Kapitel 19
Beginn eines langen Winters
Alle Zeit, die er entbehren konnte, verwandte Hector darauf, Victor März zu beobachten, aber an diesem Abend fuhr er nicht in dieser Absicht zum Milton’s Court, sondern weil er mit dem Deutschen sprechen wollte. Der hatte das Flittchen Sukie bei sich aufgenommen, nachdem sie so tief gesunken war, wie eine Frau nur sinken konnte. So tief wie Polly Pierson.
Hector hatte März gesagt, er solle sich der Person entledigen, er dulde keine solchen Subjekte in seinem Haus. Es war das erste Mal gewesen, dass der Deutsche sich ihm widersetzt hatte. »Das kann ich nicht, Sir«, hatte er erwidert. »Miss Ralph wollte ja nicht zu mir kommen, aber am Ende hatte sie doch keinen Ort, an den sie gehen konnte. Wäre meine Schwester in eine solche Lage geraten, hätte ich mir gewünscht, dass jemand sie aufnimmt, damit sie auf anständige Weise leben kann.«
»Das Weibsstück ist aber nicht Ihre Schwester! Und wenn an Sukie Ralph etwas anständig ist, dann ist die Mörderin Manning eine Heilige. Glauben Sie mir, März, ich kenne das Früchtchen weit besser als Sie.«
»Daran zweifle ich nicht, Sir«, sagte März, und zum ersten Mal fragte sich Hector, ob in den Worten seines Deutschen kein zweideutiger Unterton mitschwang.
»Sie setzen sie also vor die Tür, verstanden?«
»Nein, Sir, das kann ich nicht tun.«
»Haben Sie schlechte Ohren? Ich sagte, in meinem Haus will ich solchen Schmutz nicht haben.«
Zu seiner Verblüffung hatte März ihn – wenn auch in unterwürfiger Weise – darauf aufmerksam gemacht, dass das Verwalterhaus von Milton’s Court vertraglich ihm gehörte. Hector hatte angedroht, sein Kapital aus dem Hotel zu ziehen und damit Victor in den Bankrott zu treiben, doch bisher war Sukie Ralph noch immer nicht ausgezogen. »Es tut mir leid, Sie zu verärgern«, war alles, was März dazu zu sagen hatte.
An diesem Abend war er zu ihm gefahren, um ihn schmeichelnd oder drohend umzustimmen. Im Grunde konnte ihm gleichgültig sein, ob das Flittchen dort wohnte. Es war die Niederlage, die an ihm nagte, das Gefühl, dem Deutschen gegenüber, der ihm völlig ergeben hätte sein müssen, an Boden zu verlieren. Vor der Abzweigung in den Milton’s Court ließ er seinen Kutscher halten und ging zu Fuß weiter. Es war ein düsterer, nasskalter Abend mit Windböen, die kleine Salven von Schneeregen trieben. Hector schlug den Mantelkragen hoch. Als er durch die enge Zufahrt des Verwalterhauses trat, sah er im Unterstand den zierlichen Fuchs, der seinem Bruder gehörte, den aber seit längerem Mildred Adams im Galopp durch die Straßen hetzte. Seine üble Laune verflog. Sukie Ralph war so gut wie vergessen.
Seinen Schlüssel zu dem unschönen rußgrauen Gebäude hatte Hector nie abgegeben, und auf die Kunst, sich lautlos einzuschleichen, verstand er sich. Er hatte den finsteren Flur kaum betreten, als er aus dem großen Raum, der als Salon diente, ihre Stimmen hörte.
»Sprich leiser, Mildred«, sagte März. »Miss Ralph hat sich hingelegt.«
»Was schert mich deine Miss Ralph!«, rief Mildred. »Ich bin es, die Hilfe braucht, ich, ich, ich!«
»So habe ich es ja nicht gemeint«, versuchte März zu besänftigen. »Ich dachte nur, du möchtest nicht, dass Miss Ralph uns hört.«
»Glaubst du, ich habe für solche Albernheiten Zeit?« Mildred schrie immer noch. Schier hysterisch klang sie. »Ich bekomme ein Kind, Victor, hast du gehört? Ich bekomme ein Kind!«
Schwach vor Enttäuschung musste Hector sich an der Wand abstützen. War das das Ende seines privaten Melodramas, hatte die wundervoll hochnäsige Mildred, die er für uneinnehmbar gehalten hatte, sich von März schwängern lassen und würde nun einwilligen, seine Frau zu werden? Wie konnte etwas, das so voll Feuer, Tragik und Intrige begonnen hatte, so banal enden?
