Kapitel 46
Hochsommer
Tagsüber saß Hedwig am Empfang der Pension, in der Onkel Victor zu arbeiten hatte. Es ging ihr mit jedem Tag besser. Solange das Mädchen, das hinter dem Tresen den Gästen ihre Schlüssel und die Marken für das Restaurant aushändigte, sie vor Grüßen und Fragen abschirmte, vermochte sie die Angst im Zaum zu halten. Irgendwann würde es ihr selbstverständlich sein, hier zu sitzen, und dann würde sie aufstehen, hinter dem Tresen hervortauchen und hinaus in die sommerliche Welt laufen.
In ihre Welt! In der Horatio auf sie wartete. Wenn die Angst aufzuwallen drohte, sprach sie sich seinen Namen vor oder zählte die Tage bis zu seinem nächsten Besuch. Nie ließ sie ihn gehen, ehe er ihr einen weiteren Besuch versprochen hatte. »Ich kann nicht gesund werden, wenn Sie nicht wiederkommen«, sagte sie. »Sie helfen mir mehr als alle Ärzte. Mein Lebensretter sind Sie.«
Dass Horatio sich sträubte, dass er nicht aufhörte ihr zu beteuern, es sei besser, wenn sie ihn nicht wiedersehe, sprach für ihn. Er war verheiratet, und er war ein Mann von Anstand, einerlei, was Onkel Victor behauptete. »Ich mag den Mann nicht«, hatte der Onkel sie bestürmt, »er hat den übelsten Ruf, den man sich vorstellen kann.«
»Aber er verdient ihn nicht. Ist er vielleicht nicht vollendet höflich, sooft er zu uns kommt, behandelt er mich nicht mit höchstem Respekt? Und siehst du etwa nicht, wie gut er mir tut, wie er mir hilft, mich aus dem Käfig der Krankheit zu befreien?«
»Doch«, gab Onkel Victor zu, »das sehe ich. Der junge Mr Weaver, der dich besuchen kommt, ist voller Charme und Liebenswürdigkeit, aber ich habe ihn schon als Knaben gekannt. Er war schwererziehbar. Sein Vater stand kurz davor, ihn außer Haus zu geben, weil er sich nicht bändigen ließ.«
»Soll ich einem erwachsenen Mann ankreiden, dass er als Junge ein kleiner Rotzlümmel war?«
»Nein«, erwiderte Onkel Victor, »aber er hat eine nachtschwarze Seite. Ich habe Angst um dich, wenn er bei dir ist.«
Es war das erste Mal, dass Hedwig auf Onkel Victor zornig wurde. Wie konnte er so über Horatio sprechen? Nachtschwarz an ihm waren nur sein Haar und seine Brauen, was Hedwig so sehr gefiel, dass es ihr im Magen kribbelte. Sie wollte ihn unentwegt ansehen. Auch seine Augen waren beinahe schwarz – es war ein leuchtendes Schwarz, wie Hedwig es nie zuvor gesehen hatte. Wenn die Angst nach ihr greifen wollte, stellte sie sich sein Gesicht mit den leuchtenden Augen vor, und die Angst zog sich zurück. Irgendwann würde sie für immer fortbleiben.
Onkel Victor versuchte ihr die Treffen mit Horatio auszureden, doch zu ihrem Glück verbot er sie nicht. Er hatte ihr nie etwas verboten. »Wenn du es dir so sehr wünschst, Kleines, dann muss es eben sein«, war alles, was er dazu sagte, und letzten Endes bedrängte er Horatio selbst, bald wiederzukommen, weil seine Nichte in seiner Gegenwart aufblühte. Zudem konnte Onkel Victor Arbeit erledigen, wenn Horatio da war, denn Hedwig blieb liebend gern mit ihm allein.
