Kapitel 15

September

Die Saison ging zu Ende.

Die Rosenstöcke im Garten hingen schwer von der Pracht der Herbstrosen. Mildred hatte dort, wo es am feurigsten blühte, Tische und Stühle aufgestellt, damit ihre Gäste in der Süße des sterbenden Sommers ihren Tee einnehmen konnten. Sie hatte Kinder aus dem Ort die Äpfel und Zwetschgen pflücken und Sarah daraus Eingemachtes kochen lassen, das sie mit Zimt und Anis auf zartem Porzellan servierte. »Hier am Meer duftet alles stärker«, hatte sie zu den Gästen gesagt, als wäre sie hier geboren. »Nehmen Sie die Düfte Ihrer Ferien mit, und lassen Sie sich an grauen Wintertagen davon trösten.«

Sie wusste nicht, woher ihr solches Gerede kam, aber die Gäste mochten es. Sie mochten alles auf Mount Othrys und fragten Mildred, ob sie für die nächste Saison im Voraus buchen könnten, und wie schade es doch sei, dass Mildred so wenige Zimmer vermiete, denn Mount Othrys sei genau das, was man den Nachbarn oder dem Geschäftsfreund gern empfohlen hätte. Ein Reeder aus Liverpool, der mit seiner Frau bei ihr logierte, hätte im kommenden Jahr gern das ganze Haus gemietet. »Es gefällt uns bei Ihnen, Miss Adams«, hatte die junge Frau gesagt. »Es hat das gewisse Etwas, auf das man in unseren Kreisen Wert legt, aber leider ist man so schrecklich beengt. Wenn Sie sich entscheiden könnten, uns mehr Raum zur Verfügung zu stellen, schreiben Sie bitte meinem Mann.«

Wider Erwarten hatte Mildred Freude an der Zimmervermietung und sah der Abreise der letzten Gäste beklommen entgegen. Sie hatte diese Sache aus der Not heraus begonnen, sie wusste, dass Maria Lewis und Bernice Weaver sich darüber die Mäuler zerrissen. Sie hatte den Gedanken an Fremde, einen Teil von Mount Othrys Fremden zu überlassen, gehasst, aber so war es nicht gewesen. Die Zimmervermietung war ihr Eigen, es war der Teil von Mount Othrys, der wahrhaftig ihr gehörte. »Mount Othrys Hotel, M. Adams« stand auf den rahmweißen Karten, die sie hatte drucken lassen. Kein weiterer Name, nur der ihre.

Sie hatte Freude daran, vor der Abreise Geld einzustreichen, es zu zählen und die Summe in ein Buch einzutragen, das zwei Spalten hatte, eine für Ausgaben und eine für Einnahmen. Auf ihr Drängen überließ ihr Hyperion auch seine Einkünfte zur Verwaltung. Sie trug jede Summe gewissenhaft ein und sparte, wo sie konnte. Irgendwann wurden die Zahlen in der Einnahmenspalte geringfügig größer als die in der anderen. Von dem Geld, das sie verwandte, um Rechnungen zu begleichen oder das Nötigste nachzukaufen, blieb auf einmal etwas übrig.

Es ist mein, dachte sie. Ich habe sonst nichts, aber das Geld steht mir zu, ich gehe hin und werfe es zum Fenster hinaus. Statt im billigsten Stoff herumzulaufen, lasse ich mir das teuerste Kleid der Stadt schneidern. Sie hatte für den Morgen ihre Arbeit erledigt, sie konnte sich ein paar freie Stunden gönnen. Ihr Pferd satteln und in die Stadt reiten, alle brüskieren, die mit dem Finger auf sie zeigten. Während sie sich vor dem Spiegel mühte, ihr schreckliches Haar zu bändigen, versuchte sie an das Kleid zu denken, das sie sich kaufen wollte, aber in ihrem Kopf entstand kein Bild. Früher hatte sie sich alles, was sie sich wünschte, vor ihr geistiges Auge zaubern können, das Haus in Australien, den Salon, das Klavier, aber jetzt schien es, als hätten ihre Wünsche ihre Kraft verloren.

