreaturen hätschelst, ist ja nichts Neues. Dass die aber nicht nur die Hand, die sie füttert, beißen, sondern hemmungslos über Leichen gehen, solltest du zumindest im Gedächtnis behalten.«
»Großmutter …«
Sie hob die Hand. »Lass es dabei. Ich möchte über diese Natter an unserem Busen nur sprechen, wenn es unumgänglich wird.« Kurz darauf erschien Priscilla, um nach Nells Wünschen zu fragen. Sie sah müde aus. Das Haus brauchte mehr Personal. Im Stillen beschloss Hyperion, Daphnes Einzug noch einmal zu verschieben, bis er diese Dinge geregelt hatte. Sie würde traurig sein, aber sie würde ihm kein hartes Wort geben. Es sollte, so schwor er sich, das letzte Mal sein, dass er sie enttäuschte.
Seine Großmutter bat um einen Sherry und ließ für Hyperion einen großen Brandy einschenken. »Ich denke, du hast ihn nötig.«
»Du wirst Daphne mögen«, sagte er. »Sie ist Mutter ähnlich.«
Nell sog Luft ein. »Deine Mutter war eine Dame. Und zwar eine, wie ich sie kein zweites Mal zu Gesicht bekommen habe.«
»Daphne ist auch eine Dame. Dass jemand anderes behauptet, erlaube ich nicht.«
Ihr Blick schien ihn zu packen. Mit ihren achtzig Jahren sah sie noch immer scharf wie ein Adler und benötigte keine Augengläser. »Hört, hört«, bemerkte sie.
»Ich weiß, was du denkst«, begann er.
»Weißt du das wirklich?« Ihr Unterton war nicht zu deuten. »Wenn du mich fragst, ist es einem Mann unmöglich zu wissen, was eine Frau denkt. Ja, auch dir, und wenn du hundertmal das Teufelszeug von diesem Darwin liest, der schreibt, dass wir alle Affen sind und auf Bäumen hausen sollten. Um zu wissen, was Frauen denken, müssten Männer ihnen ein Denken erst einmal zugestehen, und das brächte ihre Welt ins Wanken. Lassen wir das also und kommen zum Thema zurück.«
Von welchem Thema war die Rede gewesen? Weshalb fiel es ihr so leicht, ihn zu verwirren und ihm Gedanken aufzuzwingen?
Die Miene, zu der sie den Mund verzog, war beinahe ein Lächeln. »Ich werde dir sagen, was ich denke. Ich denke, deine Mutter war ein Gottesgeschenk. Ich liebte sie sehr, und ihr Verlust ist eine wahre Tragödie. Dass das Bräutchen, das du uns ins Haus holst, ihr ähnlich ist, halte ich dennoch nicht für ausgeschlossen. Da mein Enkel sich ja in Schweigen hüllte, habe ich Erkundigungen eingezogen. Tatsächlich wagte auch Louise Vernon den Vergleich mit Amelia, und wenn dem so ist, kann ich dir kaum einen Vorwurf machen.« Ihrem Schweigen war anzumerken, dass sie nicht fertig war, sondern nur eine Pause einlegte, um sich zum nächsten Angriff zu wappnen. »Amelia war ein Segen«, fuhr sie wie erwartet fort, »und deine Daphne mag ebenfalls einer sein. Aber Amelia war schwach. Wenn deine Daphne ihr tatsächlich ähnlich ist, wird sie ihr darin nicht nachstehen.«
Hyperion sprang auf. »Wie kannst du so von meiner Mutter sprechen? Hast du nicht eben behauptet, du hättest sie geliebt? Kannst du an irgendeinem Menschen ein gutes Haar lassen, oder gilt in Wahrheit für dich, was du Charles Darwin unterstellst, wünschst du uns alle auf die Bäume?«
»Nicht übel, Freundchen.« Seine Großmutter hob die Brauen. »Wenn die Dame Daphne auch nur ein Fünkchen vom Mumm deines Vaters aus dir herauslockt, verdient sie Beifall. Geh, regle deine Belange, lass dir ein paar ordentliche Hemden schneidern. Vielleicht kommst du ja aus dem verdreckten Siechenheim heraus, wenn du dich anschickst, den Bräutigam zu spielen.« Als Hyperion sich nicht rührte, vollführte sie die Handbewegung, mit der sie ihn als Knaben aus dem Zimmer geschickt hatte. »Na wird’s bald, die Höhle des Löwen gibt dein Haupt wieder frei. Im Übrigen habe ich die strittige Aussage nicht getätigt, um deine Mutter zu schmähen, sondern weil ich es für nötig hielt, dich zu warnen.«
»Wovor?«
»Nun, Amelia war schwach, und deine Daphne ist es fraglos nicht minder. Aber Amelia durfte es sein, denn der Mann, den sie geheiratet hatte, war stark genug für zwei.«
In dieser Nacht konnte Mildred nicht schlafen. Es war so weit. Viel schneller, als sie in ihren kühnsten Träumen erhofft hatte. War es nicht gut, dass sie ihn gedrängt hatte? Bei einem so vornehmen Mann, der niemanden vor den Kopf stoßen wollte, wirkte ein wenig Härte Wunder.