Aber es endete nicht banal. »O mein Gott, Mildred!«, rief März außer sich. »Von wem denn nur, von wem?« Dass er den Namen Gottes im Mund führte, erlebte Hector zum ersten Mal.
»Von wem wohl?«, fuhr Mildred ihn an. »Sehe ich aus wie eine, die beliebig die Beine spreizt wie deine Miss Ralph?«
»Nicht doch, Mildred. Aber ich hatte gedacht …«
Du hast gedacht, sie würde irgendwann für dich die Beine spreizen, frohlockte Hector. Aber das hat sie nicht getan. Das Geheimnis um den Kindsvater, das sich uns gleich lüften wird, dürfte exquisit wie kein zweites sein.
»Dein Denken spar dir. Damit ist mir nicht geholfen.«
»Ich will dir ja helfen«, stammelte März noch immer erschüttert. »Ich will dir immer helfen, Mildred, das musst du mir glauben.«
»Dann sag mir endlich, was ich tun soll, verdammt noch mal.«
Hector glaubte zu spüren, wie März unter dem Fluch zusammenzuckte. »Du wirst den Vater heiraten müssen«, murmelte er, die Stimme wie erloschen. »Ist es ein guter Mann, Mildred? Wird er für dich sorgen?«
»Ist es ein guter Mann, Mildred?«, äffte sie ihn nach. »Was denkst du denn? Dass ich mich mit weniger als dem Besten zufriedengebe?«
»Nein, Mildred.« Zweifellos hielt er den Kopf gesenkt. »Ich wünsche euch Glück. Dir und dem Kind und dem Vater. Du hast Glück verdient.«
»Hör endlich auf zu schwafeln! Wenn ich für das Kind einen Vater hätte, der mich heiraten könnte, was täte ich dann wohl hier bei dir?« Ohne Vorzeichen kippte die harsche, hochmütige Stimme um, und Mildred, die Unbezwingbare, brach in Schluchzen aus. »Du musst mir helfen, Victor. Ich halte das alles nicht aus.«
Zweifellos nahm er sie in die Arme und ließ sie weinen, bis sie sich beruhigte. »Mildred«, sagte er irgendwann leise, »warum kann der Vater deines Kindes dich nicht heiraten?«
»Weil er verheiratet ist.«
»Ach, mein Kleines«, sprach Victor traurig vor sich hin. »Ach, mein armes Kleines.«
Wer ist es? Nur mit Mühe konnte sich Hector daran hindern, von einem Fuß auf den anderen zu treten. Wer ist es?
Als hätte sie ihn gehört, sprach Mildred in Victors Gemurmel: »Es ist der Mann meiner Schwester.«
Was immer Hector sich versprochen hatte, dies übertraf seine kühnsten Erwartungen. Zu seinem grenzenlosen Vergnügen entblödete sich der verstörte März zu fragen: »Welche Schwester?«
»Bist du nicht bei Trost?«, fuhr Mildred auf. »Ich habe auf der Welt nie mehr als eine Schwester gehabt. Keinen Menschen hatte ich, nur Daphne, sie war alles für mich.«
»Aber Mrs Daphne … Mrs Daphne ist doch die Frau von Mr Weavers Bruder!«
Hector in seinem Versteck presste sich die Hand auf den Mund, um nicht aufzulachen.
»Hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen!«, schrie Mildred. »Was glaubst du denn, von wem wir sprechen? Ich bin keine, die sich mit Kerlen einlässt. Von den Kerlen und ihren ekelhaften Trieben habe ich da, wo ich herkomme, für mein Leben genug gesehen, die sind mir alle miteinander so widerlich wie Vieh. Nur Hyperion nicht. Hyperion ist der einzige Mann auf der Welt, an dem etwas zart und sanft und edel ist.«
Der heilige Hyperion! Hector entfuhr ein Laut. Hyperion, der Unfehlbare, hatte seiner Schwägerin ein Balg gemacht, während seine Seele von Frau auf den Tod lag. An dem Skandal würde er sich den Hals brechen. Der Moment war da, in dem die Stadt Hyperion Weavers wahres Gesicht in seiner ganzen Hässlichkeit erkennen würde.
»Aber …«, stammelte März, der Trottel, der an das Gute im Menschen glaubte und hoffnungslos überfordert war.
