Kapitel 22

Portsmouth, April 1866

Sukie sah die Frau nicht zum ersten Mal. Sie ging immer denselben Weg, die Hauptstraße von Southsea entlang und hinein nach Portsmouth, ein Stück die Einkaufsstraße hinunter und auf den Platz mit der Kathedrale. Dort setzte sie sich, sofern das Wetter es erlaubte, auf eine Bank und packte aus dem Korb, der am Griff des Kinderwagens baumelte, zwei Sandwiches aus. Eines aß sie selbst, das zweite teilte sie zwischen den Kindern. Das kleine Kind in seinem Wagen war zu jung für Sandwiches, es hatte kaum Zähne und verschluckte sich, was es aber nicht hinderte, auch den nächsten Bissen hinunterzuschlingen. Das größere Kind, ein bedauernswert schmächtiges Ding, hielt seinen Anteil in der Hand, ohne abzubeißen, bekam einen Katzenkopf und begann daran zu nagen, ließ das Brot schließlich wieder sinken und hielt es von neuem in der Hand, bis der nächste Katzenkopf es aus seinen Gedanken riss.

Es war ein beträchtlicher Weg, um ihn mit dem Kinderwagen zu gehen. Der Wagen war aus Rosenholz, kein neues, aber ein wunderschönes Modell mit hohen Rädern und einem Griff aus Keramik. Als Kinderfrau hätte Sukie über das Gewicht gestöhnt. Noch schwerer jedoch war der Weg für die kurzen Beinchen des Kindes, das die Frau an der Hand führte und unerbittlich mit Katzenköpfen bedachte, wenn es sich nicht schnell genug vorwärts zerren ließ.

Einmal stolperte das schmächtige Ding und fiel vornüber in eine Pfütze, dass das weiße Kleid vor Nässe triefte. Die Frau riss es am Arm in die Höhe und versetzte ihm einen Klaps aufs Hinterteil. Vor Empörung schüttelte sich Sukie. Natürlich brauchten Kinder Zucht, aber das Mädchen, das keine drei Jahre alt sein konnte, schien so brav darauf bedacht, alles recht zu machen. Tapfer schweigend stapfte es seines Weges, während das Kleine im Wagen munter krakeelte.

Hatte das Mädchen sein Kleid beschmutzt, ging die Frau nicht zum Platz, um im Schatten der Kathedrale Brote zu essen, sondern kehrte auf der Stelle um und ging ohne Pause den Weg zurück.

Sukie bekam die Frau so häufig zu Gesicht, weil sie mehrmals in der Woche bei einem Metzger am Rand von Southsea Fleisch einkaufte. Fleischabfälle zwar, aber von erlesener Qualität. Dem Eintopf, den sie daraus kochte, merkte kein Gast an, dass er nicht aus den Stücken erster Wahl bereitet worden war. Es gab eine Menge Gäste, die jetzt, ehe die Saison begann, ans Meer reisten, um reduzierte Preise zu nutzen, und so wie Sukie wirtschaftete, machten sie auch von denen, die sich wenig leisten konnten, noch Gewinn. Wenn sie Victor vorrechnete, was sie ihm eingespart hatte, lobte er sie, und obwohl er geistesabwesend blieb und sie kaum ansah, freute sie sich. Davon, dass sie so oft der Frau mit den zwei Kindern zusah, sagte sie ihm nichts, denn dafür hätte er sie nicht gelobt.

Ein einziges Mal hatte sie ihn etwas über die Frau gefragt, und er hatte ihr ins Gesicht geschrien, der Name dieser Person werde in seinem Haus nicht genannt und kein Mitglied seines Haushalts verkehre mit ihr. Wenn sie sich daran nicht halte, solle sie zum Teufel gehen. Dass Victor, der sanfteste Mann, den sie kannte, sie derart behandelte, erschreckte sie so tief, dass sie nie wieder versuchte über die Frau mit ihm zu sprechen.

Sie schämte sich ja selbst, weil sie ihre Neugier nicht bezähmen konnte, sondern ihr wie unter Zwang hinterherschlich. Sooft sie sich aber vornahm, sie künftig nicht mehr zu beachten, so oft scheiterte sie. Wenn ich ihn fragen dürfte, was ihn und sie verband, bräuchte ich ihr nicht nachzusteigen, dachte sie trotzig, während sie sie trotz des windigen, nasskalten Wetters zügig die Straße heraufkommen sah. Wie immer waren sowohl sie selbst als auch die Kinder tadellos ausstaffiert, die Kleinen in hellen Farben, die Frau im eleganten dunklen Cape. Sukie wollte sie samt ihrer Aufmachung abscheulich finden, schließlich behandelte sie das kleine Mädchen schlecht, und außerdem verabscheute Victor sie. Aber Sukie konnte sich nicht helfen, je länger sie ihr zusah, desto mehr faszinierte sie sie. Sie vergaß ihren Einkauf und ging ihr auf der anderen Straßenseite hinterher.

Die Zeile mit den schönen Geschäften hinunter kamen ihr zwei Frauen entgegen, auch diese damenhaft gekleidet mit den breitkrempigen Hüten der Frühlingssaison. Die eine war dick wie aufgepumpt, die andere schlank, mit dichten Wellen schwarzen Haares und einem Gesicht, das schön war, ohne gefällig zu sein. Die Dicke schwatzte auf die Schöne ein, bis sie der Dame mit dem Kinderwagen ansichtig wurden. Abrupt blieben beide keine zwei Schritte vor dem Wagen stehen. Die Frau blieb ebenfalls stehen und hob eine Hand zum Gruß. Statt die Geste zu erwidern, kreischte die Dicke auf, schwang herum und überquerte in schnaufender Empörung die Straße. Kaum bekam Sukie ihr Gesicht zu sehen, erkannte sie sie: Es war Bernice Weaver. In den zwei Jahren, seit Sukie ihr Haus verlassen hatte, mochte sie an Umfang das Doppelte zugelegt haben.

