Kapitel 4

Portsea Island Union Arbeitshaus, Dezember 1860

Zu Hyperions Entsetzen fiel die Frau vor ihm auf die Knie. Sie klammerte sich an seine Hosenbeine und rüttelte daran wie an verschlossenen Türen, heftiger, als man es dem schmächtigen Persönchen zugetraut hätte. Dabei gab sie Laute von sich, die ihn ans Heulen einer Wölfin denken ließen.

Hyperion hangelte nach Halt und erwischte das Gitter des Bettgestells. Vier Kinder lagen auf der verdreckten Matratze. Vierstimmig pfiffen ihre Atemzüge, wobei die Bauchdecken sich vor Anstrengung höhlten. Überleben würde keines von ihnen. Noch vor Ende der Woche würden andere Kranke hier pfeifend atmen, erst ihr Bewusstsein verlieren und dann ihr klägliches Leben. Hyperion trug Handschuhe. Da noch immer niemand wusste, wie man sich die Krankheit zuzog, war Vorsicht geboten. Bekannt war nur, dass sie wie ein Lauffeuer um sich sprang. Ein französischer Spitalarzt, Bretonneau, war der Überzeugung, dass jede Infektion sich einem Erreger zuordnen ließ, und vor diesem Erreger galt es, sich zu hüten. Pasteurs Forschungen untermauerten die These. Die bejammernswerten Geschöpfe aber, die sich in solchen Betten zu Tode keuchten, hatten keine Möglichkeit, sich zu hüten.

Das Kind, das beim Gitter lag, röchelte. Ein Mädchen von knapp drei Jahren, das Gesicht schon bläulich, das Haar zart und rot. Die Frau, die an seinen Hosen zerrte, hatte ähnliches Haar. »Sie müssen mir mein Mädchen retten, Doktor. Ich leb doch nur für sie.«

Bin ich Gott? Kann ich Wunder wirken? Ich kann nicht einmal eine Überweisung für das Sankt-Joseph-Spital ausstellen, damit das arme Ding einen Schnitt bekommt und etwas sachter stirbt. So hilflos, wie ich auf der Krim war, bin ich’s hier. Als einer der Sponsoren des Spitals besaß er das Recht, jährlich eine bestimmte Anzahl Patienten einzuweisen, doch sein Kontingent war längst überschritten. Für jedes Bett bestanden Wartelisten, und Kranke, denen es am Nötigsten fehlte, wurden ohnehin abgewiesen, weil sie weder die Kraft noch die Mittel zur Genesung aufbrachten.

»Es tut mir leid.« Der Name der Frau fiel ihm nicht ein. »Ich gebe noch einmal Silbernitrat, damit betupfen Sie der Kleinen den Rachen, aber mehr steht nicht in meiner Macht.«

In deiner Macht, Dr. Weaver? In deiner Ohnmacht, solltest du sagen, denn was bewirkt dein Silbernitrat, was vermag es gegen Elend und Tod? Er bezahlte das Medikament aus eigener Tasche, weil das Arbeitshaus dafür nicht aufkam, aber damit ließ sich sein Gewissen nicht abspeisen. Auf einmal verlangte es ihn danach, sich die Handschuhe von den Händen zu zerren und dem Kind den rostbraunen Belag, der es umbringen würde, mit bloßem Finger vom Rachen zu kratzen, es nur einmal zu berühren, wie ein Mensch einen Menschen berührte. Wenn ich sie einweisen ließe, könnte ich Vernon bitten, ihr noch vor dem Abend den Schnitt zu setzen. Vielleicht überlebt sie die Nacht. Vielleicht geschieht ein Wunder, wenn wir es erlauben.

Die Frau war in sich zusammengesunken und wimmerte, wohl wissend, dass sie verloren hatte. Ihr starb nicht das erste Kind, sondern das letzte von dreien. Der Strohhalm, der von ihrem Leben übrig war, seit ihr Mann als Krüppel von der Krim zurückgekehrt war und ihre Existenz versoffen hatte. Seit sie in dieser Hölle hauste, aus der es nur auf dem Papier ein Entrinnen gab. Hyperion stopfte die Flasche mit Silbernitrat zurück in seinen Koffer und zog einen Ordner heraus. Mühselig balancierte er ihn auf dem Unterarm, um die Angaben in das Dokument zu füllen.