Sie war zornig auf ihn gewesen, weil er mit Daphne Geheimnisse hatte. Tagelang hatte ihr Zorn sie gequält, und sie hatte ihm die Qualen heimzahlen wollen, aber wieder einmal war es ihr unmöglich, ihm weh zu tun. Als er auf den Stein klopfte, damit sie sich neben ihn setzte, als er mit seinem zerknirschten Lächeln um Verzeihung bat, war es um ihre Entschlossenheit geschehen. Mildred kannte die Zeichen, die verrieten, dass ein Mann eine Frau begehrte, sie hatte sie hundertmal gesehen, sie aber an Hyperion zu erleben setzte ihr Herz in Brand. Mit aller Kraft hatte sie sich gewünscht, Mount Othrys zu besitzen, nie mehr arm zu sein und Daphne die Welt zu kaufen, doch als sie in der Abendsonne sein Gesicht sah, wünschte sie sich nur noch ihn, sonst nichts.
Dabei war das natürlich Unsinn. Warum sollte sie nicht Hyperions Liebe haben und ein gutes Leben obendrein? Hatte sie nicht hart genug darum gekämpft? Sie wollte es Daphne erzählen. Wann kam Daphne endlich nach Hause, um zu erfahren, dass ihre Welt eine andere geworden war? Wäre sie enttäuscht, wenn Mildred ihr sagte, dass sie nun doch nicht nach Australien segelten? Mit ihrer angeschlagenen Gesundheit wäre Daphne für die Reise ohnehin nicht stark genug gewesen, sie wäre in der Wärme von Mount Othrys am sichersten aufgehoben. Und was die Liebe eines Mannes betraf, so war Daphnes empfindliche Natur mit Romanen weit besser dran als mit der Wirklichkeit.
So viele Bilder und Zukunftsträume schwirrten Mildred durch den Kopf und hielten sie wach. Kurz vor dem Morgengrauen beschloss sie, es mit dem Schlaf nicht länger zu versuchen, stand auf und begann im ersten Tageslicht ihre Wäsche auszubessern, wozu sie seit Tagen nicht gekommen war.
Als sie nach oben ging, schoss aus der Küche Sarah auf sie zu und teilte ihr in steifem Ton mit, ihr Frühstück sei im Morgenzimmer aufgetragen. Mildred verbiss sich jede Erwiderung und verhielt sich, als würde sie jeden Tag in dem lichtdurchfluteten Raum speisen, an dem Tisch, an den Hyperion und seine Großmutter sich zum Essen setzten. Sie sah hinaus in den blühenden Garten und versuchte zu begreifen, dass der Tag, der vor ihr lag, gänzlich ihr gehörte, dass sie damit anfangen konnte, was ihr beliebte, und dass von nun an in endloser Folge solche Tage vor ihr lagen.
Sie hätte ihn mit Nichtstun verbringen können, aber dazu war sie nicht gemacht. Im Gegenteil, sie hatte vor, sich in den Ablauf des Haushalts Einblick zu verschaffen und sich, was sie nicht konnte, anzueignen. Ehe sich’s jemand versah, würde Mildred Adams die Zügel übernehmen. Mildred Weaver, korrigierte sie sich, trank Tee und lächelte still in sich hinein.