Sie sprach mit ihm von Dingen, von denen sie geglaubt hatte, sie könne sie nie über die Lippen bekommen. Von ihrem Leben im Arbeitshaus, das kein Leben gewesen war, sondern ein Alptraum ohne Erwachen. Sie hatte nie den Mund dazu aufbekommen, weil Menschen Schlüsse über sie ziehen, Fragen stellen und unerträgliche Bemerkungen abgeben würden. Horatio aber zog keine Schlüsse, stellte keine Fragen und gab keine Bemerkungen ab, sondern hörte zu und verstand. Auf wundersame Weise schien er zu wissen, was sie meinte. Einmal, als sie zu stammeln und nach Luft zu schnappen begann, sagte er: »Sprechen Sie es nicht aus. Es ist, als stünde man nur aufrecht, solange es ungesagt bleibt, nicht wahr? Sobald es gesprochen wird, stürzt man um und erniedrigt sich noch einmal neu.«
Eines Abends hatte er seine Frau mitgebracht. Er meinte es gut, wollte dafür sorgen, dass sie mehr Gesellschaft bekam, aber ihr tat es nicht gut. Die schmale Frau mit dem dichten braunen Haar war ihre Feindin. Hedwig erlitt in ihrer Gegenwart einen Anfall und ließ sich nur mühsam beruhigen. Die Frau kam nicht wieder, und Horatio kam erst, nachdem Onkel Victor ihm auf Hedwigs Betreiben ein Billett sandte und ihn dringend darum bat.
Hedwig hätte gern Pläne geschmiedet, während sie hinter dem Empfangstisch auf Onkel Victor wartete. Pläne für die Zeit nach ihrer Genesung, wenn sie nicht mehr tatenlos Horatios Besuchen entgegenfiebern musste, sondern zu ihm gehen konnte, wann immer die Sehnsucht sie übermannte. Stets aber endete die Hochstimmung, mit der das Pläneschmieden begann, in einem Abgrund dumpfer Verzweiflung. Es war ja alles nicht möglich, die ganze Anstrengung, gesund zu werden, nützte nichts. Horatio war verheiratet. Er hatte sie mehrmals gebeten, ihm nicht mehr die Arme um den Hals zu werfen und ihre Wange nicht mehr an seine zu legen. Einmal befreite er sich mit aller Bestimmtheit und sagte: »Ich mag Sie gern, Hedwig, aber ich liebe meine Frau.«
Hedwig saß hinter dem Empfangstisch von Onkel Victors Pension in Southsea und wünschte der fremden Frau den Tod. Eine Horde von Thomas-Cook-Touristen strömte durch die Tür. Wer an solcher Billigreise im Zug oder im Pferdebus teilnehmen und ein paar Tage lang Meeresfrische genießen wollte, musste sich verpflichten, keinen Alkohol zu trinken, weshalb die Leute in Portsmouth nicht gern gesehen waren. Sie trugen zu wenig Geld in die Stadt. Dafür, dass jährlich immer mehr kamen, beschuldigten die Einwohner Onkel Victor, der es mit seinen Pensionen möglich machte. Auch hieß es, Onkel Victors Pensionen, die mit den schneeweißen Grandhotels, ihren Portalen, Wintergärten und Dachterrassen keine Ähnlichkeit hatten, verschandelten das Stadtbild. Onkel Victor gab nichts auf die Meinung der Leute. »Sie haben mich nie gemocht, und sie werden mich nie mögen«, sagte er. »Nur für dich hätte ich es gern anders gehabt.«
Hedwig aber legte nur Wert auf das, was Horatio dachte, und dem waren die Grandhotels einerlei. »Die Welt verändert sich«, sagte er. »Je leichter das Reisen wird, desto mehr Menschen nehmen sich das Recht dazu.«
Sie senkte den Blick, damit das Gewirr der fremden Gesichter keinen Angstanfall auslöste. Das Mädchen beeilte sich mit der Abfertigung, doch dann erhob sich eine Stimme aus dem Gewirr der übrigen. »Ist das nicht Miss March? Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie kurz begrüße?«
Das Mädchen hatte Anweisung, Hedwig vor derlei Versuchen abzuschirmen. »Ich bedaure, Sir. Miss March ist für niemanden zu sprechen.«
Hedwig hätte längst beginnen müssen, sich vor Angst zu krümmen, aber die Stimme gefiel ihr. Etwas Angenehmes, Dunkles lag darin, das Behagen auslöste, und zudem hatte sein Tonfall keinen fremden Akzent.
