Kapitel 38
Februar 1884
Was Frederic Ternan sich für sein Grandhotel Victoriana bauen ließ, war an den sonnigen Küsten von Frankreich und Italien der letzte Schrei – eine Dachterrasse. Ternans Sohn, der im Auftrag des Vaters jene Länder bereiste, hatte Zeichnungen mitgebracht, und der Vater hatte beschlossen, seinen Gästen ein solches mediterranes Paradies in Southsea am Solent zu bieten. Es gab genügend Stimmen in der Stadt, die höhnten, Ternan verliere nachgerade den gesunden Menschenverstand und glaube, er könne englischen Regen in italienisch blauen Himmel verwandeln. Der alte Fuchs aber hatte mit dem Wetter so sehr gerechnet wie mit der Statik und dem Kostenaufwand. Seine Gäste würden zwischen Palmen unter einem Himmel sitzen, der ewige Trockenheit garantierte. Auf das Dach seines ohnehin gigantischen Hotelkomplexes setzte er eine schillernde gläserne Kuppel.
Der Anblick war atemberaubend. Hector, der derlei nach den Sternen greifende Projekte liebte, hatte Ternan gefragt, ob er sich die Bauarbeiten ansehen dürfe, und Ternan hatte ihn auf einen Sherry eingeladen. Natürlich gab es einen anderen – handfesten – Grund, dessentwegen er Ternan sprechen wollte, aber die Dachterrasse war der Spritzer Sahne auf der Suppe.
Die Kuppel der Vorderfront war bereits komplett errichtet, und Ternan hatte Pflanzkübel, Tische und Stühle aufstellen lassen, damit Hector sich ein Bild machen konnte. Das in den Boden eingelassene Mosaik in Blautönen beschwor einen sanften Nachmittag im Schatten des Vesuv, und die Palmwedel schwangen sachte wie im südlichen Wind, während sich hinter dem Glas das eisengraue, sturmgepeitschte Meer erstreckte. Der Kontrast war überwältigend. Hector war dermaßen hingerissen, dass er sich wünschte, er hätte die tollkühne Idee gehabt und in die Tat umgesetzt. Der Bau musste ein Vermögen verschlungen haben, und die Werbeplakate, die Ternan überall auf der Insel aufhängen ließ, kosteten noch einmal das ihre, aber war ein solcher Triumph des Wagemuts nicht allen Aufwand wert?
Hector war glänzender Laune. »Sehr schön, bester Ternan«, lobte er großmütig, »das nenne ich einmal einen Einfall.«
»Es freut mich, wenn es Ihnen gefällt«, erwiderte Ternan, von jeher ein reichlich blutleerer Stoffel. Der Mann war gelb im Gesicht. Es hieß, er sei nicht gesund.
»Wissen Sie, was Sie hier oben noch brauchen?«, begann Hector, denn deshalb war er gekommen. »Sanften Lichtschein wie von den Lampions eines südlichen Festes. Sie brauchen eine durchgehende Gaslichtanlage, und ich kann Ihnen dafür eine maßgeschneiderte Ausrüstung liefern. Große Architektur erfordert große Technik. Wo beides zusammenkommt, entsteht Kunst.«
Er freute sich noch am Nachhall seiner Rede, als der Sohn kam, Andrew. Der letzte Mensch, den er hier sehen wollte. In letzter Zeit ertrug er Väter und Söhne nicht mehr, ihm wurde von deren Anblick geradezu übel. Womit hatte dieser bessere Zimmerwirt einen derart wohlgeratenen Sohn verdient? Andrew, der Mitte dreißig sein musste, war seinem Vater treu ergeben, machte sich prächtig im Geschäft und betrug sich höflich und gesittet, wie es nur Menschen mit hervorragender Erziehung taten. Hatte nicht Hector seine Kinder so erziehen wollen? Stattdessen waren sie ihm beide missraten, lebten mit Volk von der Straße und gaben ihren Vater der Lächerlichkeit preis. Dass der Sohn ihm noch die Tochter verdorben hatte, Nora, das bleiche, willenlose Ding, würde er ihm eines Tages heimzahlen.
Alles würde er ihm eines Tages heimzahlen, selbst Bernices Geheule wegen der verwünschten Hochzeit, und sich am Leid des Sohnes weiden, bis die Wunde in seinem Innern nicht länger brannte. Wie viele Wunden in seinem Innern konnte sich ein Mann eigentlich zuziehen, ehe er verblutete? Sein Bruder, der Quacksalber, hätte darauf gewiss eine Antwort gewusst.