Als Bernice bemerkte, dass die Schöne ihr nicht gefolgt war, rief sie zu ihr hinüber: »Nun komm schon, Maria! Willst du vielleicht, dass man annimmt, du stündest mit so einer auf gutem Fuß?«

Die Schöne warf den Kopf in den Nacken und verzog amüsiert den Mund. »Nun, zumindest ansehen will ich mir den Bankert«, rief sie ohne jeden Takt und spähte in den Wagen. »Wann bekommt man denn so etwas schon zu Gesicht, wenn man nicht gerade im Arbeitshaus von Portsea Island verkehrt?«

Sukie, die scharfe Augen hatte, sah, wie die andere vor Zorn erbebte, wie sie weitergehen und das Kindchen mit sich zerren wollte, wie aber die Scham es ihr verwehrte, auch nur einen Schritt zu tun. Stumm und zitternd musste sie dulden, dass die Schöne das Verdeck des Wagens zurückschob und das Kleinkind betrachtete wie eine der Missgeburten im Raritätenkabinett.

»Wie erstaunlich!«, rief sie aus. »Weshalb gedeihen eigentlich in Sünde geborene Bälger oft so viel besser als die eigenen Hätschelkinder? Schau dir das an, Bernice! Deine Nora ist ein Fall für die Armenspeisung gegen diesen Wonneproppen, und heller als dein kahler Schwachkopf wirkt das Balg allemal.«

Die Angesprochene wandte nicht einmal das Gesicht, das hochrot angelaufen war. »Ich schäme mich in den Boden«, stieß sie keuchend aus. »Wo noch nicht einmal feststeht, dass die da keine Mörderin ist!«

Ja, fand Sukie, von einer Mörderin hatte die Frau etwas an sich, auch wenn sie in ihrem Leben noch keine Mörderin gesehen und auch nie darüber nachgedacht hatte, wie sie sich eine vorzustellen hatte. Irgendwo in Wiltshire hatte eine Frau ihren kleinen Bruder erstochen, und ein Mensch, der das fertigbrachte, der so viel Eiseskälte in sich hatte, musste aussehen wie die Frau mit dem Kinderwagen.

Die Schöne namens Maria stierte unbeeindruckt weiter das Kind an, aber dessen Mutter hatte endlich ihre Starre überwunden. Mit einem Ruck stieß sie den Wagen vorwärts, so dass Maria beiseitegeschleudert wurde und sich an einem Laternenpfahl festklammern musste, um nicht aufs Pflaster zu stürzen. Mit langen Schritten, mit denen die Kleine unmöglich mithalten konnte, stürmte sie die Straße hinunter, ließ deren Hand kurz los und verpasste ihr grundlos einen Katzenkopf.

Sukie war schon auf dem Sprung, um ihr zu folgen, als ein Mann die Treppe vor dem Postamt hinuntereilte und die Frau damit zu einem jähen Halt zwang. Jenen Mann hätte Sukie unter Hunderten von Männern erkannt. Er überragte sie alle. Seine Schultern waren so breit, dass er, wie Hector Weaver einmal gespottet hatte, auf einer jeden einen Sarg hätte tragen können. Victor März. Sukie liebte ihn. Er hatte sie von der Straße aufgelesen, nachdem ein Kerl ihr das Gesicht zerschlagen hatte. Er hatte sie gesund gepflegt, ihr ein Heim und Kleidung gegeben und sie behandelt wie einen Menschen, der ein Recht auf Würde besaß. Sie hätte alles für ihn getan – und jetzt erwischte er sie ausgerechnet bei dem Einzigen, das er ihr verboten hatte, beim Verkehr mit der Frau?

Aber sie hatte ja nicht mit ihr verkehrt! Sie war nur die Straße entlanggegangen, wo sie wie immer Einkäufe für ihn erledigte, und dass ihr die Frau dabei über den Weg gelaufen war, war schließlich nicht ihre Schuld. Allem Anschein nach hatte sie jedoch ohnehin keinen Grund, sich zu sorgen, denn Victor schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Er war im Schritt erstarrt, und sein Blick grub sich in das Gesicht der Frau. Sie sah ihn ebenfalls an, so gebannt, dass ihr die Hand des Kindes entglitt. Eine kleine Ewigkeit lang standen sie reglos einander gegenüber, ohne zu bemerken, dass Passanten gegen sie prallten, dass Händler mit Karren fluchten, weil sie ihnen den Weg versperrten, dass junges Volk sich neugierig und spöttisch um sie scharte. Anstatt sich unauffällig aus dem Staub zu machen, fühlte Sukie sich gezwungen, näher heranzutreten, bis sie alle Einzelheiten sah.

Warum quälte sie sich so? Sie hatte in Victors Augen noch nie solchen Hass gesehen, doch auch noch nie solchen Glanz. Sukie mochte vom Lande stammen, aber was Victor betraf, war ihre Beobachtungsgabe unschlagbar und ihr Gedächtnis fehlerlos. Sie hatte gesehen, wie er damals mit der Frau das Haus verlassen hatte, den Arm um ihre Taille gelegt, um sie vor allem Bösen der Welt zu schützen. Dass der Mann, nach dem sie sich sehnte, diese Frau mit solchem Feuer hasste, weil er sie einst mit demselben Feuer geliebt hatte, traf sie wie ein Schlag. Waren nicht er und sie von einer Art – getretene, verachtete Menschen, die ihre Kraft darauf verwandten, ein Leben in Anstand zu führen? Hätten nicht er und sie einander den Halt geben können, den sie von niemandem sonst bekamen?