Als sie die Treppe hinunterstieg, sah sie Daphne, die mit dem Kind aus der Küche hinaufkam und im Gehen mit Sarah sprach. Sie trug einen Picknickkorb am Arm und wollte wie so oft mit dem Jungen zum Strand. Aus den Zimmertüren fiel Spätsommersonne in die Halle, und das Kind und Daphne, beide in hellen Kleidern, sahen aus wie vergoldet. Am Anfang des Sommers hatte Daphne sie häufig gefragt, ob sie mitkommen wolle, aber sie hatte immer zu tun gehabt, und irgendwann hatte Daphne aufgehört zu fragen.

»Louis lässt Ihnen für die Teekuchen danken«, rief Daphne hinunter zu Sarah. »Ich muss aufpassen, dass er sie nicht alle allein verdrückt und Bauchweh bekommt.«

»Von meinen Teekuchen bekommt unser Liebling kein Bauchweh«, entgegnete Sarah, »nur runde rote Wangen.«

Das Kind, das für sein Alter erstaunlich beredt war, sagte etwas, das nur seine Mutter verstand. Daphne lachte, beugte sich hinunter und küsste es auf den Kopf. Mildreds Blick saugte sich an den beiden Händen fest, der Erwachsenenhand ihrer Schwester und der kleinen des Kindes, die sich vertrauensvoll an der größeren festhielt, derweil es in seine Welt hinaushüpfte, frei von Angst, von der Hand seiner Mutter beschützt.

Wie konnte Daphne einen Menschen beschützen, wie konnte dieses winzige Geschöpf sich auf Daphne verlassen, die doch selbst ein Kind war und zu schwach, um einen Sturm zu überstehen?

Das Kind zerrte, bis Daphne den Korb abstellte und erlaubte, dass der Junge sich darüberbeugte. Der Henkel war mit blauen Rosen umwunden, die Daphne liebte und im Garten schnitt. Louis riss alles beiseite, langte in den Korb und förderte einen roten Apfel zutage, den Sarah für ihn poliert hatte. Er besaß erst wenige Zähne, mehr als drei kleine Bissen würde er nicht schaffen und die Frucht dann liegen lassen. Und statt ihn zu tadeln, würden sie alle lachen, weil dem Goldkind kein Mensch etwas übelnahm.

Mildred hatte den Jungen hassen wollen. Dieses Geschöpf, um das sie alle ein Wesen machten, als hätte es vor ihm auf der Welt keine Bälger gegeben, war schuld daran, dass Daphne beinahe gestorben war. Mildred hatte alles tun wollen, nur nicht den Jungen lieben. Jeder liebte ihn ja und betrug sich wie ein gackerndes Huhn, sobald er ihn sah. Selbst die tumbe Priscilla und die Teufelin Nell. Und der Junge liebte sie alle, er jauchzte, sobald er die gehässige Alte erblickte oder den Säufer, der die Kohlen brachte, oder den stinkenden Fischhändler. Oder Mildred.

Mit gerade neun Monaten hatte er laufen gelernt und stand seither nicht mehr still. Eines Tages hatte Mildred im Garten Geschirr abgeräumt, und Daphne war vom Strand gekommen, da hatte das Kind sie entdeckt und sich von der Hand seiner Mutter losgerissen, um mit trommelnden Schrittchen auf sie zuzustürmen. Dabei stieß er Glückslaute aus wie eine kleine Taube. Man tat es ganz von allein – ging in die Hocke und breitete die Arme aus, fing den kleinen, vor Leben bebenden Körper an seinem eigenen, rieb die flaumweiche Wange und vernahm die Stimme einer Erinnerung, die man nicht beim Namen kannte.

Louis hielt den Apfel, in den er seine Perlenzähnchen geschlagen hatte, Daphne hin. »Kleine Mutter! Süß!«

Daphne kniete nieder. »Wenn du es willst, mein Sonnenschein.« Behutsam nahm sie ihm den Apfel ab und biss hinein. »Danke, ach danke. Das ist ganz köstlich.«

Gemeinsam wickelten die vier Hände den Apfel in ein Tuch und legten ihn in den Korb. Daphne steckte eine der blauen Rosen, die sie Mondrosen nannte, mit Louis’ Hilfe an ihr Kleid, dann stand sie auf und nahm das Kind bei der Hand. »Auf Wiedersehen, Sarah! Wir bringen Ihnen eine Muschel mit.«

Ehe die beiden die Tür erreichten, trat Mildred die letzten Stufen hinunter. »Daphne«, rief sie und leiser: »Mein Sperling.«

Der kleine Junge jauchzte.