Wenn Hector die Ohren spitzte, hörte er, dass Mildred weinte, aber nicht laut und heftig wie zuvor, sondern still und für sich. Offenbar wollte März sie tröstend in die Arme schließen, doch dem Klatschen nach fing er sich für seine Güte eine Backpfeife ein. »Rühr mich nicht an!«, rief sie. »Bildest du dir ein, du könntest mit Hyperion mithalten? Kein Mann kann das – kein Mann ist auch nur seinen kleinen Finger wert.«
Wohl bekomm’s, dachte Hector. Dann lass nur den einzigartigen Hyperion dir aus der Patsche helfen und sieh zu, wohin dich das bringt. Die erhabene Mildred Adams mochte sich schneller, als sie es sich versah, in einem Straßengraben mit der verachteten Sukie Ralph wiederfinden, und wen sie dann noch zu Hilfe rufen wollte, hätte Hector gern gewusst.
März vermutlich. Den Idioten März, der sich von ihr ohrfeigen ließ und treuherzig erklärte: »Ich weiß, ich kann nicht mit ihm mithalten, Mildred. Ich habe das ja nie gesagt.«
»Na also.«
»Aber das mit dir, das hätte Mr Weaver nicht tun dürfen. Es ist an dir und an Mrs Daphne nicht recht getan.«
Es klatschte noch einmal. Scharf wie ein Peitschenhieb.
»Sprich nicht von Dingen, von denen ein Klotz wie du nichts versteht.« Mildred schrie jetzt nicht mehr, aber ihre Stimme war ätzender als der Schlag, den sie dem armen März verpasst hatte. »Hyperion und ich, wir lieben einander. Weißt du, was Liebe ist? Glaubst du, wenn du mit deiner Miss Ralph oder mit Gott weiß wem unter verschwitzte Betttücher kriechst, hat das auch nur das Geringste mit Liebe zu tun?«
»Ich krieche mit Miss Ralph nirgendwohin«, erwiderte März. »Miss Ralph wohnt bei mir, weil sie sonst keine Bleibe hat, das ist alles.«
»Und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mir damit gestohlen bleiben kannst?«
»Oft«, antwortete März geschlagen.
»Willst du mir jetzt helfen oder nicht?«
»Ich will dir helfen. Sag mir, was ich tun kann, und ich tue es.«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Mildred, auf einmal so mutlos, wie es ihrer Lage zukam. »Sag du mir, was ich tun soll.«
»Ich habe doch von alldem keine Ahnung«, erwiderte er. »Ich kann mit Mr Weaver reden, wenn du willst. Mr Weaver war immer nett zu mir, aber ob er mich in dieser Sache anhören wird, weiß ich nicht. Und was soll denn überhaupt geschehen? Wird Mr Weaver seine Frau verlassen und die zwei Kinder auch?«
»Um Gottes willen!«, rief Mildred. »Das würde Daphne umbringen. Sie ist doch krank, sie hält ohnehin nichts aus.«
»Aber was ist mit dir? Und mit deinem Kind?«
Bitter lachte Mildred auf. »Ich war ja immer die Starke. Die, die es aushalten musste.«
»Wenn du Geld brauchst …«
»Pah«, fiel sie ihm ins Wort. »Wie viel Geld, meinst du, braucht es, um allein ein Kind aufzuziehen? Wie viel Geld braucht es, um den Skandal zu verschmerzen, die Ächtung, die Einsamkeit? So viel Geld kannst du im Leben nicht zusammenkratzen, und wenn du dir hundertmal einbildest, dass du hier in deiner Bruchbude auf einer Goldgrube sitzt.«
»Es ist keine Bruchbude«, begehrte März auf. »Es ist ebenso ein Hotel wie deines – nur nicht für betuchte Herrschaften, die überall auf der Welt logieren können, sondern für meinesgleichen. Hätte es so etwas damals gegeben, hätten meine Schwester und ich in solchem Hotel ein paar Tage Ferien machen können. Vielleicht wäre alles anders gekommen.«
»Bist du fertig?«, versetzte sie kalt. »Glaubst du, in meiner Lage habe ich für dein ewiges Geschwafel von deiner Schwester Zeit?«
»Natürlich nicht. Ich wollte ja nur …«
»Mir ist einerlei, was du wolltest. Ich brauche deine Hilfe.«
Eine Zeitlang schwiegen beide, so dass Hector in der Finsternis des Flurs seinen Herzschlag und seinen Atem hörte. Dann vernahm er, wie März sich mit mehrmaligem Räuspern die Kehle reinigte. »Mildred«, sagte er, »ich weiß, du magst mein Haus und mein Hotel nicht, und ich kann dir nicht das Leben bieten, das einer Frau wie dir gebührt. Aber wenn du jemanden brauchst, der für dich eintritt und deinem Kind ein Vater ist, dann will ich, dass du weißt: Es wäre mir eine Ehre, dieser Mann zu sein, ich würde für dich sorgen und es dir nie an etwas fehlen lassen.«
Noch einmal lachte Mildred auf, diesmal verloren, nicht bitter. »Soll das die Wahl sein, die ich habe?«, murmelte sie. »Mit einem Navvy von der Hand in den Mund zu hausen, und das nach all den Kämpfen, die ich ausgestanden habe? Ich wollte, dass meine Tochter ein Klavier bekommt. Ich wollte, dass mein Sohn so umsorgt und behütet aufwächst wie der kleine Louis. Ich wollte, dass für meine Kinder selbstverständlich ist, was ich nie kennenlernen durfte – Sicherheit, Liebe und Glück.«
Wieder breitete sich Schweigen aus, bis März’ Stimme fremd und belegt in die Stille schnitt. »Ich kann ein Klavier kaufen«, sagte er. Als wäre es damit getan. Aber dass es das nicht war, wusste vermutlich sogar der deutsche Einfaltspinsel.
