Kapitel 18
Herbst
Kann ich Sie sprechen?« Mitten unter den hustenden, stöhnenden Patienten am Empfang hatte Louise Vernon gestanden, eine kleine, auf rührend altmodische Weise elegante Frau, die häufig hier auf ihren Mann gewartet hatte, Hyperion jetzt jedoch erschien wie aus einer anderen, verlorenen Welt. Er hatte sie seit dem Begräbnis nicht gesehen. Sie abzuweisen kam nicht in Frage, auch wenn er dem Zeitplan wie üblich hinterherhinkte. Kurzerhand übergab er Lawleigh die Verantwortung für den Empfang und ging mit ihr ins Büro des Klinikleiters, in dem die Präsenz ihres Mannes noch immer spürbar schien.
Kaum saß sie ihm gegenüber, öffnete sie ihre Handtasche, entnahm ihr ein Bündel Banknoten und legte sie vor ihn auf den Tisch. »Fahren Sie nach London«, sagte sie. »Fassen Sie es nicht als Geschenk auf, sondern als einen Gefallen, den Sie mir tun. In Fergus’ Namen. Sie wissen, er hätte gewollt, dass Sie fahren.«
»Das kann ich nicht annehmen«, stammelte Hyperion, in dessen Kopf sich Gedanken überschlugen. In London stand der erste internationale Kongress der Kontagionisten bevor. Mediziner aus dem Süden Europas, wo die Ansteckungstheorie längst als gesichert galt, würden ihre Erkenntnisse vorstellen, und es stand zu erwarten, dass die Theorie im eigenen Land endlich einen Schritt vorankam. Bisher war Pacinis Entdeckung des Cholera-Erregers in England ungehört verhallt. Wenn sich jetzt aber anerkannte Wissenschaftler aus aller Welt dafür starkmachten – wie viele Leben mochte das retten? Hyperion war sicher gewesen, die Einladung ausschlagen zu müssen. Wie hätte er vier Wochen lang Portsmouth den Rücken kehren sollen, wie Reise und Aufenthalt finanzieren, wie vor allem seinen Verdienstausfall abdecken? Dass Mildred zu dem Unternehmen ihre Zustimmung gab, war undenkbar, und dass er etwas ohne Mildreds Zustimmung tat, noch undenkbarer.
»Sie müssen es nehmen«, sagte Louise Vernon. »Was soll ich sonst damit tun, wie Fergus’ Andenken am Leben halten? Er fehlt mir, Hyperion. Fehlt er Ihnen nicht?«
»Doch«, erwiderte Hyperion. »Jeden Tag.« Seit sein Doktorvater nicht mehr am Leben war, hatten seine Zweifel sich zu Dämonen ausgewachsen. Dennoch geschah es ihm, dass er über den Verlust des Freundes geradezu erleichtert war. Zumindest bestand keine Gefahr, dass Fergus Vernon je erfahren würde, wie schändlich sein Protegé Werte, die sie geteilt hatten, mit den Füßen trat.
»Fahren Sie für ihn.« Louise Vernon sah ihm ins Gesicht. »Tragen Sie dem Kongress vor, was Sie beide erarbeitet haben. Es war sein Lebenswerk. Wer, wenn nicht Sie, könnte es der Welt übergeben?«
Hyperion zwang sich ein Lächeln ab, von dem er spürte, wie falsch es geriet. »Wenn ich tatsächlich Zeit finde, zum Kongress zu reisen, dann nicht mit Ihrem Geld, Louise.«
»Sie haben doch keines!«, rief sie. »Nein, versuchen Sie nicht, mir etwas vorzugaukeln. Glauben Sie, ich wüsste nicht, dass Ihre Schwägerin Ihnen den letzten Tropfen Blut abpresst? Ganz Southsea weiß es, und schämen müssen Sie sich vor mir dafür nicht, mir tut es aus tiefstem Herzen leid um Sie. Wenn ich einen Weg wüsste, Sie und Daphne von dieser Fuchtel zu befreien, dann würde ich nicht zögern, ihn zu gehen.«
»Sie dürfen das so nicht sehen«, wandte Hyperion lahm ein. »Wir verdanken Mildred unendlich viel. Die Stadt tut ihr Unrecht – sie liebt Daphne über alles und täte ihr nie ein Leid.« Es sei denn, ein Mann, der tierischer ist als der letzte Dreckskerl aus Londons Gosse, verführt sie dazu, fügte er im Stillen hinzu.