Diese Frau hatte alles – Geld und Glanz, einen Mann und zwei Kinder. Auch wenn Bernice Weaver vor ihr die Straßenseite wechselte, wie sie es sonst nur vor Frauen wie Sukie tat, gehörte sie in jene andere Welt, in die weder Sukie noch Victor aufsteigen würden. Vor allem aber gehörte sie einer Familie an, vermutlich einer alten und weitverzweigten, die im Notfall ein Netz unter ihr spannte, während Sukie und Victor keinen Menschen hatten. Was wollte er von ihr? Sah er nicht, wie kalt sie würde, wie sie ihn kränken würde, während Sukie ihm den Respekt, den er verdiente, und alle Wärme der Welt geben würde?

Victor, der mit so viel Anstrengung auf tadelloses Betragen bedacht war, spuckte auf den Boden wie ein Gassenjunge. Dann wandte er sich ab und ging davon. Die Frau blieb kurz stehen, dann ging auch sie, manövrierte den Kinderwagen um die Spucke und kümmerte sich nicht darum, dass zwei Herren schimpfend aus dem Weg springen mussten.

An diesem Tag erledigte Sukie ihre Besorgungen langsam und unzuverlässig und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Milton’s Court zurück. In ihr herrschte ein solcher Aufruhr, dass ihr der Gedanke, wie jeden Abend allein ihren Tee zu bereiten und sich schlafen zu legen, unerträglich war. Die Aufwarterin hatte eingelegtes Gemüse und kalten Braten beiseitegestellt, aber Sukie hatte keinen Appetit. Sie hätte gern Brandy getrunken, um sich zu beruhigen. Konnte sie Victor wohl bitten, ihr welchen zu geben?

Zögerlich ging sie die kurze Stiege hinauf zu seinem Arbeitszimmer. An der neuen Tapete hing der Stich eines Mädchens, den er vor kurzem erworben hatte. War das auch eine, die er geliebt hatte? Sie sah der Frau mit den Kindern nicht ähnlich, war zart und hatte feines Haar. Sukie klopfte an die Zimmertür. Als hätte er dahinter gewartet, drückte er die Klinke hinunter. So dicht standen sie auf einmal voreinander, dass er sie auf den Kopf hätte küssen können, wenn er es nur gewollt hätte.

»Sukie«, murmelte er, als müsste er sich ihren Namen ins Gedächtnis rufen. »Habe ich Sie gestört?«

»Aber nicht doch – womit sollten Sie mich gestört haben?«

»War ich nicht laut?«

Sie schüttelte den Kopf, dann wagte sie endlich, zu ihm aufzusehen. Sein Gesicht, das sie so sehr mochte, sah aus wie von Qual zerfurcht. Scharfe Falten um den Mund und auf der Stirn, schwarze Schatten um die Augen. Ohne nachzudenken fragte sie: »Kann ich Ihnen helfen?«

Erstaunen, ja Unverständnis glomm in seinen Augen auf. Dann verzog er den Mund zu einem Lächeln. »Sie sind sehr nett, Sukie. Ich fürchte aber, heute Nacht kann mir niemand mehr helfen, und wer es morgen kann, steht in den Sternen.«

»Manchmal hilft es, wenn man sich einer anderen Menschenseele anvertraut«, erwiderte Sukie, obwohl sie damit keine Erfahrung besaß und auch nichts hören wollte von seiner Hassliebe zu der Frau mit dem Kinderwagen.

Sie hatte es gesagt, weil sie es sich auf einmal selbst wünschte – nicht allein sein müssen in der Nacht, die für die Jahreszeit zu kalt und stürmisch war, bei ihm sitzen, Brandy trinken, mit ihm reden.

So hübsch, wie das Lächeln ihn machte, war es eine Schande, dass er es so selten nutzte. »Ja, vielleicht haben Sie recht«, sagte er. »Ich wollte mir gerade etwas zu trinken holen. Hätten Sie wohl Lust, mir Gesellschaft zu leisten?«

Sie gingen in den Salon, wo er mit geschickten Griffen das Feuer anfachte und Brandy aus einer Karaffe in zwei Gläser schenkte. »Ich fürchte, ich tauge nicht als Gastgeber. Haben Sie zu Abend gegessen?«

»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte Sukie.

Er lachte erleichtert. »Ich auch nicht. Ich hoffe, es ist kein Kummer, der Sie vom Essen abhält.«

»Sie wollten mir von Ihrem Kummer erzählen«, entgegnete sie.

Er hob die Brauen. »Wollte ich das? Dann habe ich mich anders besonnen. Es wäre nicht recht, Sie mit diesen geschäftlichen Dingen zu belasten. Weshalb sollten Sie sich damit plagen?«

»Aber ich helfe Ihnen doch im Geschäft!«, protestierte Sukie, froh, dass er die Frau mit keinem Wort erwähnte. »Ich würde gern noch viel mehr tun. Wenn ich es dürfte, würde ich Ihr Geschäft betrachten, als wäre es mein eigenes.«

Seine freundliche Miene wurde auf einen Schlag hart. »Finden Sie es richtig, dass Frauen Geschäfte führen wie Männer?«, fragte er. »Glauben Sie, Frauen sind von ihrer Natur her dafür bestimmt?«

»So habe ich es doch nicht gemeint«, entgegnete sie. »Ich wollte sagen, ich könnte alles tun, was eine Geschäftsfrau täte – eine Frau, deren Mann ein Geschäft führt, meine ich …« Als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte, schoss ihr die Hitze in die Wangen.