»Tu, was du willst«, erwiderte Mildred tonlos. »Mir bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als dein Angebot anzunehmen. Versteh mich nicht falsch. Ginge es um mich, dann würde ich lieber der Schande entgegensehen, als mit dir in dieser scheußlichen Höhle zu hausen. Aber es geht um meine Schwester. Daphne darf von alldem nie erfahren, oder es brächte sie um. Deshalb muss ich mich opfern. Das habe ich mein Leben lang getan.«
Arme Mildred, dachte Hector geradezu zärtlich. Ist es nicht unendlich schade, dass dein Opfer umsonst sein wird?
»Hast du mich gehört, Victor? Daphne darf nie davon erfahren.«
»Ja«, sagte März, »ich habe dich gehört.«
Aber Daphne wird davon erfahren. Was glaubt ihr zwei Hübschen eigentlich? Dass ihr die einzigen Spieler auf diesem Brett seid, dass ich euch das Feld überlasse?
»Hyperion fährt morgen auf einen Kongress«, sagte Mildred. »Er wird bis kurz vor Weihnachten fort sein. Ich werde die Zeit nutzen, um meine Sachen zu packen, und du nutzt sie besser, um aus diesem Stall eine halbwegs menschliche Behausung zu machen.«
»Alles, was du willst, Mildred. Du musst mir nur sagen, was du gern hättest, und ich lasse es liefern. Ich habe ja mein Sparkonto, ich habe es gerade erst aufgefüllt.«
»Spar dir die Prahlerei. Schaff einfach das Nötigste an, so dass ich hier hausen kann, ohne mich allzu sehr zu schämen. Ich lasse mein Lebenswerk zurück, ist dir das klar? Das Hotel Mount Othrys, das ist mein Lebenswerk.«
Schüchtern lachte März auf. »Aber du bist noch so jung, Mildred! Du könntest ein anderes Lebenswerk beginnen. Wir könnten aus dem hier etwas machen, wenn du willst. Ich bin Mr Weavers Teilhaber, nicht sein Angestellter, ich darf genauso bestimmen wie er. Und mein Ziel ist es, ihm seine Hälfte abzukaufen. Dann könnten wir auch ein vornehmes Hotel daraus machen, wenn es das ist, was dir gefällt.«
»Ein vornehmes Hotel!«, barst es aus Mildred heraus. »Auf der Gewürzinsel! Wovon träumst du eigentlich, wenn du schläfst? Sei so gut und verschone mich mit deinen Phantastereien. Ich verliere alles, was ich liebe, ich muss ertragen, dass sich Weiber wie Maria Lewis und Bernice Weaver über mich die Mäuler zerreißen, also brauche ich nicht noch deinen Hohn obendrein.«
»Ich würde dich nie verhöhnen, Mildred. Und wenn dir an dem Hotel etwas liegt, solltest du, denke ich, einen Anteil bekommen.«
»Soso, das denkst du. Und wen kratzt, was du denkst? Wer klagt mir den Anteil ein? Ich bin eine Frau, falls du das vergessen haben solltest.«
»Ich habe gerade einen Artikel von einem Mann namens John Stuart Mills gelesen«, erwiderte März. »Darin wird sogar das Wahlrecht für Frauen gefordert, kannst du dir das vorstellen? Frauen sind nicht rechtlos – und als dein Mann werde ich für deine Rechte eintreten.«
In dem kurzen Schweigen, das verstrich, mochte in Mildred ein Funke Hoffnung aufglimmen und gleich wieder verlöschen. »Vergiss es«, sagte sie müde. »Kümmere dich lieber darum, dass unser Aufgebot bestellt wird, denn ich möchte nicht erst heiraten, wenn ich aus allen Nähten platze. Und keine Einladungen, kein Drumherum. Ein Schaf, das zur Schlachtbank geht, gibt dazu kein Fest.«
Arme Mildred. Glaubte sie, es sei Balsam auf ihre Wunden, wenn sie Victor März weh tat, wie Hyperion ihr weh getan hatte? Hector verstand sie. Sooft er seinem tumben Sohn eine Tracht Prügel verabreichen ließ, sooft er den Deutschen demütigte, sooft er grundlos Männer aus dem Gaswerk entließ, linderte der Schmerz, den er zufügte, für kurze Zeit den Schmerz, den er ertrug. Aber der Schmerz kehrte immer zurück. Er würde sich erst beruhigen, wenn seine Rache nicht Horatio, März oder die Arbeiter im Gaswerk traf, sondern den Schuldigen, Hyperion selbst. Mildred erging es ebenso. In gewissem Sinn bin ich dein Werkzeug, dachte er. Ich fechte deinen Kampf aus wie meinen, ich trete für deine Rechte ein, wie der arme März es nie könnte.