»Darüber kann man geteilter Ansicht sein«, bemerkte Louise spitz. »Meiner Meinung nach fügt man einer Frau durchaus ein Leid zu, wenn man ihren Mann von ihr fernhält und ihr einredet, sie sei nicht in der Lage, für ihre Familie zu sorgen. Daphne ist zart, aber sie ist keine Invalidin. Im Gegenteil, als sie bei uns lebte, erschien sie mir trotz der überstandenen Krankheit zäher als manch stark gebautes Weibsbild. Ist Ihnen wirklich nie in den Sinn gekommen, dass es Mildred sein könnte, die Sie hindert, mit Ihrer Frau und Ihren Kindern glücklich zu sein?«
»Dass Sie so von ihr sprechen, erlaube ich nicht«, protestierte Hyperion. »Nicht einmal Ihnen. Mildred täte alles für Daphne.«
»Und für Sie?«
Er schwieg.
Sie schob ihm das Geld zu. »Fahren Sie auf den Kongress. Ihre Begabung stellt eine Verpflichtung dar. Und vielleicht verhilft Ihnen ein wenig Abstand vom häuslichen Leben ja zu neuen Erkenntnissen.«
Der Gedanke war verlockend. Liebend gern hätte er das unlösbare Dilemma, die immer tiefere Verstrickung in Schuld vier Wochen lang hinter sich gelassen, um sich allein seinem Beruf zu widmen. Womöglich würde es ihm wirklich neue Erkenntnisse bescheren, einen Weg, dem Kreislauf des Unheils zu entkommen. Die Sehnsucht nach dem Leben, das er mit Daphne und Louis geführt hatte, nahm ihm zuweilen den Atem. Gab es eine Möglichkeit, dieses Leben zurückzugewinnen, trotz all der Schuld, die er auf sich geladen hatte? Er sah, wie seine Hand sich nach dem Geld streckte, zog sie im letzten Moment aber wieder zurück. »Es ist nicht machbar, Louise. Ich kann mir nicht leisten, meine Patienten zu verärgern, indem ich vier Wochen lang nicht erreichbar bin.«
»Ich finde einen Ersatz«, erwiderte Louise ungerührt. »Und ich komme auch für Ihren Ausfall auf. Suchen Sie nicht nach Ausreden, Hyperion, Sie wissen, dass Sie fahren müssen. Um Fergus’ willen, um der Kranken und um Ihrer selbst willen – aber auch für Daphne und Ihre Kinder. Reisen Sie nach London und nutzen Sie die Zeit, sich über Ihr Leben klarzuwerden. Sie haben nicht verdient, dass man es Ihnen wegnimmt. Und Daphne und die Kinder haben das erst recht nicht verdient.«
Er kam früher als gewöhnlich nach Hause und fand Mount Othrys in Stille. Mildreds letzte Gäste waren abgereist, und das Kindermädchen hatte die kleine Esther schon zu Bett gebracht. Dennoch ging Hyperion an diesem Abend ins Kinderzimmer und küsste seine schlafende Tochter, die Daphne so ähnlich sah – blond und zu zart zum Leben. Louis, so erklärte ihm das Mädchen, habe den Morgen mit Mildred verbracht, doch am Nachmittag darauf bestanden, seine Mutter zu besuchen. Auf Zehenspitzen schlich sich Hyperion hinüber in das Schlafzimmer, das er für viel zu kurze Zeit mit Daphne geteilt hatte.
Die beiden Menschen, die er über alles liebte, lagen schlafend auf weißen Kissen, ihre Köpfe einander zugewandt, so dass die Stirnen sich berührten. Hyperion setzte sich auf den Bettrand und strich sachte erst seiner Frau, dann seinem Sohn das Haar aus den Gesichtern. Friedlich wirkten die beiden, so, als wären sie noch immer behütet, als wäre ihre Welt noch heil. Er wollte gehen, doch vermochte nicht, sich loszureißen. Als er sich endlich erhob, erwachte Daphne, schlug die Augen auf und sandte ihm ein Lächeln. Hyperions Herz zog sich zusammen.
»Liebling«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Zögernd setzte er sich wieder und spürte, wie ihre zarten, kühlen Finger ihm über die Wange strichen. »Es ist so schön, dass du da bist. Bleibst du bei uns? Du siehst müde aus.«
Er musste auch lächeln, nahm ihre Hand und küsste die Innenfläche. »Ich habe noch zu arbeiten, aber vorher wollte ich nach euch sehen. Hattet ihr einen guten Tag, Daphne? Wie geht es mit den Schmerzen?«
»Es war heute ein anderer Arzt da«, sagte Daphne. »Dr. Ackroyd, er war ganz wundervoll zu mir, und er hat gesagt, ich solle ruhig aufstehen und an den Krücken gehen üben, es werde mir nicht schaden. Im Gegenteil, durch das viele Liegen verlieren meine Muskeln die Kraft, und es wird immer schwieriger, das Bett zu verlassen.«
Was sie erzählte, klang überzeugend. Er kannte den jungen Ackroyd, der ein begabter Arzt war, und den Rat hätte auch er einem Patienten geben können. Aber Daphne war kein Patient. Sie war seine Frau, und dass sie das kleinste Risiko einging, durfte er nicht gestatten. »Ich weiß nicht, Daphne …«, murmelte er.