»Sie sind sehr nett, Sukie«, wiederholte er, als hätte sie nichts Anstößiges gesagt. »Aber Sie tun genug für mich. Wollen Sie sich wirklich obendrein anhören, was mich so zur Weißglut bringt, dass ich mit bloßen Händen jemanden erwürgen könnte?«

Heftig nickte sie. Ihr Blick fiel auf die Hände, die in seinem Schoß lagen. Sie waren groß und schwer, aber Sukie wusste, dass sie mit allem, was sie berührten, unendlich sacht umgingen, und dass er der Letzte war, der jemanden erwürgt hätte, so sehr er sich auch ereiferte.

»Sie geben mir keinen Kredit«, brach es aus ihm heraus. »Die Herren Bankiers auf ihren hohen Rössern, die von meiner Arbeit nichts verstehen, sie sagen, mir fehle der gute Name, der der Bank die Sicherheit verleihe! Verstehen Sie, wie sehr mich das verletzt, Sukie? Ich lebe in dieser Stadt seit neun Jahren, ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen, und wer immer mit mir Geschäfte gemacht hat, der weiß, dass auf mein Wort Verlass ist. Mit welchem Recht behaupten diese Männer, die mich nicht einmal angehört haben, mein Name sei nicht gut genug!«

»Mit keinem«, antwortete Sukie eilig. Nur ein Mann, der so arglos und erfüllt vom Glauben an das Gute war wie Victor, konnte eine solche Frage stellen. »Sie wollen unter sich bleiben«, versuchte sie ihm zu erklären. »Dass unsereins den Kopf und gar noch den Hals aus dem Sumpf recken könnte, das schmeckt ihnen nicht. Aber wozu brauchen Sie denn die Banken und ihren Kredit? Kommen Sie nicht ohne deren Wohlwollen bestens aus?« Sie verstand nichts von Buchhaltung, hatte in den paar Schuljahren, die ihr Vater ihr abverlangt hatte, gehörig geschlampt, aber um zu erkennen, dass das Hotel wie am Schnürchen lief, brauchte man keine Lektionen, sondern nur gesunden Menschenverstand.

»Ich will Mr Weaver seine Hälfte abkaufen«, sagte Victor. »Ich will hier schalten und walten können, wie ich es für richtig halte.«

Sukie hielt den Atem an. Wie seine Beziehungen zu Weaver aussahen, hatte sie nie recht begriffen, sondern einfach angenommen, er sei eine Art Geschäftsführer mit Gewinnbeteiligung. Jetzt aber begriff sie auf einen Schlag: Er, der einstige Laufbursche, der noch immer mit schwerem Akzent sprach und vergaß, auf welche Seite des Tellers das Messer gehörte, hatte wahrhaftig geglaubt, sich unter die Reichen und Schönen mischen zu können, die die Herrschaft in der Stadt wie einen Teekuchen unter sich aufteilten. Er hatte gehofft, er könne ein Hotelier werden wie Frederic Ternan vom Victoriana, ein vornehmer Mann, bei dem die Weste zum Rock passte und die Aussprache zum Schnupftuch in der Rocktasche. Eine Woge von Mitleid erfasste sie. Greif doch nicht nach den Sternen, brich dir nicht den Hals. Ist das, was wir haben, nicht genug?

Sie sah ihn sonst so gut wie nie Alkohol anrühren, jetzt aber trank er in großen Schlucken von seinem Brandy. Als er das Glas abstellte, griff sie nach seiner Hand, die er ihr willenlos überließ. »Mr Weaver hat mir ein Angebot gemacht«, sagte er niedergeschlagen. »Aber es gilt nur bis Anfang Mai, danach sucht er sich einen anderen Käufer, und es ist viel mehr, als ich aufbringen kann.«

Sukie streichelte seinen Handrücken. Aber was willst du denn mit dem ganzen Kasten?, hätte sie fragen wollen, doch sie war klug genug, ihn jetzt, da er sich ihr öffnete, einfach reden zu lassen.

»Auf der Post war ich auch«, fuhr er fort. »Ich habe mein Sparbuch dort, ich war einer der Ersten, die für dieses Sparbuch unterzeichnet haben. Auf der Post weiß man, dass ich einen guten Namen habe. Monat für Monat habe ich in mein Buch eingezahlt, jeden Penny, den ich entbehren konnte, und nur, wenn das verfluchte Weib mich um Geld anging, habe ich etwas abgehoben. Ob man mir nicht auf mein Sparguthaben eine Summe leihen könnte, habe ich gefragt, und wissen Sie, was ich als Antwort erhielt? Ausgelacht hat man mich. Wie einen dummen Jungen, der keinen Hosenknopf in der Tasche hat. Ich soll ins Pfandhaus gehen, hat mir der Fatzke hinter dem Schalter geraten, oder meine Leiche zu anatomischen Zwecken verkaufen. Und dann hat er sich auf den Schenkel geschlagen, und das ganze Pack hat in sein Gelächter eingestimmt.«

So also erklärte sich die Szene vor dem Postamt, und die Frau mit dem Kinderwagen besaß überhaupt nicht die Bedeutung, die Sukie in ihrer Eifersucht ihr zugemessen hatte. Sie lehnte sich an ihn und streichelte seinen Arm. Nur einen Wunsch hatte sie in diesem Augenblick – ihn zu trösten, die Wucht der Demütigung zu mildern. »Sie brauchen doch deren Geld nicht«, murmelte sie zärtlich. »Soll Mr Weaver eben einen anderen Käufer finden. Sie sind auch so ein aufrechter Mann, der sein Auskommen hat und sich von niemandem beleidigen lassen muss.«

Er hatte ins prasselnde Feuer gestarrt, doch jetzt wandte er sich ihr zu. »Aber dann bleibt Milton’s Court, was es ist«, sagte er. »Eine Billigpension für Arbeiter, die sich die Urlaubstage vom Mund absparen.«

»Ja, was soll es denn sonst sein?«, rief Sukie verblüfft.