»Ihre Tochter heißt mit dem Vornamen?«

Die Frau blickte auf. Das Glimmen der Hoffnung, das über ihr Gesicht blitzte, kannte er gut – und sein Erlöschen noch besser. »Lydia. Lydia Alexandrina. Das ist der Mittelname der Königin.«

Hyperion trug die klangvollen Namen in die Spalte ein und setzte seinen eigenen in die Zeile für den Sponsor. Es würde nicht genügen. Vernon, sein Doktorvater und Leiter des Spitals, hatte ihn gewarnt. Den nächsten Patienten, den er ihm über sein Kontingent hinaus schickte, würde er abweisen. Er war kein harter Mann, er hatte sich ein Leben lang für die Krankenversorgung der Armen aufgerieben, aber auch ihm waren die Hände gebunden. »Zu mehr bin ich nicht imstande, Weaver. Ich kann so wenig ein freies Bett herzaubern wie Sie. Entweder Sie erhöhen Ihr Kontingent, was Ihnen, soweit ich weiß, nicht möglich ist, oder Sie verschließen künftig die Augen und schicken weniger Patienten.« Vernon hatte recht. Hyperions Mittel waren ausgeschöpft. Hätte er dem Spital mehr Geld spenden wollen, hätte er sein Haus beleihen müssen.

Ihm blieb nichts anderes übrig als der Biss in den sauersten Apfel – er musste seinen Bruder aufsuchen und wieder einmal um Hilfe betteln. »Hören Sie«, sagte er zu der Frau. »Die Papiere bekommen Sie von mir, aber ins Spital schaffen müssen Sie die Kleine selbst. Mit der Leitung spreche ich. Man soll Ihnen einen Wagen rufen.« Aus der Hosentasche fischte er eine Anzahl Münzen, die er seinem Hausmädchen schuldete. Die arme Priscilla würde warten müssen, bis aus dem Holzhandel die nächste Auszahlung anstand. »Wenden Sie sich an Dr. Vernon. Wenn er die Einweisung beanstandet, richten Sie ihm aus, ich reiche die Unterschrift eines weiteren Sponsors nach. Können Sie sich das merken?«

Die Frau nickte heftig, wobei ihr noch immer die Tränen über die Wangen strömten. »Sie sind ein Engel, Doktor«, flüsterte sie. »Mein Mädchen und ich, wir werden Ihnen das nie vergessen.«

Wenn deine Tochter morgen früh noch lebt, glaube ich wirklich, dass ein Engel am Werk war. Nur bin der Engel nicht ich.

Die Frau hatte Mühe, sich auf die Füße zu rappeln. Sie war noch nicht dreißig, kaum älter als er, doch ihr Ächzen war das einer Greisin. »Sie nehmen meinen Wagen«, entschied er. Er konnte zu Fuß gehen und sich dabei zurechtlegen, was er Hector sagen wollte. »Von dem Geld kaufen Sie sich ein warmes Mittagbrot.«

»Gott schütze Sie, Doktor.« Sie hatte schöne Augen. Nicht blau wie die seiner Mutter, aber von derselben Verletzlichkeit. »Ich hätte nicht gedacht, einmal einen Mann zu treffen, der ein Herz hat. Sie sagen der Leitung Bescheid, ja?«

»Gewiss.« Ohne Erlaubnis durfte kein Insasse das Arbeitshaus verlassen. Er nahm rasch Abschied, weil er ihre Dankbarkeit nicht ertrug, und überließ es ihr, die Kleine aus dem Bett zu heben.

Vor dem Tor, der zum Schneiden dicken Luft entronnen, schöpfte er in tiefen Zügen Atem, ehe er seinen Weg antrat. Es regnete leicht, nicht dicht genug, um einen Schirm aufzuspannen. Am Meer musste es jetzt schön sein, das starre Hellgrau des Himmels über dem tobenden Dunkelgrau des Wassers. Hyperion war lange nicht am Meer gewesen. An manchen Tagen vergaß er, dass er so nah an seinem Ufer lebte.