Im Salon schickte sich Mildred an zu gehen. Widerstrebend zwang sich Hector, ebenfalls seinen Aufbruch vorzubereiten. Am liebsten wäre er stehen geblieben und hätte sie in seinen Armen aufgefangen. Wir sitzen in einem Boot, meine Süße. Wir haben denselben Feind, und gemeinsam dürften wir unschlagbar sein. Natürlich würde er nichts dergleichen tun. Sie hätte es fertiggebracht und ihn geohrfeigt wie den Trottel März, und allein bei dem Gedanken hielt Hector sich für fähig, einen Mord zu begehen. Also würde er, sobald der heilige Hyperion bei seinem Kongress weilte, seine Schwägerin aufsuchen und sie – ganz der besorgte Schwager – von dem Gehörten in Kenntnis setzen. Dass er damit nicht nur seinen Bruder vernichtete, sondern zugleich Daphne, die er aufrichtig schätzte, und Mildred, der er die Bewunderung nicht versagen konnte, ließ sich nicht ändern. Womöglich würde der so reichlich zugefügte Schmerz seinen eigenen heilen oder zumindest auf Jahre betäuben.
»Soll ich in dein Haus kommen, Mildred?«, fragte März. »Soll ich Mr Weaver um die Heiratserlaubnis bitten?«
»Mr Weaver ist nicht mein Vormund«, erwiderte sie patzig. »Und du kommst nirgendwohin. Mit Hyperion und Daphne spreche ich selbst.«
»Wann sehe ich dich wieder?«
»Das wirst du dann schon erleben.«
»Mildred?«
»Was ist noch?«
»Darf ich dir sagen, dass ich trotz allem glücklich bin?«
»Wenn es dir gefällt, dein Glück auf meinem Elend zu bauen, dann sag, was du willst«, versetzte sie und ging.
Nach einem Tag voller Arbeit war Mildred in die Stadt geritten, um Samt in der Farbe heller Rosen zu kaufen. Sie hatte Bänder für alle Vorhänge in den Hotelzimmern daraus nähen wollen. Genau wie im vergangenen Winter barst sie auch in diesem vor Plänen, um die Räume zu verschönern, den Ausbau voranzutreiben und ihren Gästen mehr Luxus zu bieten. Erst als sie vor dem Tor von Mount Othrys vom Pferd stieg, fiel ihr wieder ein, dass sie im nächsten Frühjahr nicht hier sein würde, um Gäste zu empfangen, dass vielleicht niemand Gäste empfangen würde und dass das Hotel, das unter ihren Händen stetig gediehen und gewachsen war, verschwinden würde, ohne dass je jemand erfuhr, was daraus hätte werden können. Sie hätte den rosenfarbenen Samt in den Rinnstein werfen und in die schlammigen Schneereste treten mögen.
Wenn sie das Haus betrat, tollten ihr gewöhnlich Louis und Pebbles, der wollige Retrieverwelpe, den sie ihm geschenkt hatte, entgegen und überschütteten sie mit feuchter Zärtlichkeit. Heute aber blieb alles still. Nicht einmal Sarah und Priscilla verursachten bei der Hausarbeit den üblichen Lärm. Die kalte Angst, die sie sonst in solchen Augenblicken befiel, der Gedanke, Daphne oder dem kleinen Jungen könnte etwas zugestoßen sein, blieb aus. Was sollte noch geschehen, was hätte das, was ihr bevorstand, schlimmer machen können?