Er sah sie an, in seinen Augen eine Entschlossenheit, die ihn ihr fremd machte. »Ein Grandhotel«, sagte er. »So ehrwürdig wie das Cathedral, so komfortabel wie das Victoriana und so chic und en vogue, dass Mount Othrys dagegen zum Schatten verblasst.«

Voller Hass schleuderte er die zwei Worte – Mount Othrys – heraus wie vorhin die Spucke, die aufs Pflaster klatschte. Sukie hob die Hand und legte sie an seine Wange. »Sch, sch«, machte sie, wie sie die Kinder in ihrer Obhut beruhigt hatte. Als seine Hand nach seinem Glas tastete, schenkte sie es ihm noch einmal voll und füllte auch ihr eigenes. Sie tranken beide. Dann streichelte sie ihn weiter, strich ihm das verschwitzte Haar aus der Stirne und fuhr mit einem Finger die Furchen entlang.

Irgendwann stöhnte er auf.

Irgendwann stellte er das Glas ab, nahm sie behutsam bei den Armen und sah ihr in die Augen.

»Sukie«, sagte er, »hast du je einen Mann geliebt?«

»Ja«, antwortete sie, ihre Stimme kaum noch ein Flüstern.

»Und er?«

»Er liebt eine andere.«

»Das tut weh, nicht wahr? Es brennt und hört nicht auf, auch wenn die Liebe aufhört.«

»Meine Liebe hört nicht auf«, sagte Sukie, streifte seine Hände ab und legte ihm die Arme um den Hals. »Mir ist egal, was die Leute auf der Bank und im Postamt reden«, flüsterte sie an seinem Ohr. »Für mich bist du der feinste Mann, der in dieser Stadt herumläuft, Victor, und das wird immer so sein, einerlei, was irgendwer dagegen sagt.«


Die Operation war missglückt, weil Hyperion sich zu spät dazu entschlossen hatte. Buchstäblich unter den Händen war ihm das Neugeborene erstickt. Ein Junge. Auf dem blau verfärbten Köpfchen verklebte Strähnen blonden Haars. Als wäre ein toter blonder Junge unerträglicher als irgendein anderes totes Kind. Die Mutter hatte schon drei Söhne, von denen sie keinen versorgen konnte. Sie würde, wenn sie überlebte, den Tod ihres Kindes kaum beklagen, aber das änderte nichts an dem entsetzlichen Gefühl, versagt zu haben.

»Ich finde, Sie haben sich nichts vorzuwerfen«, sagte der junge Ackroyd, der ihm assistiert hatte. »Ein anderer hätte die Sectio gar nicht mehr gewagt und Mutter und Kind verloren. Sie dagegen haben die Mutter gerettet. Ich bin sicher, sie wird leben, Dr. Weaver.«

Ja, bis sie sich vom nächsten Almosen zu Tode säuft, dachte Hyperion. Überleben würde die Frau vermutlich wirklich, nicht nur, weil die Blutung zum Stehen gebracht war, sondern weil er vor Beginn der Operation den Zerstäuber verwendet hatte, den der Chirurg Joseph Lister für die Vernebelung von Phenol empfahl. Dieser Lister war so praktisch wie genial. Phenol wurde im Kampf gegen den Gestank aus Abwasserkanälen verwendet, weshalb sollte es nicht auch taugen, um die Verschmutzung von Operationswunden zu verhindern? Auch diese Maßnahme, die Hyperion in seinem Operationssaal eingeführt hatte, wurde hinter seinem Rücken belächelt, aber er scherte sich darum nicht mehr. Gut, wenn eine Handvoll Menschen über mich lacht – zum Weinen bringe ich ja genug.

Sachte, wie er sein Kind zu Bett gebracht hatte, ließ er den toten Jungen in den Blechbehälter gleiten. Gute Reise, Kleiner, wohin immer du gehst. Und wenn es das Nichts ist – vielleicht ist es ja besser als das, was das Leben dir zu bieten hatte. Tränen hatte er schon lange keine mehr, doch gegen die würgende Verzweiflung kämpfte er noch immer an. Er würde nach London fahren und noch ein kombiniertes Seminar in Chirurgie und Geburtshilfe abhalten, es mochte ihn kosten, was es wollte. Weibliche Leichen waren praktisch nicht aufzutreiben, da nur selten Frauen hingerichtet wurden, aber eine andere Möglichkeit als immer wieder zu üben, Methoden zu verfeinern und frische Talente heranzubilden, gab es nicht. Zuweilen bemerkte er, dass er von dem Gedanken, das Leben von Frauen und Kindern zu retten, besessen war. Als brächte ihm, wenn er nur seine Kraft über jedes Maß hinweg ausbeutete, eine mitleidige Gottheit seine Frau und sein Kind zurück.

Mitunter, wenn er sich so wie an diesem Abend auf ganzer Linie als Versager fühlte, wünschte er sich, einem Kind zu begegnen, dessen Leben er gerettet hätte, einem gesunden, wohlgestalteten Kind, das ihm die Hand reichte und in munterem Ton zu ihm sagte: »Erinnern Sie sich nicht, Herr Doktor? Sie haben mir doch damals das Leben gerettet?«

Lydia Alexandrina Burleigh fiel ihm ein, das kleine Mädchen, dem er den Luftröhrenschnitt gesetzt und einen albernen Abakus geschenkt hatte. War sie der nächsten Diphtheriewelle erlegen oder den Torturen im Arbeitshaus?

