Kapitel 20
Tiefer Winter
Magst du nicht mehr spielen, kleine Mutter? Bist du zu krank?«
In der Bewegung hielt ihr Sohn inne, dass ihm die hölzerne Giraffe aus den winzigen Fingern glitt, und sah angsterfüllt zu ihr auf. Das hatte Mildred ihm eingeredet: Deine Mutter ist zu krank zum Spielen. Geh nicht zu ihr, du schadest ihr.
Louis aber hatte sich davon nie abhalten lassen. Er brauchte sie, wie sie ihn brauchte. Was die anderen auch unternahmen, um sie zu trennen, sie fanden immer wieder zueinander. Jetzt knieten sie auf dem Teppich vor dem Bett und spielten mit der Arche Noah, die Hyperion aus London geschickt hatte. Immer zu zweit marschierten die schön geschnitzten Tiere in den bauchigen Schiffsrumpf – zwei Pferde, zwei Elefanten, zwei Bären, zwei Giraffen, und am Ende, Hand in Hand, zwei Menschen. So zu zweit ließ sich der Sintflut trotzen. Solange man nicht verlassen, nicht der Letzte seiner Art war, schien nichts zu hart, nicht einmal der Tod.
Die Arche war als Geschenk für Weihnachten gedacht, aber Daphne hatte die Kiste einfach geöffnet und das Boot samt der Tiere vor Louis hingestellt, der hell darüber jauchzte. Er liebte Tiere. Der cremefarbene Welpe, den Mildred ihm gekauft hatte, lag zur Kugel gerollt an seiner Seite und schlief. Dass die Arche ein Geschenk seines Vaters war, hatte Daphne ihm nicht gesagt.
»Kleine Mutter, was ist dir?«
»Nichts, kleiner Louis.« Sie strich ihm über das Haar, hob die Giraffe auf und legte sie ihm wieder in die Hand. »Ich bin nur ein wenig müde. Vielleicht lege ich mich nachher, wenn wir gespielt haben, hin, und du gehst ins Kinderzimmer und schaust deine Bücher an, bis Großmutter Nell mit Anne und Esther wiederkommt, ja?« Sie hatte Nell gebeten, mit dem Kindermädchen und ihrer Tochter nach Petersfield zu fahren und einen Arzt aufzusuchen, der ihr für Gedeihstörungen bei Kindern empfohlen worden war. In Wahrheit glaubte sie nicht, dass irgendein Arzt Esther besser helfen konnte als Hyperion. Sie wollte nur allein sein. Deshalb hatte sie Sarah und Priscilla freigegeben, den heutigen Samstag und den morgigen Adventssonntag gleich mit. So blieb ihr ein wenig Zeit mit Louis, zu zweit wie die Tiere vor der Arche – zwei Rehe, zwei Löwen, zwei Zebras, und am Ende der Reihe, Hand in Hand, zwei Menschen.
»Du weinst, kleine Mutter!« Sie spürte die Kinderhand auf der Wange, vernahm das erschrockene Stimmchen. »Bist du doch krank?«
»Nein, kleiner Louis. Ich habe nur nachgedacht.«
»An den Vater? Hast du an den Vater gedacht, der nicht da ist? Aber du hast doch mich!« Geradezu empört plusterte er sich auf und schmiegte sich an sie, wie um ihr für seine Gegenwart einen Beweis zu liefern.
Wie oft hatte Daphne über solche Gesten lachen müssen, nicht, weil sie die Liebe des Kindes komisch fand, sondern weil sie sie so sehr berührte. Sie legte den Arm um ihn und hielt ihn so fest, wie ihre Erschöpfung es erlaubte. »Vermisst du den Vater, Louis?«
Der Junge überlegte, runzelte die kleine Stirn und sagte nach einer Weile: »Nein, ich glaub nicht. Ich hab ja dich.«
»Und Tante Mildred? Du hast sie ja seit Tagen nicht gesehen.«
Louis schüttelte den Kopf. »Wenn der Vater und Tante Mildred nicht da sind, darf ich zu dir. Ich möcht immer bei dir sein, kleine Mutter.«
Es schnitt ihr ins Herz. So tief und schmerzhaft, dass sie sich vornüberkrümmte. Drei Ansätze brauchte sie, ehe die Worte aus ihr herausfanden: »Aber wenn ich nun lange verreisen müsste, Louis, dann hättest du es doch beim Vater und Tante Mildred schön, nicht wahr?«
»Nein!«, rief Louis wütend und klammerte sich an ihr fest. »Verreisen kann der Vater. Du darfst von mir nicht weg.«
»Aber wenn es doch nun sein muss?«
»Dann komm ich mit!«, rief er aus. Ob der Freude über seinen Einfall verflog seine Wut, und strahlend blickte er zu ihr auf.
Es schnürte Daphne die Kehle zu, auf einmal erschien ihr ihre Brust zu eng zum Atmen. »Das geht nicht, mein Herz«, stieß sie hervor. »Die kleine Mutter muss allein gehen.«
Unbeirrt schüttelte er den Kopf und verkündete: »Der kleine Louis kommt mit!«
»Aber die Reise ist weit, mein Herz. Zu weit für einen kleinen Jungen.«
»Dann auch zu weit für eine kleine Mutter«, erwiderte er triumphierend. Mit einer herrischen Handbewegung wischte er alle aufgereihten Tiere von der Rampe hinunter und stellte die beiden Menschenfiguren an deren Fuß. Stolz wies er darauf. »Da, schau! Der kleine Louis und die kleine Mutter verreisen.«
Es tat so weh, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Er war doch ihr Kind, das schönste und begabteste, das je geboren worden war, er musste doch glücklich sein und in eine strahlende Zukunft gehen. Um ihren ausgemergelten Leib, der vor Kälte zitterte, spürte sie seine Arme. Nein, dachte sie, er hat recht. Er braucht mich, und ich brauche ihn. Zurücklassen, in all der Kälte und Einsamkeit, kann ich ihn nicht.