»Aber ich sehe Miss March doch dort hinter dem Vorhang sitzen«, sagte der Fremde mit der seltsam vertrauten Stimme. »Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Ich halte sie gewiss nicht lange auf.«
»Das ist wirklich nicht möglich, Sir. Wenn Sie mir jetzt Ihre Zimmernummer nennen wollen …«
»Oh, ich bin gar kein Gast Ihres Hauses. Ich kam nur vorbei, um Miss March einen Gruß meines Sohnes auszurichten. Wie schade, dass es nicht möglich ist.«
Hedwig sprang auf und zog den Vorhang zurück. Vor dem Empfangstisch stand ein kleiner, gebeugter Mann, der sein eisengraues Haar dicht an den Kopf gekämmt trug. Es gab keine benennbare Ähnlichkeit, und doch wusste Hedwig, wer der Mann war, noch ehe er seinen Namen nannte.
»Gestatten Sie?«, fragte er und schob eine Karte über den Tisch. »Mein Name ist Weaver. Vielleicht könnten Sie ja Miss March zumindest meinen Gruß ausrichten?« Dann blickte er auf und strahlte Hedwig an.
Als Amelias Leib zu schwellen begann, jagte die Wirtin sie beide aus dem Zimmer. Sie unterhalte kein Haus voller Lotterbetten und könne sich einen Skandal nicht leisten. Eine Nacht mussten sie auf dem Bahnhof verbringen, in der Kammer, aus der Charles sich morgens Besen und Kehrschaufel für seine Arbeit holte. Charles war verzweifelt und beschimpfte sich. Nicht einmal ein Dach über dem Kopf könne er seiner Liebsten verschaffen, sondern lasse sie wie eine Bettlerin durch die Straßen ziehen. Amelia tröstete ihn. Es war kalt und feucht in der Besenkammer, aber mit Charles wäre sie überall hingegangen. Er war ihr Zuhause. Wo sie ihn hatte, wusste sie, dass am Ende alles sich fügen und zum Guten wenden würde.
Ihr Vertrauen gab ihm Kraft und bescherte ihnen Glück. Anderntags ließ sein Dozent ihn wissen, dass er fürs Erste in einem Zimmer im Dachstuhl des Lehrgebäudes unterkommen könne. Es gab weder Bett noch Kamin dort, aber der Dozent überließ es ihnen mietfrei, und nach der Nacht auf dem Bahnhof fühlte sich Amelia in dem vor der Welt versteckten Dach wie im Paradies. Die Menschen hatten ihnen weh getan und sie ausgestoßen, doch beieinander waren sie vor allen Verletzungen geschützt. Aus Decken bauten sie sich ihr Bett. Solange der Sommer währte, war es warm unter dem Dach, und bis der Winter kam, würde sich schon etwas finden. Sie hatten im Leben wenig Glück gehabt, doch seit sie ihre Liebe hatten, wachte über ihnen ein guter Stern.
Sie vereinbarten ein Zeichen zwischen sich. Den einen Schlüssel, den sie besaßen, behielt Amelia, falls sie tagsüber das Zimmer verlassen wollte. Amelia wollte das Zimmer nie verlassen, aber Charles fand, sie solle nicht wie eine Gefangene leben. Wenn er nach Hause kam, ging er zuerst in den kleinen Vorlesungssaal unter ihren Dielen und klopfte von der obersten Bankreihe dreimal an die Decke. Damit wusste Amelia, dass er auf dem Weg war, und während er die Treppe hinaufeilte, war sie schon außer sich vor Freude.
Immer wieder sagte er ihr, er wolle sie heiraten, ehe das Kind komme, sie bräuchten nur irgendein Papier, um sich auszuweisen, und müssten seit neuestem auch nichts mehr für die Kirche zahlen. Diesen Wunsch jedoch schlug Amelia ihm ab. Sie sei ohnehin seine Frau, sie brauche keinen Trauschein dafür.