Und die kleine Hatwick, die er zu den Waisen hatte schicken müssen, weil ihre Mutter am Fieber verreckt war und er vergessen hatte, ihren Vater zu suchen. Gewiss hatte auch sie Entbehrung und Hoffnungslosigkeit nicht lange überlebt. Wozu quälen wir die Leute überhaupt? Um ihnen das Sterben schwerer zu machen, als wäre ihr Leben nicht schwer genug?

»Haben Sie mich gehört, Herr Doktor?«, fragte der junge Ackroyd vorsichtig nach.

»O nein, bitte verzeihen Sie«, erwiderte Hyperion eilig. »Ich war wohl in Gedanken.«

»Sie brauchen mehr Ruhe«, bemerkte Ackroyd, der nicht nur ein begabter Arzt, sondern auch ein netter Mensch war, aber Menschen, die nett zu ihm waren, ertrug Hyperion noch schlechter als andere.

»Wollen Sie damit sagen, dass ich nicht imstande bin, meine Arbeit zu tun?«, herrschte er ihn an.

»Natürlich nicht.« Ackroyd zuckte zwar zurück, blieb aber bemerkenswert ruhig. »Und was Sie brauchen oder nicht, geht mich selbstredend nichts an. Ihre Schwägerin war hier, während Sie die Kniescheibenfraktur operierten. Sie bat mich auszurichten, dass sie Sie sprechen muss und dass Sie heute Abend nach Hause kommen sollen.«

Nach Hause – wo war das, wenn nicht hier? Der Operationssaal war der letzte Ort, an dem er sich nicht gänzlich fehl am Platze fühlte. In dem Haus, das noch immer als seines galt, war er ein Störenfried. Mildred und die Kinder kamen allein zurecht, und seine Großmutter behandelte ihn, als wäre er nicht vorhanden. Seit jenem Tag, an dem er aus London gekommen war und sie ihn schreiend gefragt hatte, ob er nicht wisse, wo Daphne und Louis seien, hatte sie mit ihm kein Wort mehr gesprochen. Keinen Gruß, keinen Vorwurf, keine Klage. Sie selbst hatte samt dem Kindermädchen jenen fatalen Adventssonntag in einem Gasthaus in Petersfield verbringen müssen, da die kleine Esther einen Schwächeanfall erlitten hatte und nicht reisen konnte. Bei ihrer Rückkehr waren Daphne und Louis fort gewesen, und kein Mensch hatte sie seither gesehen.

Nein, Mount Othrys war nicht länger sein Zuhause, es war der Gerichtssaal, in dem aus jedem Winkel seine Anklage gellte. Auch wenn Mildred alles, was an seine Frau und sein Kind erinnerte, aus dem Haus geschafft hatte, war die Erinnerung überall lebendig. Hier hatte Louis auf dem Teppich gelegen und das hölzerne Pferdegespann hin und her geschoben, das er zu seinem ersten Weihnachtsfest bekommen hatte. Dort im Garten, bei der Mondrose, hatte Daphne gestanden und Louis die blauen Blüten gezeigt. Und oben, im Schlafzimmer, hatte sie ihm entgegengelächelt, nach jener Wundernacht, in der ihr Kind geboren worden war. Mildred mochte noch mehr Dinge aus dem Haus schaffen, sie mochte das ganze Haus verhüllen und konnte dennoch nicht auslöschen, was er mit jedem Schritt durch die Räume spürte: Er war hier glücklich gewesen, so glücklich, wie ein Mann nur sein konnte, und er hatte mit eigener Hand sein Glück zerstört.

»Klang es dringend?«, fragte er Ackroyd müde. Im Grunde war es ihm gleichgültig, er fragte nur, weil man es eben tat.

Der junge Mann verzog das Gesicht. »Wenn Sie mich fragen – ich an Ihrer Stelle würde mich auf den Weg machen.«

Das tat er eine Stunde später, nachdem die Frischoperierte fürs Erste versorgt war. Es war nicht Angst vor Mildred, wie seine Studenten sie ihm witzelnd nachsagten, die ihn nach Hause trieb. Was hätte sie ihm noch antun können, einem Mann, der vor Schmerz längst fühllos war? Was hätte sie ihm vorwerfen können, das er sich selbst nicht hundertmal vorgeworfen hatte? Warum er dennoch ging und nicht dem Wunsch nachgab, die Nacht im Spital zu verbringen, wusste er nicht. Vielleicht aus einem Rest von Pflichtgefühl, vielleicht, weil er zu schwach und müde war, um sich zu widersetzen. Der Vorgarten seines Hauses war so gepflegt wie kein zweiter, seit Wochen waren Mildred und Max am Werk, um ihn für die Saison in ganzer Pracht zu präsentieren. Die Arbeit, die Mildred wegschaffte, sparte drei Gärtner ein. Er hätte sich ab und an bei ihr bedanken sollen, aber er vergaß zumeist, wofür.

Sie kam aus der Bibliothek, sobald sie seinen Schlüssel im Schloss hörte. Am Ende der Halle stand sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hatte dich früher erwartet«, sagte sie.

»Es tut mir leid, mir kam ein Notfall dazwischen.«

»Was du nicht sagst. Ich wünschte, es gäbe Mittel, den Herrn Doktor daran zu erinnern, dass hier zu Hause unentwegt ein Notfall herrscht.«

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schwang sie herum und stapfte in die Bibliothek zurück. Von ihm wurde erwartet, dass er ihr folgte, dass er nicht protestierte, er müsse zu Abend essen oder sich der Straßenkleider entledigen, sondern sich fügte. Er tat es grundsätzlich. Nur die Hände wusch er sich. Dafür hatte er eine Waschschüssel und einen Zerstäuber mit Phenol in der Halle bereitgestellt, damit er nicht erst nach oben musste.