Sie ging ein paar Schritte in Richtung Salon, noch immer auf die vertrauten Geräusche lauschend, als eine Stimme sie herumfahren ließ. »Ich habe alle weggeschickt. Ich wollte allein mit dir sprechen.«
Mildred drehte sich um und sah Daphne auf dem marmornen Treppenabsatz stehen. Sie war vollständig angekleidet, trug das schwere grüne Kleid, das sie älter machte, und hatte sich das Haar zu streng aus dem Gesicht frisiert. Als hätte sie sich bewusst ihrer Lieblichkeit berauben wollen, und auch in den kantig abgezehrten Zügen war nichts Liebliches mehr. Ihre Haut schien noch bleicher geworden – gespenstisch bleich.
»Warum bist du nicht im Bett?«, fragte Mildred mechanisch.
»Wäre ich im Bett besser aufgehoben? Wäre ich im Bett niemandem im Weg?« Es war Daphnes Stimme, die sprach, aber der Ton, der darin schwang, war Mildred fremd.
»Bitte komm nach oben, Mildred«, sagte Daphne, als Mildred ihr keine Antwort gab. Weshalb nannte sie sie nicht Milly? Weshalb sprach sie mit einer Bestimmtheit zu ihr, die sie nicht einmal bei den Dienstboten an den Tag legte? Mildred trottete die Stufen hinauf, so langsam, als würde sie eine Last schleppen. Noch ehe sie den Absatz erreicht hatte, drehte Daphne sich um und ging in eines der kleinen Teezimmer, das über einen entzückenden Erker mit Blick über den jetzt kahlen Garten verfügte. Wie so oft ertappte sich Mildred bei dem Gedanken, wie hübsch sich dieser Raum in einer Gästesuite ausmachen würde. Der Charme, der das Haupthaus auszeichnete, ließe sich im Altenteil nie erreichen, und auch das Cathedral und sogar das Victoriana konnten damit nicht aufwarten.
»Bitte setz dich«, sagte Daphne.
Mildred erschrak und blickte auf. Im Licht der Gaslampe sah sie, dass ihre Schwester geweint hatte. Jetzt packte die eisige Angst doch zu und erschien Mildred lähmender als je zuvor. Sie setzte sich in einen Sessel, ohne dass Daphne sie aus den Augen ließ.
Die Schwester blieb stehen und lehnte sich neben dem Fenster, vor dem der blasse Wintertag sich schlafen legte, an die Wand. Es hätte ein behaglicher Abend werden können, mit einem Feuer, das im Kamin hoch prasselte, und einem cremigen Sherry aus zerbrechlichen Gläsern. Aber es würde kein solcher Abend werden. Jäh begriff Mildred, dass es einen solchen Abend zwischen ihnen nie mehr geben würde.
»Ich will nur eines wissen«, sagte Daphne. »Ist es wahr?«
»Ist was wahr?« Sie konnte ja nicht das Schlimmste meinen, es war unmöglich, dass sie davon wusste.
»Hast du ein Verhältnis mit meinem Mann?«
Mildreds Herz begann wie der Schlegel einer Pauke zu hämmern. Wer hatte geredet? Der verfluchte Victor? Er musste es ja gewesen sein, da sonst niemand ihr Geheimnis kannte – nur Hyperion, von dem sie immer befürchtet hatte, dass er eines Tages schwach werden und mit allem herausplatzen würde, aber Hyperion war schon seit zehn Tagen in London. Sie würde Victor zur Rechenschaft ziehen, wenn sich herausstellte, dass er sie verraten hatte. Sie würde ihn in einer Weise bestrafen, die er nie vergaß.
»Ich habe dich etwas gefragt, Mildred. Hast du ein Verhältnis mit meinem Mann?«
»Das ist doch Unsinn«, murmelte Mildred gegen die tonlose Stimme an. In den schwärzesten Nächten, in denen sie keinen Schlaf gefunden hatte, war ihr der Gedanke zuweilen in den Sinn gekommen: Was tue ich, wenn Daphne mir je diese Frage stellt? Ich streite es ab, hatte sie sich gesagt. Daphne vertraute ihr, sie hatte ihr solange sie lebte jede Wahrheit und jede Lüge geglaubt. Hyperion liebt dich, hatte sie ihr sagen wollen, und: Für mich gibt es keine Männer. Für mich gibt es immer nur dich.