Um seiner Wut Luft zu machen, strafte er Ternans Sohn mit Nichtachtung. Dieser blieb höflich und gelassen. »Wir waren bei Ihrer Gasleitung«, nahm Hector den Faden wieder auf. »Die müsste natürlich grundlegend erweitert werden. Mir schwebt da ein ganz neues Prinzip vor …«
»Bitte entschuldigen Sie, Mr Weaver«, unterbrach ihn der Sohn. »Wir dachten, wir begnügen uns hier oben erst einmal mit Öl, sehen, wie die Gäste die Einrichtung annehmen, und warten ab, was die neuen Technologien bringen.«
»Ich rede mit Ihrem Vater«, blaffte Hector, dann aber hielt er inne. »Was für neue Technologien?«
Über das Gesicht des jüngeren Mannes ging ein Leuchten, und der ältere gab für ihn die Antwort: »Andrew schwört auf die Zukunft der Elektrizität«, erklärte Ternan senior blutleer, doch nicht ohne Stolz. »Das ist so, nicht wahr, Andrew?«
Der Sohn, als wäre er nicht gewohnt, dass der Vater ihn ansprach, fuhr zusammen. »Ja, so ist es«, bestätigte er. »An der Hartley Institution machen sie hochinteressante Versuche. Einen Raum von dieser Größe mit Generatoren auszuleuchten ist im Grunde kein Problem mehr.«
»Neumoderner Unsinn«, schnitt ihm Hector das Wort ab und konnte nicht glauben, dass wirklich er das gesagt hatte. War er nicht Anbeter und Diener des Fortschritts gewesen, solange er lebte, war er es nicht noch immer? Wütend betrachtete er Andrew Ternan. Hatte der Kerl überhaupt eine Ahnung, wovon er sprach? Elektrizität war ein komplexes Feld, auf das sich selbst Physiker zumeist nur unzureichend verstanden. Sein Sohn hatte dafür bereits zu Schulzeiten Preise gewonnen, Andrew Ternan hingegen glotzte vor sich hin wie ein Rindvieh. Sein Gesicht – weder hässlich noch schön – war so nichtssagend, dass man es gleich wieder vergaß, und seine Stimme war das reinste Schlafmittel. Jäh überfiel Hector ein Gefühl, das er nicht beim Namen kannte, das aber so stark war, dass er nach seinem Glas griff und den blassen Sherry in einem Zug hinunterstürzte.
Auf dem freien Stuhl neben dem Langweiler Andrew hätte sein Sohn sitzen sollen, eine satanisch schwarze Braue wölben und eine unverschämte, aber ins Schwarze treffende Bemerkung fallenlassen. Glaubst du, ich würde meinen missratenen Sohn tauschen gegen deinen Waschlappen?, hätte er Ternan ins Gesicht werfen mögen.
Ehe die Wucht des Gefühls ihn übermannte, fiel ihm die Gasleitung wieder ein. »Vielleicht könnten wir jetzt zum Geschäftlichen kommen«, wandte er sich an den Senior, als wäre der Junior noch ein Kind und bei dieser Zusammenkunft fehl am Platz. »Wenn Sie die Beleuchtung bis zum Saisonbeginn installiert haben wollen, werden wir uns besser schnell über die Einzelheiten einig, denn derzeit werde ich wieder einmal mit Aufträgen überschüttet.« In Wahrheit ging die Zahl seiner Aufträge zurück, und was sich erhöhte, war nur der Preis für das ewige Wegerecht.
»Ich gratuliere«, sagte Ternan. »Dass es den Unternehmern unserer Stadt wohl ergeht, hört man gern.«
»Ich habe wahrlich keinen Grund zur Klage«, erwiderte Hector bescheiden. »Aber für einen treuen Kunden wie Sie schaufle ich natürlich etwas frei.«
»Danke, doch das ist nicht nötig«, mischte der Sohn sich ein. »Wir begnügen uns vorerst mit dem, was wir haben.«
»Wenn ich die Meinung eines grünen Jungen hören will, frage ich meinen eigenen!«, platzte Hector heraus. Der hat mehr Hirn und mehr Biss als du, verkniff er sich mit Mühe. Und wenn er hundertmal verstockt, unlenkbar und dem Wahnsinn nahe ist.