Mildred saß in dem Sessel, der Hyperions Vater gehört hatte. Ihm wies sie den Stuhl zu, auf den auch der Vater ihn zu zitieren pflegte. »Ich bin heute in der Stadt deiner Schwägerin begegnet«, warf sie ihm hin. »Deiner Schwägerin und der Schlange Maria Lewis. Mir zittern jetzt noch die Hände, wenn ich daran denke.«

Auch ihre Oberlippe zitterte. Hatte es wirklich eine Zeit gegeben, in der Mildreds Temperament ihn amüsiert hatte? Er wusste nicht, was er entgegnen sollte.

»Weißt du eigentlich, dass dieses Miststück es wagt, mich eine Mörderin zu nennen? Willst du das auch tatenlos dulden, wie du alles andere duldest? Ich führe deine Kinder spazieren, sorge dafür, dass sie frische Luft bekommen, und die beiden Nattern beschimpfen mich?«

Sind wir denn keine Mörder, Mildred? Haben wir nicht jede Beschimpfung verdient? »Nein«, murmelte er. Mehr fiel ihm nicht ein.

»Was heißt nein? Behauptest du etwa, ich lüge!«

»Keineswegs«, erwiderte er und hob die Hände. »Ich meinte, nein, ich will das nicht dulden. Ich rede bei nächster Gelegenheit mit Hector, ja?«

»Soso«, machte Mildred, lehnte sich zurück und breitete die Arme über die Sessellehne. »Du redest also bei nächster Gelegenheit mit deinem Bruder. Nun, wenn du ausnahmsweise daheim gewesen wärst, hättest du heute schon Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden, er war nämlich hier und fand es äußerst bedauerlich, dich nicht anzutreffen. Mir ist der Kerl zuwider, Hyperion. Sag ihm, er soll seine Händel mit dir im Spital austragen, mein Kind und ich haben damit nichts zu tun.«

Hyperion nickte, obgleich er Hector von alldem nichts sagen und vermutlich überhaupt nicht mit ihm sprechen würde.

Mildred zog den Teewagen zu sich und schenkte sich aus der einzigen Karaffe einen Drink ein. Kaum hatte sie davon getrunken, sprang sie auf. »Ist das wieder einmal alles, was du dazu zu sagen hast?«, schrie sie. »Ist es dir einerlei, was man mich schimpft, glaubst du es am Ende selbst?«

Sie stieß ihr Glas beiseite und baute sich vor ihm auf. »Na los, sag’s schon – ist es das, was du in all dieser Zeit geglaubt hast, dass ich meiner Schwester und meinem Neffen, die ich über alles liebte, etwas angetan habe? Meidest du mich deshalb, als hätte ich Pest und Cholera? Ach nein, wenn ich Pest und Cholera hätte, wäre ich dir vermutlich einen Blick wert – eine Gnade, die weder mir noch den armen Würmern, die du in die Welt gesetzt hast, zuteilwird.«

Hyperion, der aus Gewohnheit den Kopf geduckt hatte, blickte auf und sah sie an. »Es tut mir leid, Mildred.«

»Und das, meinst du, ist wie immer genug?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde Hector sagen, dass er Bernice zurechtweisen soll. Sie hat so etwas nicht zu dir zu sagen, und natürlich glaube ich kein Wort davon.«

»Dann beweise es«, sagte sie, ging zu ihrem Platz zurück und trank, ehe sie sich setzte.

Liebend gern hätte Hyperion auch einen Drink gehabt, aber dass sie ihm keinen anbot, gehörte zu den Demütigungen, die er klaglos zu schlucken hatte. Wenn er ihr sonst nichts zu geben hatte, sollte sie sich wenigstens daran gütlich tun. »Wie soll ich es dir denn beweisen? Genügt nicht, dass ich es dir sage?«

»Nein«, antwortete sie. »Dass du es mir sagst, bringt niemanden zum Schweigen, und dass du mit dem Teufel Hector sprichst, auch nicht, wenn du es überhaupt tust.«

»Southsea ist klein, Mildred. In kleinen Orten wird eben geredet. Du darfst es dir nicht zu Herzen nehmen.«

»Und deine Kinder?« Sie schrie jetzt wieder. »Deine Kinder, die ohnehin in Schande aufwachsen, sollen die sich auch nicht zu Herzen nehmen, dass man sie Kinder von Mördern schimpft?«

»Wenn es etwas gibt, das ich darüber hinaus tun kann, sag es mir«, murmelte Hyperion.

Mildred trank Whisky. »Heirate mich«, sagte sie.

Hyperion zuckte zusammen. Wich er ihrem Blick sonst aus, so starrte er ihr jetzt ins Gesicht, als stünde dort eine Erklärung für das Unglaubliche. Ihm war Hass nichts Fremdes. Sein Bruder hasste ihn, und seine Großmutter verachtete ihn, aber kein Mensch auf der Welt hatte ihn je so gehasst wie diese Frau. Er war der Mann, der ihr Leben zerstört hatte – sie gehindert, mit ihrer Schwester nach Australien zu gehen, sie in Schande gestürzt und ihr das einzige Wesen genommen, das sie je geliebt hatte. Daphne. Sie hatte ihm alles schon gesagt – dass sie ihm nicht den Tod, sondern ein langes Leben voller Qualen wünsche, dass sie Tag und Nacht darüber nachsinne, wie sie seine Qual vergrößern könne. Nichts davon wunderte ihn, nichts schien ihm unangemessen. Nur dieses – dass sie ihm gegenüber im Sessel saß und zu ihm sagte: Heirate mich.