»Oh, Mildred, guten Morgen«, stammelte Daphne, als hätte Mildred sie bei etwas Verbotenem ertappt.

»Ich dachte, ich könnte mit euch zum Strand kommen. Es ist nicht mehr so viel Arbeit, jetzt, wo die Gäste abreisen, und ein paar Stunden am Meer bekämen mir nicht schlecht.«

Bildete sie es sich ein oder rückten die beiden enger zusammen? Wenn Mildred von Kindern geträumt hatte, so hatte sie immer Töchter gesehen, blonde Mädchen an Klavieren. Jetzt aber, während sie Louis ansah, begriff sie, dass sie ein solches Kind hätte haben sollen, einen goldblonden Sohn, der einmal in die Welt hinausgehen und Großes tun würde, Stolz seiner Mutter und seines Vaters, der ihr ewig danken würde.

Hyperion dankte Daphne ewig, weil sie ihm den Sohn geboren hatte. Auf einmal wünschte Mildred, das Kind möge sich wieder losreißen und ihr entgegenstürmen, doch es blieb bei Daphne. »Ach«, machte diese. »Das ist wirklich nett, Milly …«

»Du hast gesagt, du würdest dich freuen.«

»Ja, gewiss doch, Milly, es ist nur …« Sie sprach nicht weiter, und doch hörte Mildred jedes ungesprochene Wort: Es ist nur so, dass ich inzwischen gelernt habe, wie schön es ohne dich ist.

»Vergiss es«, sagte Mildred. »Die Idee war wohl doch nicht gut, die Arbeit macht sich schließlich nicht von selbst.«

»Du sollst nicht so viel arbeiten, Milly. Du reibst dich für uns auf.«

Und wenn ich es nicht mehr täte, was sollte aus euch werden? »Überlass das mir, geh zum Strand und genieß die Sonne.«

»Und du willst wirklich nicht mitkommen?«

»Nein, das will ich nicht.«

Nach kurzem Zögern gingen die beiden zur Tür und traten hinaus ins goldene Licht. Mildred blieb am Fuß der Treppe stehen und war sicher, dass hinter einem Türpfosten Nell lauerte und Mühe hatte, nicht zu feixen. Schließlich drehte sie sich um und ging, um ihr Geld zu holen.

Sie ritt in die Stadt und kam erst kurz vor dem Abend wieder, aber sie kaufte kein Kleid. Sie besuchte den Markt in Portsea und kaufte ein Shetlandpony, eine braun und weiß gefleckte Stute mit seidiger Mähne, die fast bis zum Boden reichte. Sie gab noch das Geld, das für die nächste Woche gedacht war, aus und erwarb einen roten Sattel und ein Zaumzeug dazu. Das Tier sollte am nächsten Morgen gebracht werden. Ich werde nie ein Kind haben, aber ich habe Louis. Ich bin seine Tante, ich kann ihm geben, wozu seine schwachen Eltern nicht imstande sind.

Als sie nach Hause kam, glich die Halle einem Hühnerhaus. Sarah, Nell und Priscilla liefen wie aufgescheucht umher, das Kind hockte in einer Ecke und weinte, der Arzt aus Portsmouth verließ das Haus, und Max wurde geschickt, um Hyperion zu holen. Daphne hatte am Strand einen Schwächeanfall erlitten. Ein Paar aus Manchester, das auf dem Altenteil logierte, hatte sie samt dem verzweifelten Kind nach Hause geschafft. »Sie will ihren Jungen sehen«, sagte Nell zu Priscilla.

»Aber sie ist doch krank!«, rief Mildred und wollte sich Louis zuwenden, der herzzerreißend weinte.