Weit zu gehen hatte er nicht. Milton’s Court, wo der Bruder um diese Tageszeit vermutlich anzutreffen war, lag hinter dem Fischereihafen, im Bezirk Point, den die Bewohner Gewürzinsel nannten. Nicht weil es in den engen Gassen aromatische Würzmittel zu kaufen gab wie im legendären Sansibar, sondern weil es dort so deftig stank. Über Milton’s Court hätte Hyperion längst mit Hector reden sollen, Vernon hatte ihn mehr als einmal dazu angehalten. »Es schadet unserem Ruf, Weaver. Wir predigen Hygiene und gesunde Lebensweise, und unter unseren Nasen führt Ihr Bruder ein Etablissement, das vor Schmutz in jedem Sinne strotzt. Reden Sie ihm ins Gewissen, stehen Sie nicht tatenlos herum.«

Wie aber sollte Hyperion einem anderen ins Gewissen reden, wenn sein eigenes ihn ständig zwackte? In der Tat, sein Bruder vermietete verdreckte Betten zu Wucherpreisen an Emigranten, aber wer war Hyperion, ihm Moral zu predigen? Was er Hector verdankte, erläuterte er Vernon besser nicht. Im Grunde bestritt jener durch seine Arbeit den Unterhalt des Hauses Mount Othrys, das Hyperions Vater für seine Mutter hatte bauen lassen und das Hyperion geerbt hatte. Das Haus war viel mehr als ein Dach über dem Kopf. Es war sein Elysium, in das er nach dem Elend der Tage fliehen konnte, ein Hort, in dem Schönheit und Stille herrschten. Zudem bewohnte er es nicht allein. Im Altenteil lebte Nell, seine Großmutter väterlicher Seite. Dass Hyperion ihr Zuhause in Gefahr brachte und dass sie dem geschmähten Hector dessen Erhalt verdankte, hätte die betagte Dame fraglos entsetzt.

Dabei hätte Hector keine Schmähung, sondern Dankbarkeit verdient. Von Anfang an war er, Hyperion, vom Glück begünstigt gewesen, des Vaters Liebling, Kronsohn seiner vergötterten Amelia. Dass er sich weigerte, das Geschäft der Familie weiterzuführen, und nach Oxford ging, um Medizin zu studieren, hatte dem Vater das Herz gebrochen. Bis zu seinem Tod sprach der alte Mann kein Wort mehr mit ihm, doch statt ihn gänzlich zu verstoßen, setzte er ihn als Haupterben ein.

Hector hingegen, der alles tat, um den Vater zu erfreuen, musste sich mit der Hälfte der Einnahmen begnügen und hatte von dem Alten nie ein lobendes Wort gehört. Es war, als ließe George Weaver es seinen Erstgeborenen büßen, dass dessen Mutter ihn zum Gespött der Stadt gemacht hatte. Sie war noch am Leben, Polly Pierson, seit der Scheidung dem Trunk ergeben, doch nicht totzukriegen, während George und seine Amelia längst in schweigsamer Erde ruhten.

Den Gedanken an Amelia drängte er beiseite. Es war nicht recht, dass ein Mann von sechsundzwanzig Jahren sich noch immer so schmerzlich nach seiner Mutter sehnte. Das Fleckfieber hatte ihr Leben ausgelöscht, eine Geißel, der bis heute nicht beizukommen war. An ihrem Sarg hatte Hyperion, damals keine sechzehn, sich geschworen, Arzt zu werden und ein Ende zu machen mit all dem Leiden und Sterben viel zu junger Menschen. Und wie weit war er damit gekommen? Einen Krieg hatte er hinter sich, dessen Gräuel ihn bis in seine Träume verfolgten, er tat unbezahlten Dienst im Spital, so dass ihm kaum Zeit für zahlende Patienten blieb, aber was veränderte er? War seine Arbeit mehr als ein Tropfen, bewahrte sie Leben? Eines vielleicht. Das der kleinen Lydia. Hyperion ging schneller. Als es nach faulem Fisch zu stinken begann, hielt er tapfer den Atem an.