»Hören Sie, Mr Weaver, es liegt uns fern, Sie verärgern zu wollen.« Ternan senior war aufgestanden. »Aber Sie sehen ja, wir haben uns ordentlich verausgabt. Da ist jetzt erst einmal Sparsamkeit vonnöten, wie Sie verstehen werden …«
»Ach was, die paar Kröten spielt Ihnen Ihr Glaspalast doch im Handumdrehen wieder ein!« Hector sprang ebenfalls auf. »Wozu haben Sie denn nach beiden Seiten erweitert, wenn nicht, um in dieser Saison das Geschäft Ihres Lebens zu machen?«
»Wir hoffen darauf. Aber die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht, Mr Weaver.«
»Konkurrenz, papperlapapp, wer soll denn der Pracht hier Konkurrenz machen? Mount Othrys etwa? Dass ich nicht lache! Es würde mich nicht wundern, wenn es, sobald Ihre Werbung einmal greift, überhaupt kein Mount Othrys mehr gibt.«
»Im Hotelgeschäft regieren eigene Gesetze«, erwiderte Ternan knapp. »Treue zum Beispiel. Da muss man jetzt erst einmal abwarten. Ich bitte, uns zu entschuldigen. Wir haben ein Treffen mit unserem Bauleiter.«
Warf der Kerl ihn etwa hinaus? Hector schnappte nach Luft. »Sie sollten über diese Sache nicht leichtfertig entscheiden«, warf er hastig hin, während Vater und Sohn schon zur Treppe strebten. »Wie wäre es, wenn wir einen neuen Termin ausmachen würden, um in Ruhe über alles zu reden?«
»Meinen Sie, das ist notwendig?«, fragte Ternan nebenher. »Wir sehen uns doch sicher in vier Wochen auf dem Frühlingsball in Mount Othrys. Falls es bis dahin etwas zu besprechen gibt, können wir es ja dort erledigen.«
»Auf was für einem Frühlingsball?« Natürlich wusste Hector nur allzu gut, worum es sich handelte, die ganze Stadt sprach ja von nichts anderem. Die formidable Mildred gab einen Ball für ihre Tochter Phoebe. Je farbloser das Mädchen, desto aufwendiger die Maßnahmen, um es an den Mann zu bringen. Hector hätte über so viel Einfalt lächeln mögen, doch der Versuch dazu blieb ihm im Halse stecken. Die Frau, die sich seine Schwägerin nannte, hatte die Frechheit, jeden einzuladen, der in der Stadt einen Hosenknopf besaß, aber den eigenen Schwager zu übergehen.
Früher hätte die gute Gesellschaft von Portsmouth solchen Affront nicht geduldet. Aber wo war sie, die gute Gesellschaft von Portsmouth, wo gab es die denn noch? Sein Sohn hatte es vorgemacht, und mittlerweile war es offenbar salonfähig geworden, Hector Weaver zu düpieren. Und das, wo noch immer die lukrativsten Geschäfte zwischen Ballsaal und Rauchzimmer abgeschlossen wurden!
»Nun, in Mount Othrys«, hatte Ternan längst geantwortet, doch erst jetzt war Hector fähig, zu reagieren.
»Sie haben doch wohl nicht ernsthaft vor, sich dort sehen zu lassen?«
»Warum denn nicht?« Ternan schien verwundert. »Ich mache mir aus solchen Tanzvergnügen ja wenig, aber es gehört nun einmal zum guten Ton, und außerdem würde ich schon um meines Sohnes willen gehen.«
Dort also lag der Hase im Pfeffer! Abfällig betrachtete Hector noch einmal den jungen Andrew, der weder wirklich jung noch in der Lage war, das Herz eines Mädchens in Flammen zu setzen. Dazu braucht es einen Kerl wie meinen Horatio, eine Prise schwarze Verdorbenheit. Offenbar spekulierten Ternan und Mildred darauf, das Sauerbier Andrew und das Mauerblümchen Phoebe zu verbandeln. Wenn das gelang, wenn Mount Othrys sich mit diesem Giganten vereinte, hätte Mildred ihre Schäfchen im Trockenen. Aber es würde nicht gelingen, dafür würde Hector sorgen. Wozu war Portsmouth schließlich Garnisonsstadt, wozu liefen hier in Scharen Offiziersanwärter herum, die das Geld für ihre Patente verspielten und in ihren Uniformen viel mehr hermachten als Andrew Ternan? Auf einmal hatte Hector es mindestens so eilig, das Victoriana zu verlassen, wie seine Gastgeber ihn loswerden wollten.
Die Kommandantur der Marine gehörte zu seiner Kundschaft. Er hatte Kontakte dort, die bis in die Zeit des Holzhandels zurückreichten. Es würde nicht schwer sein, einen geeigneten Kandidaten ausfindig zu machen. Noch weniger schwer war es, den Mann auf Mildreds Ball einzuschleusen, und wenn er dazu seinen Schwager Lewis um Hilfe bitten musste. Auf der Fahrt nach Portsmouth arbeitete er seinen Plan aus. In ein, zwei Gesprächen hätte er seine Bombe bereitet und würde nur noch zu warten haben, bis sie zündete.