»Sie will ihn sehen«, beschied sie Nell, und Priscilla trat vor den Kleinen und sagte ihm, er dürfe jetzt zu seiner Mutter. Auf der Stelle beruhigte er sich und schlang ihr die Ärmchen um den Hals. Mildred wollte ihr hinterhereilen, aber Nell hielt sie zurück. »Sie werden dort oben nicht gebraucht. Gehen Sie und kümmern sich um Ihr Geschäft, denn von uns will es keiner am Hals haben.«

»Meine Gäste sind versorgt«, fauchte Mildred. »Und ob meine Schwester mich braucht, entscheiden nicht Sie. Sie wissen nichts von uns, nichts, nichts, nichts.«

Nell versuchte zwar sie aufzuhalten, aber Mildred schüttelte sie ab, lief die Treppe hinauf und riss Daphnes Tür auf. In dem gewaltigen Bett wirkte Daphne verloren. Sie hielt den Jungen im Arm. Ihr Gesicht hatte die Farbe der Laken, und ihr Haar war zerzaust.

Liebe überwältigte Mildred. Diese schmächtige Frau hatte sie verraten, sie verriet sie gerade wieder. Während ihr Tränen die Wangen hinabströmten, sang sie mit zitternder Stimme:

»Lavendel ist blau, dilly dilly,

Lavendel ist grün.

Wenn ich erst Königin bin, dilly dilly,

Bist du mein König.«

Sie hatte ihr Lied gestohlen, das Lied, das Mildred und Daphne gehörte, hatte es entstellt und einem anderen geschenkt. Mildred wollte gehen und die Tür hinter sich ins Schloss werfen. Etwas in ihr spürte, dass ihr noch schlimmerer Verrat bevorstand, aber sie konnte nur tun, was sie immer getan hatte. Sie lief zu Daphne, warf sich vor dem Bett nieder und umarmte sie.


Daphne wollte aufhören zu weinen, sie wollte ihrem Kind ein fröhliches Gesicht bieten, aber die Tränen strömten einfach weiter. Was habe ich nur getan, o mein Gott, was habe ich getan? Louis krallte die winzigen Finger in ihre Arme und weinte mit. »Kleine Mutter«, brachte er unter Schluchzen hervor. Irgendwann hatten sie begonnen einander »kleine Mutter« und »kleiner Louis« zu nennen, aus keinem Grund, als weil sie sich so sehr liebhatten. Jetzt klangen die Koseworte, die der Kleine stammelte, wie Hilferufe.

Das Erlebnis am Strand musste entsetzlich für ihn gewesen sein. Sie hatten mit diesem netten Paar, das bei Milly eingemietet war, in den Kieseln Schienen für Louis’ Lok aus Blech gebaut, als ihr schwindlig wurde und sie das Bewusstsein verlor. Der Glanz des Sommers war auf einen Schlag verloschen. Als sie zu sich kam, lag sie in ihrem Bett, der Arzt war bei ihr, und sie blutete aus einer Wunde an der Schläfe, wo sie in den Kieseln aufgeschlagen war.

»Kleine Mutter«, schluchzte Louis. Daphne drückte ihn noch fester an sich. Hatte er geglaubt, sie wäre tot? Bei dem Gedanken wurde Daphne übel. Es war ja Unsinn, ihr Junge war noch viel zu klein, um vom Tod zu wissen. Aber was war, wenn es Wirklichkeit wurde?

Was ist, wenn ich sterbe?

Hatte nicht Mildred ihr oft genug erklärt, sie sei für Strapazen zu schwach? War nicht ihre Schwäche der Grund dafür, dass Hyperion sie aus seinem Leben ausschloss, seine Sorgen nicht mit ihr teilte und ihr Bett zu meiden suchte? So heftig, wie sich Louis an sie klammerte, klammerte sie sich an ihn. Wenn Mildred und Hyperion recht hatten, was wurde aus ihrem Kind? Mildred und Hyperion war sie zu nichts nütze, aber diesem einen Geschöpf war sie die Welt. Für ihn war sie unersetzlich, ihr kleiner Junge durfte nicht mutterlos sein! Sie schluckte die Tränen hinunter, auch wenn sofort neue kamen, und begann zu singen. Sie hatte Mildreds Lied ein wenig umgedichtet, er mochte es so gern wie sie.

»Wer sagt dir das, dilly dilly,

Wer sagt dir so?