Die Häuser von Point schienen zu der Stadt, in der er wohnte, nicht zu gehören. Wie ein Blütenstrauch war Portsmouth. Während allerorts Knospen aufplatzten und frisches Grün hervorbrach, welkte hier das Laub, bis der Gärtner es schnitt. Auf dem Pflaster spielten Kinder in Lumpen. Viele von ihnen trugen in den Zügen Erinnerung an Länder Osteuropas, die sie nie wiedersehen würden. Sie und ihre Eltern waren Gestrandete, wie Treibgut an Portsmouths Küste gespült, und aus den Sehnsüchten, die sie auf ihren Schultern schleppten, schlugen Leute wie Hector Geld. Hyperion musste sich überwinden, durch die Zufahrt in den lichtlosen Hof zu treten. Milton’s Court, Mietpension. Den Gestank nach Fisch überdeckten längst andere Gerüche, die keineswegs erträglicher waren.

Im Hof herrschte Getümmel, das in Augen und Ohren schrillte. Trotz des Regens spannten Weiber Wäscheleinen, traktierten den Schwengel der Wasserpumpe, streuten Hühnerfutter und versohlten Kinderhintern, während Männer sich in Winkel drückten, um zu schwatzen oder zu schweigen. Tierhaltung war verboten, aber für ein Stück Fleisch brach das Gesetz sich schnell. Eine Hand griff nach seinem Ärmel, ein dürres Weiblein hielt ihm einen Korb entgegen. Sträuße von Küchenkräutern, mehr grau als grün vom Sprießen im sonnenlosen Hof. Hastig befreite er sich, bemüht, die Frau nicht anzusehen. Geld hatte er ohnehin keines mehr.

Im Eingang des Seitenflügels befand sich ein Kabuff, das sein Bruder die Portiersloge nannte. Der Mann darin sprang auf, als er Hyperion kommen sah, wobei er sich den Kopf an der Decke stieß. Er füllte den winzigen Kasten aus, und als er heraustrat, nahm er Hyperion die Sicht ins Treppenhaus. »Guten Tag, mein Herr. Wie kann ich behilflich sein?« Der Sprache nach war er kein Engländer und der Höflichkeit nach noch nicht lange hier.

»Ich muss meinen Bruder sprechen. Es ist dringend.« Für gewöhnlich saß Hector selbst hier oder ließ die Loge unbesetzt, aber neuerdings leistete er sich offenbar einen Aufpasser.

Der Riese hob fragend die Brauen.

»Oh, entschuldigen Sie. Mein Name ist Hyperion Weaver.«

Der andere hielt ihm eine erstaunlich saubere Hand entgegen. »Victor März.« Überhaupt war er erstaunlich sauber, die Wangen geschrubbt, die zu enge Kleidung wie aus dem Ei gepellt. »Mr Weaver ist Ihr Bruder?«

Hyperion schlug ein. Der Mann gefiel ihm. Er hatte etwas Offenes, Argloses an sich, das hier kein Mensch erwartete. Über seiner Schulter erschien der Kopf einer Frau, der das Haar aus der Haube quoll. »Ich hab Seife bestellt und nichts bekommen! Ich hab Wäsche zu waschen, wie stellt ihr Leute euch das vor?«

Victor März verbeugte sich. »Verzeihung bitte. Ihr Bruder ist in den Docks, bei einer Lieferung. Kann gern gehen und ihn holen. Nur einen Moment.« Damit wandte er sich nach der Frau um. Sie war jung und so erfüllt von zorniger Kraft, dass Hyperion schmunzeln musste. Die jedenfalls bekam das Elend von Milton’s Court nicht klein. »Tut mir so leid, Miss Mildred. Mr Weaver sagt, er kann keine Bestellung mehr stunden, und den Mietzins nur noch bis Ende der Woche …«

»Mietzins?«, fauchte die Frau. »Um seinen Mietzins macht der Herr ein Gezeter, wo wir uns die Krätze holen in dem Lumpenbett? Was will er denn tun, wenn wir ihm nicht noch mehr in den Rachen stopfen? Uns auf die Straße werfen? Meine Schwester liegt krank. Seine Christenpflicht wär’s, einen Arzt zu holen.«

»Woran fehlt es Ihrer Schwester denn?«, warf Hyperion ein. Die Not der Frau war keineswegs komisch, doch er kämpfte noch immer mit dem ungewohnten Schmunzeln. Es war die Entschlossenheit der jungen Frau, die ihn zum Lachen reizte.