»Ist es Unsinn?«, fragte die gespenstisch bleiche Daphne und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist es wirklich Unsinn, Mildred?«
Jetzt mussten die vorbereiteten Sätze kommen. Mildred räusperte sich und schloss die Augen. Sie wollte wie so oft die Bilder der kleinen Daphne sehen, die sie auf schwachen Beinchen laufen gelehrt, an deren Bett sie gewacht und die sie mit all ihrer Liebe ins Leben zurückgepflegt hatte. Stattdessen sah sie den Mann in ihren Armen. Hyperion. Die schweißnass schimmernde goldene Haut der Schultern, den schlanken Hals, an dem die Adern heraustraten, wenn er sich über sie beugte, das Gesicht mit den Regenaugen, aus denen sprach, wie sehr er sich nach ihr verzehrte. Es ist ja kein Verhältnis, keine billige Liebschaft, durchfuhr es sie. Ich liebe ihn. Ich habe ihn lange vor dir geliebt, und nicht ich habe ihn dir weggenommen, sondern du ihn mir. Erst als Daphne aufschrie, bemerkte sie, dass sie die letzten Worte laut ausgesprochen hatte.
»Ist das dein Ernst?«, flüsterte ihre Schwester und schlug beide Hände vor den Mund. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet.
Mildred sprang auf. Es war einer dieser Momente, in denen Daphne zusammenbrechen konnte, einer dieser Momente, in denen die Angst um Daphne sie überrollte. »Nicht doch!«, rief sie und wollte die Schwester am Arm packen. Hatte sie es nicht Hunderte von Malen getan? Sie befahl ihren Armen, sich nach Daphne zu strecken, aber diese versagten ihr den Dienst. »Ich habe immer verzichtet«, sagte sie und traute kaum ihren Ohren. »Auf alles. Für mich selbst habe ich nie etwas verlangt, alles nur für dich. Wie hätte ich denn an mich denken können, wo doch du immer die Schwache warst, die, die mit einem Bein im Grab stand und auf die ich Rücksicht nehmen musste?« Sie schrie jetzt. Sah in die blauen Augen der Schwester und schrie, und keine Macht der Erde hätte sie aufhalten können. »Hyperion war das Einzige, was ich je für mich wollte, er hat mir zu Weihnachten ein Geschenk geschickt, und dann hast du ihn mir weggenommen! Hast verlangt, dass ich auch diesmal verzichte, und weil ich es dieses eine Mal nicht getan habe, machst du eine Teufelin aus mir!«
Daphne, die noch immer die Hände vor den Mund hielt, wandte den Blick nicht von ihrem Gesicht. »Und er, Mildred?«, stammelte sie kaum verständlich. »Hyperion? Er liebt dich auch?«
»Ja, er liebt mich«, erwiderte Mildred. »Wenn du es genau wissen willst, wir lieben uns so sehr, dass wir die Hände nicht voneinander lassen können, sobald wir in einem Raum alleine sind. Aber was nützt uns das? Du warst eben schneller und hast deine Schäfchen ins Trockene gebracht. Du bist die Zerbrechliche, der man nicht weh tun darf, und Mildred und Hyperion müssen tapfer sein und verzichten.«
»Nein, Mildred«, flüsterte Daphne. »Nein, das müsst ihr nicht. Du hast recht. Ich war eine untragbare Last für dich, aber das werde ich nicht länger sein. Ich werde gehen und euch endlich euer Leben führen lassen.«
Eine Hoffnung wallte in Mildred auf, die ihr für Augenblicke die Kehle zuschnürte. In dieser winzigen Zeitspanne begriff sie, dass sie das Angebot – wäre es gültig gewesen – angenommen hätte, dass sie bereit gewesen wäre, Daphne zu verlieren, um Hyperion zu gewinnen. Hyperion und Louis. Daphne konnte ihre Tochter mitnehmen, und finanziell würde für beide gesorgt werden. Das Hotel hatte in diesem Sommer erstaunliche Gewinne eingefahren, es ließe sich spielend vergrößern, und nach dem Kongress konnte Hyperion mehr Patienten aufnehmen. Hyperion war zu gut für die Welt, er brauchte eine feste, zuweilen harte Hand, die ihn lenkte. Mildred war es, die er brauchte. Vereint würden sie ein Gespann bilden, das die Welt in Schranken wies.