Mein eigen Herz, dilly dilly,

Das sagt mir so.«

Er musste völlig erschöpft sein, denn er wurde sogleich in ihren Armen schwer. Daphne sang weiter und hielt die süße Last umschlungen. Ich behüte dich, das verspreche ich dir. Wir zwei sind untrennbar, ich lasse dich nie allein.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Mildred war ins Zimmer gekommen, warf sich auf die Knie und umarmte Daphne. »Vorsicht«, flüsterte diese, »Louis ist gerade eingeschlafen.« Dann aber ließ sie sich in Mildreds Arme fallen und weinte die Angst wie als Kind aus sich heraus.

Später, als sie zu Atem gekommen war, erlaubte sie Mildred, ihr den Jungen abzunehmen und an ihre Seite zu betten, so nah, dass sie den warmen kleinen Körper noch spürte. Dann ging Mildred zum Waschtisch, machte ein Tuch nass und rieb ihr mit kühlem Wasser das Gesicht ab. »Sag mir, was dir geschehen ist.«

»Nichts.« Daphne versuchte ein Lächeln, das gründlich misslang. »Die Hitze war wohl nur ein bisschen viel für mich.«

»Es ist September«, versetzte Mildred trocken. »Das milde Wetter solltest selbst du ertragen.«

Wie von selbst sprudelten die Worte: »Ach Milly-Milly, ich habe solche Angst. Ich habe mir so sehr gewünscht, Hyperion noch ein Kind zu schenken, ich bin so glücklich gewesen, aber jetzt weiß ich, dass du recht hattest, ich bin zu schwach, ich hätte mein Schicksal nicht herausfordern dürfen, und wenn ich sterben muss, was wird dann aus meinem Sohn?«

Was Mildred sagte, hörte sie nicht, ihr Schluchzen übertönte es.

»Ich habe dir so viel Mühe gemacht, und ich habe Hyperion so viele Sorgen aufgebürdet, mir steht nicht zu, dass ihr mich liebt. Aber mein kleiner Junge braucht mich. Er kann keine andere Mutter haben als mich.«

Hart umschloss Mildreds Hand ihr Kinn. »Wovon redest du?«

Daphnes Schluchzen erstarb. Sie hatte es vergessen. Dass Hyperion sie gebeten hatte, Mildred noch nichts zu sagen, fiel ihr erst jetzt wieder ein. »Ich bin noch einmal in der Hoffnung«, stieß sie aus. »Ich weiß, du hast gesagt, ich darf es nie mehr sein, aber ich habe deine Warnung in den Wind geschlagen. In der Schwangerschaft mit Louis ging es mir gut, habe ich gedacht, weshalb soll es nicht auch diesmal gutgehen? Und jetzt muss ich sterben, und ich darf doch meinen Jungen nicht alleinlassen.«

»Du bekommst ein Kind?«, schrie Mildred. »Dieses Tier hat dir ein Kind gemacht?«

»Milly, ich bitte dich! Hyperion ist …«

»Ein Tier ist er, ein widerliches, viehisches Tier!« Mildred war aufgesprungen. Überlebensgroß baute sie sich über Daphne auf und schrie. »Ein Mann, der Medizin studiert hat, der sich brüstet, Leben zu retten, geht nach Hause, krempelt die blutverschmierten Ärmel hoch und setzt das Leben seiner Frau aufs Spiel.«

Das Gesicht von Ekel verzerrt, spuckte Mildred auf den Boden. Daphne krümmte sich auf dem Bett zusammen und hob die Arme vors Gesicht, als wollte die Schwester sie schlagen. Übelkeit schoss ihr in die Kehle. Der kleine Louis wimmerte im Schlaf.

»Wie weit bist du?«, verlangte Mildred zu wissen.

Daphne zog ihren Sohn zu sich. »Schon seit Mai.«

»Und in all der Zeit hast du mir kein Wort davon gesagt?«

»Hyperion …«, entfuhr es Daphne, ehe sie der Verräterin, die sie war, auf den Mund schlagen konnte.