»Aber ihr hättet Sicherheit. Ein verheirateter Mann muss für Frau und Kind sorgen, während ein Junggeselle sich einfach aus dem Staub machen kann.«
»Du sorgst für uns«, erwiderte Amelia. Dass er sie liebte, war ihr genug. Er war der einzige Mensch, der es je getan hatte, und gemeinsam würden sie ihr Kind lieben. Der bloße Gedanke, ihre Verbindung offiziell registrieren zu lassen, erfüllte sie mit derselben Furcht, die sie als Kind bei Gewittern gequält hatte. Sie wusste, es wäre das Ende. Man würde sie ausfindig machen und ihr alles rauben. Insgeheim befand sie, es sei schon ein Fehler gewesen, jenen Brief zu schreiben. Zwar musste die Mörderin froh sein, sie vom Hals zu haben, aber reizen durfte sie sie nicht. Wenn sie fortfuhr, auf sich aufmerksam zu machen, würde sie kommen, um sie zum Schweigen zu bringen.
Charles gab ihr nach. Es war ohnehin der einzige Punkt, über den sie stritten, in allem anderen waren sie ein Herz und eine Seele. Wenn Charles vom Straßenverkauf ihr Abendessen kaufte, wählte er genau das, was Amelia sich gewünscht hatte. Jedes Geschenk, das er ihr brachte, gefiel ihr, und wenn er etwas sagte, war es, als könnte man überhaupt nicht anders denken. Sie war glücklich, und es gab nichts, das sie belastete, keine Sorge um die Zukunft, nur die ständige Angst, ihr Glück könne ihr genommen werden.
Stattdessen wuchs ihr Glück. Charles fand eine weitere Arbeitsstelle. In einer anderen Fakultät des Instituts hatte irgendwer ein absonderliches Gerät zur Lichterzeugung gebaut, und aus London sollten etliche Leute anreisen, um es zu begutachten. Zu diesem Anlass hoffte das Institut den Status einer Universität zu erlangen, weshalb es Eindruck schinden und mehrere Säle neu tapezieren lassen wollte. Charles kam als Gehilfe der Tapezierer unter. Amelia gab nichts aufs Geld, aber Charles war so froh, dass seine Freude sie ansteckte. »Wenn das Institut zur Universität erklärt wird, könnte ich hier meinen Abschluss machen. O meine liebste Amelia, ich will wie ein richtiger Mann für euch sorgen, ich will, dass ihr alles bekommt, was ihr euch wünscht.«
»Wir wünschen uns dich«, sagte Amelia, schmiegte sich an ihn und fühlte sich in einer Muschel aus Liebe geborgen.
Und dann schlug eines Tages ein anderer an die Decke unter den Dielen. Woran sie erkannte, dass es nicht Charles war, wusste sie nicht – vielleicht, weil Charles nie um die Mittagszeit nach Hause kam. Mit jagendem Herzen floh Amelia in eine Ecke des Zimmers und zog alle Decken über sich. Für Stunden kauerte sie dort, bis endlich Charles’ Zeichen ertönte und sie sich mühsam aus der Starre löste. Vor Erleichterung weinte sie, als er sie in die Arme schloss. Sie sei eingeschlafen und habe schlecht geträumt, erzählte sie, aber jetzt sei alles wieder gut.
Er wirkte selbst verstört. Auf ihr Drängen versicherte er, es sei nichts, nur ein Mann, der ihn den Tag über verfolgt habe. »Er war aber völlig harmlos, er suchte jemanden und dachte, ich könne ihm helfen. Als ich ihm sagte, ich hätte keine Ahnung, zog er seiner Wege. Wir dürfen uns nicht so schnell ins Bockshorn jagen lassen. Was kann uns schon geschehen?«
Amelia lehnte unter der von der Sonne warmen Dachschräge und spürte, wie ihre Hände kalt wurden. »Wie hieß denn der, den er gesucht hat?«, fragte sie so beiläufig, wie sie konnte.
»Nicht der«, antwortete Charles, »sondern die. Er hat mich gefragt, ob ich eine junge Dame kenne, die Chastity Weaver heißt.«