Ihre Augen blitzten. »Was schert das Sie?«

Hyperion zog seinen Hut. »Genau betrachtet nichts. Nur nahm ich an, dass Sie einen Arzt brauchen.«

»Sie werden mir kaum einen schicken.«

»Er steht vor Ihnen.« Hyperion verbeugte sich. Als er aufsah, traf ihn der Blick der Frau. Grünäugig. Dunkel vor Zorn.

»Das macht Ihnen Spaß, was? Wenn das dumme Pack auf die Nase fällt, haben die Herren was zu lachen. Wie schäbig das ist. Manche, die’s hier im Dreck mit Matrosen treiben, hätten zu viel Anstand dazu.« Sie schwang herum, warf Victor März hin: »Ich brauch die Seife«, und stampfte die Treppe hinauf. Hyperions Hand fuhr an seine Wange, als wäre er geohrfeigt worden und hätte es redlich verdient.

»Sie dürfen’s ihr nicht verübeln«, murmelte März. »Ist nicht leicht, hier zu wohnen. Für ein Mädchen schon gar nicht. Und Miss Mildred sorgt sich Tag und Nacht um ihre Schwester.«

»Ich verüble nichts«, hörte Hyperion sich ebenso gedämpft murmeln. »Woran leidet die Schwester?«

März zuckte mit den Schultern. »Ist blutarm, sagt Miss Mildred. Eins von diesen blassen Vöglein, die man päppeln will, damit kein Wind sie umbläst. Meine Schwester ist auch so eins. Meine Schwester hätte eine Miss Mildred gebraucht, die auf sie achtet.«

»Hören Sie …«

»Oh, Verzeihung bitte – wegen Ihres Bruders …«

Hyperion schüttelte den Kopf. »Bemühen Sie sich nicht. Ich gehe selbst. Und Sie tun mir den Gefallen und besorgen Miss Mildred ihre Seife.« Erst als er sich mit beiden Händen in die Taschen langte, fiel ihm ein, dass er keinen Farthing mehr bei sich hatte.


Letztendlich hatte März es sich nicht nehmen lassen, Hyperion in die Docks zu begleiten. Von dem Werftgelände, seinen gigantischen Gebäuden und den lärmenden Kränen und Maschinen fühlte Hyperion sich wie in eine Alptraumwelt der Zukunft verschlagen. Sein Bruder hingegen war hier zu Hause, er ging in seiner Arbeit auf und hasste es, dabei gestört zu werden. Den ersten Schwall seiner Wut bekam der arme März zu spüren. Hector kanzelte den großen Mann wie einen Schulbuben ab, bis dieser mit gesenktem Kopf von dannen schlich. Wie ein Mensch imstande sein konnte, einen anderen derart zu entwürdigen, würde Hyperion ewig ein Rätsel bleiben.

»Die Prügel hätten mir gebührt«, sagte er, sobald Hector sich ihm zugesellt hatte, »nicht dem armen Kerl, der behilflich sein wollte.«

»Wie ich mein Personal behandle, überlässt du gefälligst mir«, versetzte Hector. »Zwar komme ich nicht umhin, dir recht zu geben, aber bei meinem Teutonen besteht immerhin Hoffnung, dass er lernt. Bei dir ist Hopfen und Malz verloren.«

»Der Mann ist Deutscher?«

»Vergeude nicht meine Zeit. Du bist wohl kaum gekommen, um über die Lebensgeschichten meiner Leute zu schwatzen.«