Er drückte sein Gesicht an ihren Bauch. Seine Finger gruben sich in sie, als wollten sie ihre Rippen durchbohren. Leise hörte sie ihn weinen. Sie schloss die Arme um ihn, senkte ihren Kopf auf seinen und weinte mit. »Willst du das wirklich, kleiner Louis? Mit der kleinen Mutter verreisen, auch wenn es weit ist und wir für lange Zeit nicht zurückkommen?«
»Für wie lange Zeit, kleine Mutter?«
»Das weiß ich nicht, mein Herz.«
»Mir ist’s einerlei«, sagte er, schon wieder ganz getröstet.
»Auch wenn du die anderen, den Vater und die Großmutter und Tante Mildred, nicht mehr siehst?«
Er brauchte nicht einmal zu überlegen. »Das macht nicht viel aus. Ich habe doch dich.« Dann unterbrach er sich und streckte eine Hand nach dem Hund aus. »Aber Pebbles muss mit!«
Durch Tränenschleier sah Daphne auf das ahnungslos schlafende Tier. Das ist nicht möglich, wollte sie sagen, doch Louis drückte ihre Hand, und ihre Blicke trafen sich, der des Kindes flehentlich, so dass sie ihm nicht widerstehen konnte. Louis war kein Kind, das durch Greinen und Betteln seinen Willen durchzusetzen suchte. Er tat überhaupt nie etwas aus Berechnung, sondern alles gerade so, wie es seinem Herzen einfiel. »Nun gut«, sagte Daphne und küsste seine Hand. »Wenn Pebbles mit muss, dann reisen wir eben zu dritt. Lass uns noch ein Weilchen still hier spielen, dann wird die kleine Mutter einen Brief schreiben, damit die anderen wissen, wo wir hingegangen sind, und dann legen wir uns nieder, damit wir für die Reise frisch und ausgeruht sind.«
»Müssen wir keinen Koffer packen wie der Vater?«
»Nein, mein Herz. Dort, wo wir hingehen, haben wir alles, was wir brauchen.«
Es dauerte nicht lange, dann hatte Louis sich nach Kinderart in die neuen Gedanken hineingefunden und spielte so hingebungsvoll mit seinen Tieren wie zuvor. Daphne sah ihm zu. Sie strengte sich nicht länger an, die Tränen zurückzuhalten, sondern ließ sie laufen. An die Tanne dachte sie, die im Salon darauf wartete, dass sie Geschenke für ihren Jungen in die Zweige hängte, und danach an den Frühling, an den Duft der Kirschblüten und das lange Gras, durch das ihr Kind auf seinen festen, stampfenden Beinchen gelaufen war. Auch an den Sommer, an ihre Picknicks am Strand, vier bloße Füße, die in die flache Gischt des Meeres hineingelaufen waren, an die gerade erst reifen Äpfel, die sie geteilt hatten, und an ihre Lieder. Lavendel ist blau, dilly dilly. Als Louis sich umdrehte und sie fragte, warum sie weine, lächelte sie und erklärte, so sei es eben. Wer auf eine Reise gehe, der müsse weinen, um Abschied zu nehmen, ehe er bereit sei, sich auf den neuen Ort zu freuen.
Sie ließ ihn spielen, während sie ihren Brief schrieb. An Hyperion und Mildred gemeinsam. Sie wollte nichts schreiben, das Schmerz bereitete, nur ihnen beiden für ihre Liebe danken, für ihre Fürsorge und ihr Opfer, das jetzt ein Ende haben würde. Den letzten Abschnitt schrieb sie an Hyperion allein. »Quäle Dich nicht, mein Liebster, wenn ich Dich bei diesem Namen noch einmal nennen darf. Ich weiß, es ist Deine Natur, Dir für das Leid der Welt die Schuld zuzusprechen, doch ich bitte Dich: Sprich Dir für mein Leid nicht die Schuld zu. Du bist ein guter Mensch, Hyperion, der beste, den ich je gekannt habe, und wen wir lieben, liegt nicht in unserer Hand. Nicht einmal in Deiner. Ich danke Dir für das Glück, das Du mir geschenkt hast. Es war das Schönste in meinem Leben.«
Louis war zu ihr gekrochen und sah zu, wie die Buchstaben sich auf dem Papier formten. Er war so klug, seinem Alter so weit voraus. Gewiss hätte er bald lesen lernen wollen. Sie faltete den Bogen, ohne die Tinte zu löschen, und schob ihn in einen der zartblauen Umschläge, die Hyperion ihr geschenkt hatte. »Bist du bereit, kleiner Louis?«, fragte sie.
»Bereit, kleine Mutter!«, rief er voller Vorfreude.
»Dann komm.«
Als sie sich erhoben, sprang auch der kleine Hund auf die Beine und tollte ihnen hinterdrein. Daphne weinte unentwegt weiter, und in ihrer Brust wühlte brennender Schmerz, aber sie wusste, sie würde dieses Mal nicht umkehren oder nach jemandes Hilfe rufen. Dieses eine Mal würde sie stark genug sein.