Sie lachte leise. »Aber ich weiß. Ich habe es ausprobiert, Liebster, und mir ist nichts geschehen. Stattdessen haben Louis und ich eine schöne Stunde verbracht, und er hat gesagt, er kann nicht warten, bis es wieder Sommer ist und seine kleine Mutter mit ihm über Priele springt.«
Vor seinem geistigen Auge tauchten Bilder aus dem Sommer vor der unseligen Geburt von Esther auf, von seiner Frau, die mit roten Wangen ins Haus stürmte, den kleinen Sohn an ihrer Seite, den sie aufhob und um ihre Achse wirbelte, als hätte er kein Gewicht. War es wirklich möglich, dass diese Zeit noch einmal wiederkam? Er sah in ihr abgezehrtes Gesicht, das der Tod schon mit seinen Händen umfangen hatte, und konnte es nicht glauben. »Du musst dich schonen, Liebstes«, bat er.
»Aber das tue ich doch!«, rief sie. »Ich tue den lieben langen Tag nichts anderes, und wohin hat es mich gebracht?«
»Du bist krank, Daphne.«
Das bisschen Glanz in ihren Augen erlosch. »Und weißt du, wie schwer es ist, ewig krank zu sein, während um dich dein Leben verstreicht?«
Hyperion betrachtete den schlafenden Jungen, die rosige Wange und den dichten Kranz der Wimpern. Das Bild rührte an eine Erinnerung, die so schmerzlich war, dass er sie abschütteln wollte. Er sah sich neben seiner Mutter liegen, obgleich die Großmutter es ihm verboten hatte, er sah seine kleine Hand, die mit den wirren Locken der Mutter spielte, und spürte noch einmal den innigen Wunsch, sie möge aufstehen und gesund sein, um jauchzend mit ihm in den Garten zu laufen. »Hyperion«, hörte er seine Frau flüstern, wandte den Kopf und sah, dass sie ihm die Arme entgegenstreckte. »Komm zu mir. Ich sehne mich so sehr nach dir.«
Er liebte sie. Er hatte nie eine Frau geliebt wie sie, und der Wunsch, ihrem Drängen nachzugeben und sich in ihre Arme zu werfen, drohte ihn zu überwältigen. Aber es war dieser Wunsch, das tierische Verlangen, das sie dorthin gebracht hatte, wo sie war. Ihr Mann, der geschworen hatte, sie zu schützen, hatte ihre Gesundheit zerstört. Er fing ihre Hände ab und küsste eine nach der anderen. »Versuch zu schlafen, Liebstes. Ich trage Louis hinüber in sein Bett, damit du zur Ruhe kommst.«
»Nein!«, rief sie, entriss ihm ihre Hand und breitete den Arm um den Jungen. »Wenn du nicht zu mir kommen willst, kann ich dich nicht zwingen. Aber Louis lass mir. Nimm mir nicht auch noch mein Kind.« Ihre Stimme bebte vor Tränen. Sie drückte den Kopf ins Kissen, wieder dicht an das kleine Gesicht.
Mit bleischwerem Herzen stand Hyperion auf. »Ich fahre bald weg«, sagte er unvermittelt. »Auf einen Kongress nach London. Ich werde mindestens vier Wochen fort sein.« Es war gut so, dachte er. Solange er in London war, bestand keine Gefahr, dass er dem tierischen Trieb nachgab und ihr noch einmal Schaden zufügte. Sie antwortete nicht. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, schien sie ihm zu zürnen. »Ich liebe dich«, sagte er und verließ mit schleppenden Schritten den Raum.
Unten setzte er sich in sein Arbeitszimmer und versuchte sich auf die Dokumente zu konzentrieren, die er für den Kongress vorbereiten wollte, Texte von Vernon, die aufbereitet werden mussten, und seine eigenen Notizen, die er in vortragsfähige Form zu bringen hatte. Die Buchstaben verwischten vor seinen Augen, und aus der Druckerschwärze manifestierte sich Daphnes Gesicht. Irgendwann öffnete sich die Tür, ohne dass jemand angeklopft hatte, und Mildred trat ein. »Du bist zurück?«, fragte sie.
Er hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Wangen waren gerötet, wie immer, wenn sie im Galopp geritten war. Den Versuch, ihr Haar in einer Haube zu bändigen, hatte sie seit langem aufgegeben. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen und einen dritten, ehe er sich erhob und ihr um den Schreibtisch herum entgegenging. Ich will das nicht tun, hallte seine Stimme in seinem Kopf. Ich will nicht meine geliebte Frau mit ihrer eigenen Schwester betrügen, ich will ein Mensch sein, kein Tier! Mildred machte noch einen Schritt, und Hyperion machte auch noch einen, dann standen sie voreinander und rissen einander in die Arme.