»Ich brauche einen deiner Überweisungsscheine.«

»Aha«, erwiderte sein Bruder ungerührt. »Und sicher erklärst du mir gleich, warum ich dir einen geben sollte.«

Genauso hatte es angefangen, als er Hector zu Jahresbeginn gebeten hatte, als Sponsor für das Sankt-Joseph-Spital zu zeichnen. Wie alle Freiwilligen-Krankenhäuser war auch dieses auf die Gelder der Sponsoren angewiesen, die für eine Spende von fünf Pfund und fünf Schillingen jährlich vier Patienten in ein Krankenhausbett überweisen durften. Hector hatte zehn Pfund und zehn Schillinge gezeichnet, von seinem Kontingent aber noch keinen Gebrauch gemacht, während Hyperion, der das Dreifache gespendet hatte, längst übers Ziel hinausgeschossen war.

»Ich brauche die Überweisung für ein Kind«, sagte Hyperion.

»Tatsächlich? Mir wäre neu, dass du eines hättest.«

»Für eine Dreijährige aus dem Arbeitshaus. Sie hat Diphtherie. Wenn sie keinen Luftröhrenschnitt bekommt, ist sie noch vor dem Abend tot.«

»Bemerkenswert«, stellte Hector fest. »Und darf ich jetzt noch erfahren, warum um alles in der Welt mich das kümmern muss?«

Dasselbe hatte er damals auch gefragt, und Hyperion bemühte sich nicht noch einmal, ihm eine andere Antwort zu geben als die, die er hören wollte: »Nichts.«

»In der Tat.«

Auf seine Weise hatte Hector recht. Auch ihn selbst hätte das Wohl seiner Familie kümmern sollen, nicht das Leid fremder Leute. Ohne Grund sah er das Mädchen Mildred vor sich und las die Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt in ihrem Blick.

»Ich warte. Meine Zeit ist keine unendliche Größe wie dein Edelmut.«

Hyperion seufzte. »Ich bitte dich.«

»Und das, meinst du, muss mir genügen?«

»Was willst du? Soll ich vor dir auf die Knie fallen?«

»Zuweilen stelle ich mir das nicht unerfreulich vor.« Hector verzog den Mund. »Komm morgen früh in mein Büro. Ich überschreibe dir meine Rechte, und du bezahlst mir ihren Wert.«

Ehe Hyperion einwenden konnte, dass er die Überweisung sofort brauche und derzeit nicht flüssig sei, hob Hector die Hand. »Dass du kein Geld hast, weiß ich. Leute wie du haben nie Geld, selbst wenn sie mit dem Silberlöffel im Mund zur Welt kommen.«

»Ich hatte letzthin wenig Patienten, aber nach Neujahr …«

»Lass gut sein«, verwies ihn der Bruder. »Nettlewood stellt einen Schuldschein aus, den du unterschreibst. Vergiss nur nicht, dass ich eines Tages vor deiner Tür stehen werde, um ihn einzulösen.«

Hyperion vergaß es allerdings, und zwar in dem Augenblick, in dem Hector ihm die Überweisung für Lydia Alexandrina Burleigh unterzeichnet hatte. Zu eilig hatte er es, ins Spital zu kommen, um Vernon das Papier zu bringen. Dessen Tadel fiel milde aus. Der alte Arzt hatte sich im Kampf gegen Windmühlenflügel aufgerieben und wünschte seinem Lieblingsschüler ein leichteres Los. Dennoch verstand er, dass Hyperion nicht anders konnte. Noch vor Einbruch der Dämmerung wurde der kleinen Lydia mit einem Schnitt die Luftröhre geöffnet, um ihr das Atmen zu erleichtern.

Hyperion verbrachte die Nacht im Spital und schlief im Sitzen ein. Als er zu sich kam, war das Mädchen noch nicht gestorben. Er ging in die Stadt und kaufte ihr einen Abakus, was ein albernes Geschenk war, zumal sie nicht alt genug werden würde, um es zu benutzen. Vielleicht aber fand sie an den rot und blau lackierten Perlen etwas Freude, ehe farbloses Dunkel ihr Leben verschlang.

Die Mondrose
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