»Hör endlich auf, in dich hineinzuschweigen«, platzte sie los. »Habe ich nicht wenigstens darauf eine Antwort verdient?«

»Ich bin verheiratet«, presste er heraus. Von allen absurden Antworten, die er ihr geben konnte, schien diese die erträglichste.

Mildred ließ seinen Blick nicht los. »Lass Daphne für tot erklären«, sagte sie. »Sie ist seit anderthalb Jahren fort. Selbst du musst inzwischen begriffen haben, dass sie nicht zurückkommt.«

Zum ersten Mal an diesem Abend sagte er etwas, das er nicht zuvor bedacht hatte, sondern empfand, wie er es aussprach. »Ich werde das nie begreifen«, sagte er. Ich werde es nie akzeptieren, ich will bis an mein Lebensende Buße tun, damit sie noch einmal zurückkommt. Damit ich sie um Vergebung bitten kann.

»Du bist ja nicht bei Verstand«, schrie Mildred. »Ist dir noch immer nicht klar, dass das Leben weitergeht? Wir haben zwei Kinder großzuziehen, Kinder, an deren Existenz du schuld bist – dass du die beiden nicht wolltest, dass sie nicht das richtige Geschlecht haben, was können sie dafür? Hätte ich einen Sohn geboren wie Louis, hättest du mich längst geheiratet, um deinem Jungen die Schande zu ersparen.«

Was sie sagte, war so falsch wie nur möglich. Nicht dass Georgia und die arme Esther Mädchen waren, entfremdete sie ihm, sondern dass sie nicht Louis waren. Es gibt keinen Sohn wie Louis, hätte er erwidern mögen, aber sogar ihm war bewusst, wie grausam das gewesen wäre.

»Glaubst du, ich habe das nicht gewollt?«, schrie sie weiter. »Dir einen Sohn geben, wie du ihn dir so sehr gewünscht hast?«

Ich habe mir keinen Sohn gewünscht. Nur den Sohn, den ich hatte, zurück. Er hatte auf den Boden gestarrt. Als sie plötzlich vor ihm stand, fuhr er zusammen. Ihre Hand schoss auf sein Gesicht zu. Dass sie ihn ohrfeigen wollte, konnte er ihr nicht verdenken. Was hätte sie auch sonst tun sollen, um einem gefühllosen Klumpen einen Bruchteil des Schmerzes zuzufügen, den er ihr zugefügt hatte? Aber sie ohrfeigte ihn nicht. Ihre Finger waren nicht kühl und sacht, wie Daphnes Finger gewesen waren, sie trafen heiß und verschwitzt auf seine Wange und strichen daran hinunter. Ein wenig zitternd und ein wenig zärtlich. So, wie es zu Mildred nicht passte. Hyperion blickte auf und sah in ihre Augen, die vor Nässe glänzten. »Ach, Mildred«, sagte er leise und öffnete die Arme.

Es war ihm zuwider, eine Frau zu halten, wie er Daphne gehalten hatte, und bei keiner Frau war es ihm so zuwider wie bei Mildred. Wenn er auch nie erfahren mochte, auf welche Weise Daphne ihn verlassen hatte, das eine wusste er: Sie musste von dem, was er mit ihrer Schwester trieb, erfahren haben. Andernfalls wäre sie nie von ihm fortgegangen. Er hatte ihre Liebe nicht verdient, er war ihr ein furchtbarer Mann gewesen, aber Daphne hatte ihn geliebt.

Dennoch hielt er Mildred. Ließ zu, dass sie ihn küsste, zuerst auf die Wangen und dann auf den Mund. Ein Mann konnte eine Frau, der er so viel angetan hatte, nicht auch noch von sich stoßen. Mechanisch strich er über ihr Haar, während ihre Arme sich um seinen Hals klammerten. »Ich hätte dir so gern einen Sohn geboren«, wisperte sie an seinem Ohr. »Es ist nicht meine Schuld, dass es ein Mädchen geworden ist, es ist verdammt noch mal nicht meine Schuld.«

»Natürlich nicht. Und es spielt auch keine Rolle.«

»Aber die Mädchen sind dir nichts wert. Du wünschst dir einen Sohn, der Arzt wird wie du.«

Hyperion hielt inne. Hatte er sich gewünscht, dass Louis Arzt werden sollte? Soweit er sich erinnerte, hatte er sich von Louis nie etwas anderes gewünscht, als dass er sei, was er war.

»Wenn ich einen Sohn hätte, würdest du mich heiraten.«

»Das ist doch Unsinn, Mildred. Ich heirate dich nicht, weil ich nicht kann. Meine Frau hat mich verlassen. Aber sie ist nicht tot.«

»Wäre dir das lieber?«, fragte sie. »Den Skandal einer Scheidung durchzumachen, statt sie für tot erklären zu lassen? Es hat in deiner Familie schon einmal einen gegeben, nicht wahr?«

»Das war vor meiner Geburt«, antwortete Hyperion. »Und nein, es wäre mir nicht lieber. Wenn mich Daphne je wissen lässt, dass sie es wünscht, werde ich mich scheiden lassen, aber aus eigenem Willen nie.«

Sie richtete sich auf und sah ihn wieder an. »Sie kommt nicht wieder, Hyperion. Sie liebt dich nicht mehr.«

»Das weiß ich«, entgegnete er. »Aber ich liebe sie, und das werde ich immer tun.«

Die Mondrose
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