»Hyperion hat es dir verboten, ja? Sag nur der bösen Mildred nichts, hat er dir eingewispert. Er ist nicht nur viehisch, sondern obendrein feige, aber du mit deinem Herzen aus Butter kannst deinem feigen Vieh natürlich nichts abschlagen.«

Es tat viel mehr weh als Schläge. Jedes der hässlichen Worte, die sie gegen Hyperion schleuderte, versetzte Daphne einen Hieb. Du kennst Hyperion nicht!, wollte sie Mildred entgegenrufen. Ja, er ist wie ich erfüllt von Angst, einen Menschen zu erzürnen, doch in seinem Herzen ist keine Faser, die feige ist. Er spricht nicht davon, aber ich weiß, was er getan hat, ich weiß es von Nell, von den Vernons, von jedem, der ihn kennt. Er hat seinen Vater erzürnt, weil er um jeden Preis Arzt werden wollte. Er ist in einen grausamen Krieg gezogen, weil ihm das Leid von Menschen keine Ruhe lässt. Er zögert nicht, ein nutzloses Mädchen aus Whitechapel zu heiraten, egal, was alle Welt von ihm denkt, und er ließe mich niemals im Stich. Für mich hat er mehr Heldenmut als Herkules.

Es gab noch mehr, das sie Mildred hätte sagen können, endlose Einzelheiten, für die Hyperion Liebe und Hochachtung verdiente. Wie kannst du denn wissen, wie er ist, wenn er es selbst nicht weiß? Er gäbe dir ja in allem recht und beschimpft sich mit ärgeren Worten als du. Am meisten weh tat Daphne, dass sie ihren treuen, liebevollen Mann nicht verteidigte, sondern der Schwester erlaubte, Schmutz über ihn auszuschütten, während sie sich an ihrem Jungen festhielt und wimmerte, als wäre sie nicht älter als er.

»Mir hat er versprochen, dich zu schonen«, setzte Mildred nach. »Er hat so geweint, als du bei Louis’ Geburt fast gestorben wärst, und ich Idiotin habe ihm geglaubt, während er insgeheim geplant hat, sich wie ein Hundsfott wieder auf dich zu stürzen.«

Vor Schmerz und Übelkeit stöhnte Daphne auf.

»Ich schicke nach dem Arzt«, sagte Mildred. »Gib mir das Kind.«

Daphne umklammerte Louis und schüttelte den Kopf.

»Du musst Ruhe haben. Ich sorge für ihn.«

Das kannst du nicht, Milly-Milly. Ich weiß, du konntest alles, was ich nicht konnte, aber dieses eine, für meinen Jungen sorgen, kann nur ich.

Ehe Mildred versuchen konnte, ihr das Kind zu entreißen, öffnete sich die Tür. Daphne wandte den Kopf und sah durch Tränenschleier ihren Mann. Wie so oft trug er keinen Hut, sein Haar hing wirr, sein Gesicht schien vor Sorge grau. Sie wollte zu ihm laufen, ihn in die Arme schließen, aber sie hatte keine Unze Kraft.

»Verschwinde, ehe ich mich vergesse«, hörte sie Mildred sagen. Ihre Stimme war vor Verachtung kalt. »Wir beide reden später, derzeit ist das Leben meiner Schwester wichtiger als ein Feigling, der weder Scham noch Mitgefühl kennt.«

Er ist kein Feigling, wollte sie rufen, aber sie sah nur stumm zu, wie ihr Mann sich von Mildred aus dem Zimmer schicken ließ. Dann war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie ließ Louis los, reckte den Kopf aus dem Bett und übergab sich.

Die Mondrose
titlepage.xhtml
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_000.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_001.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_002.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_003.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_004.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_005.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_006.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_007.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_008.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_009.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_010.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_011.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_012.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_013.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_014.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_015.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_016.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_017.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_018.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_019.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_020.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_021.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_022.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_023.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_024.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_025.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_026.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_027.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_028.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_029.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_030.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_031.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_032.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_033.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_034.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_035.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_036.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_037.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_038.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_039.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_040.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_041.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_042.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_043.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_044.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_045.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_046.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_047.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_048.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_049.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_050.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_051.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_052.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_053.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_054.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_055.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_056.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_057.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_058.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_059.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_060.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_061.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_062.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_063.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_064.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_065.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_066.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_067.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_068.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_069.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_070.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_071.html
CR!0TZEJJMQX978FF4SGD71D4PRGGXF_split_072.html