Gleich darauf lösten sich die Schleier, die ihr den Blick vernebelt hatten, sie sah wieder klar, und die Hoffnung zerstob. Es würde niemals möglich sein, sie würde niemals etwas für sich haben dürfen, das Daphne begehrte. Daphnes Zustand würde sich verschlimmern, Hyperion würde an der Schuld zerbrechen und reumütig zu ihr zurückkehren, und sie selbst stünde allein da, hätte beide verloren und ihre trübe Heiratsaussicht obendrein. Das Kind, das ihr im Leib saß, erschien ihr unwirklich, und dass sie es jemals lieben könnte, wie sie Louis liebte, lag außerhalb aller Möglichkeiten, aber das Kind würde da sein und sich nicht wegreden lassen. Sie konnte sich auf kein Risiko einlassen, so übermächtig der Wunsch danach auch war.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie zu Daphne. Wie oft hatte sie der Schwester diese Worte gesagt, auch wenn sie selbst vor Sorgen weder ein noch aus wusste? Wenn ich erst König bin, dilly dilly, wirst du meine Königin – dass ich selbst eine Frau bin und Königin hätte werden können, habe ich dir nie gesagt. »Mach dir keine Sorgen«, wiederholte sie. »Ich habe einen Heiratsantrag erhalten und angenommen, ich werde dir nicht länger zur Last fallen. Eigentlich hatte ich hierbleiben wollen, bis die Bruchbude, in der ich hausen werde, einigermaßen hergerichtet ist, aber ich denke, ich werde schon heute packen und dein Haus verlassen.«
Dein Haus, das im Grunde meines ist. Hast du einen Handschlag getan, um es zu erhalten? Hast du je eine schlaflose Nacht verbracht aus Angst, es zu verlieren?
»Von mir aus brauchst du nicht zu gehen«, erwiderte Daphne kühl, als spräche sie zu einer Fremden. »Das Haus ist ja groß genug.« Wer der Mann war, den ihre Schwester ihr zuliebe heiraten würde, fragte sie nicht, sondern wandte sich ab, als wäre die Angelegenheit für sie erledigt.
War sie das? Hatte sie, Mildred, ihre Schuldigkeit getan und konnte gehen? Sie warf einen Blick auf den Rücken ihrer Schwester, die grüne Seide um die schmalen, nach vorn gekrümmten Schultern. Was wollte Daphne ihr sagen? Dass ihr gemeinsames Leben beendet war, dass alles, was Mildred für sie getan hatte, nicht mehr zählte und sie einander nicht wiedersehen würden? Sie konnte hier nicht stehen bleiben, als würde sie um ein Wort, einen Blick betteln – ihr Stolz zwang sie, den Raum zu verlassen. Wie benommen, auf fühllosen Beinen trat sie aus der Tür.
In ihrem Zimmer begann sie wahllos Dinge in einen Koffer zu werfen, während ihre Gedanken wie Pfeile kreuz und quer durch den Kopf schossen. Als Frau von Victor März würde sie nicht in denselben Kreisen verkehren wie Daphne und Hyperion, und auch wenn die Stadt nicht groß war, würde sie Daphne, die das Haus nie verließ, kaum über den Weg laufen. War der schmale Rücken in der grünen Seide also tatsächlich das Letzte, was sie von ihrer Schwester zu Gesicht bekommen hatte? Aber wie soll ich leben ohne sie, was ist mir mein Leben ohne sie wert?
Sie hatte auf diese Frage nie eine Antwort gewusst, und jetzt folgte die zweite Frage mit noch viel größerer Gewalt. Wie soll ich leben ohne Hyperion? Sie erschrak bis ins Innerste vor der Leere, die sich auftat, und vor der Gewissheit: Hätte sie von beiden nur einen wählen und behalten dürfen, sie hätte den Mann gewählt. Alles in ihr schrie: Ich kann nicht ohne ihn sein! Sie sah sein Gesicht vor sich und hätte auf der Stelle aufbrechen mögen, in das verhasste London fahren und zu ihm sagen: Geh nicht zurück. Bleib bei mir. Lass uns irgendwo unterkriechen, von der Hand in den Mund leben, einerlei, wenn ich dich nur bei mir habe. Und das war Mildred Adams geschehen, die für die Heldinnen aus Romanen und Liedern, die aus Liebe Armut und Not auf sich nahmen, nur Verachtung übrig hatte. Es war nicht zu fassen. Aber noch weniger war es zu ändern.
Mit nur einem Koffer wie ein entlassenes Dienstmädchen verließ sie das einzige Zuhause, das sie je besessen hatte, und trat hinaus in die Schwärze des Winterabends. Schneeregen trieb ihr entgegen, peitschte in Böen ihr Gesicht. Ihre Schritte taumelten, als wüsste sie nicht, wohin sie ihre Füße setzte. Aber es gab ja nur einen Weg, der ihr einzuschlagen blieb, nur einen Ort, an den sie gehen konnte, so verhasst er ihr war und so sehr sie sich schämte, dass sie dorthin zurückkehrte – Milton’s Court. Victor März stand in der Tür, als hätte er sie erwartet. Er breitete die Arme aus und fing sie darin auf. Mach mich wieder betrunken, dachte sie. Jeden Tag, jede Nacht aufs Neue. Gib mir heißen Wein, der mir die schreckliche Kälte ausbrennt und mich vergessen lässt, was ich verloren habe.