Zuvor wollte er noch etwas anderes tun. Dass er wieder einmal einen Brief schreiben würde, war ihm bei den Ternans klargeworden, als er den Blick von Andrews dümmlichem Gesicht nicht hatte abwenden können. Wenn Ternans Dachterrasse erst anfing Mount Othrys Gäste abzuziehen, würde der Druck, der auf Mildred lastete, beträchtlich wachsen, und Hector hatte vor, dem noch eine Kleinigkeit hinzuzufügen. Mildred war vieles, aber eines war sie nicht, eine beherrschte Frau. Sobald sie sich in die Ecke gedrängt sah, würde sie eine Dummheit begehen, und er hätte ein wenig Genugtuung davon.
Die Gewürzinsel stank wie eh und je. Schalentiere, die im Hafenschlamm schwappten, Kadaver von Geschlachtetem und Ausscheidungen von Mensch und Tier vereinigten sich zu dem Aroma, das Hector nie reizlos gefunden hatte, weil es verriet, wie die sich zierende Welt wirklich war – hässlich, verkommen und gemein. Eine Brutstätte von Seuchen und Verbrechen. In London musste es noch schlimmer sein, denn es gab Londoner, die hierher in den Urlaub reisten. Eines Tages wollte Hector hinfahren, heimlich, ohne dass eine Seele etwas ahnte, und bei Nacht und Nebel durch das berüchtigte Whitechapel streifen. Das Sodom und Gomorrha der modernen Welt, die Büchse der Pandora, der alle Hoffnung entflogen war.
An der Rezeption der Pension ließ er sich anmelden. Das appetitliche Mädchen, das März hier platziert hatte, war in die Jahre gekommen. Wie wir alle. Wo war das Gefühl der Jugend und der Spannkraft hin, das er vor kurzem noch verspürt hatte? Seine Kinder hatten es geraubt und mitgenommen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis März auftauchte. Hector hatte ihn eine Zeitlang nicht gesehen. Der Deutsche war auch gealtert und wirkte übernächtigt, doch noch immer versetzte seine Schönheit ihm einen Stich. »Oh, Mr Weaver«, murmelte März, der sich jetzt March nannte. »Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Miss Ralph – Sie erinnern sich doch an sie? – Miss Ralph ist nicht gesund. Schon seit Weihnachten nicht.«
Das Letzte, über das Hector sprechen wollte, war die kleine Schlampe, mit der März seit einer Unzeit in wilder Ehe lebte, und das teilte er ihm auch unmissverständlich mit. »Ich bin gekommen, um Ihnen ein Angebot zu machen – eine Gelegenheit, wie man sie nur einmal bekommt. Packen Sie sie beim Schopf oder lassen Sie sie verstreichen, das liegt allein bei Ihnen. Waren Sie schon drüben beim Victoriana, haben Sie das gläserne Elysium gesehen, das dort entsteht? Was meinen Sie, welches Hotel in Portsmouth kann damit in Zukunft mithalten?«
»Mich betrifft das nicht«, erwiderte März. »Wer bei mir logiert, kann sich das Victoriana nicht leisten.«
»Und das soll immer so bleiben, März? Wollen Sie sich bis ans Ende Ihrer Tage krumm schuften, um ein paar Hungerleidern Pennys abzunehmen? Sie sind doch ein Mann mit Ideen, ich habe immer gedacht, Sie machen eines Tages Mount Othrys Konkurrenz. So was wie diese Dachterrasse – das hätte im Grunde von Ihnen kommen müssen.«
»Auf mein Haus passt keine Dachterrasse«, entgegnete März, als wäre er in Gedanken weit fort. »Abgesehen davon habe ich auch nicht die Mittel, mir eine zu bauen.«
»Sie haben recht, auf dieses Haus passt keine. Aber passen Sie denn noch zu diesem Haus? Haben Sie sich nicht allmählich ein anderes verdient?«
»Ich bin zufrieden«, murmelte März, und Hector erkannte, dass er im falschen Augenblick gekommen war, dass die verfluchte Ralph oder wie sie hieß die Gedanken des Deutschen mit Beschlag belegte. Aber das würde nicht lange dauern. Dass es höchstens Gewohnheit und Mitleid, nicht aber Liebe und Leidenschaft waren, die ihn an das Flittchen banden, wusste keiner besser als Hector. Wenn sie starb, würde er sie vergessen und sich erinnern, dass es drüben in Southsea noch immer Mildred Adams gab. Nicht mehr jung, aber von einem Feuer, das die meisten der Jungen niemals kennenlernen würden. Frauen wie Mildred konnten noch so eifrig die biedere Matrone spielen, das Herz einer Straßendirne brach sich immer wieder Bahn. Das war der Grund, weshalb man Frauen wie Mildred im Blut sitzen hatte bis zum Tod.
Victor März würde sich darauf besinnen, dass er in Wahrheit keine als Mildred wollte. Mildred besitzen oder Mildred vernichten, dazwischen gab es nichts. Wenn es so weit war, würde Hector wiederkommen. Bis dahin hatte er anderes zu tun.