Kapitel 3
Unterwegs, November 1860
So schnell, so schnell, so schnell.
Mehr als diese zwei Worte vermochte Daphne nicht zu denken. Sie reihte sie endlos aneinander. Nicht erst seit dem Morgen, sondern seit Tagen oder, um genau zu sein, seit jener Nacht, in der Mildred den Beschluss gefasst hatte: Wir gehen weg von hier. Unser Leben in Whitechapel ist zu Ende, und ein anderes fängt an.
So schnell war alles gegangen, so schnell, so schnell. Immer fasste Mildred, ihre Milly-Milly, Beschlüsse für sie beide, und Daphne, der täppische Sperling, hüpfte hinterdrein. »Frag nicht«, hatte Mildred gesagt, als Daphne wissen wollte, woher das Geld kam. Geld für die Fahrt mit der Eisenbahn, Geld für neue Strümpfe und Umschlagtücher, denn, so erklärte Mildred, wer nicht genug Strümpfe bei sich hatte und keine warme Oberbekleidung, durfte nicht nach Australien reisen.
Zehn Wochen, auch das hatte die Schwester in Erfahrung gebracht, sollte die Überfahrt auf dem Segler dauern. »Kannst du das glauben, Sperling, wir beide zehn Wochen lang auf hohen Wellen und dann zehn Wochen weit weg von Whitechapel?«
Daphne wollte gern alles glauben, was Mildred erzählte, aber dass dieses Zauberland, wo statt Regen Gold vom Himmel tropfte, erreichbar war, blieb unglaublich. Australien nahm in ihrem Kopf kein Bild an. Es wäre mir leichtergefallen zu bleiben, durchfuhr es Daphne, so hart es hier ist, es ist nicht fremd. Gleich darauf schalt sie sich undankbar. Tat Mildred nicht alles, um ihr ein besseres Leben zu schenken? Und wenn Mildred sagte, dass in diesem Australien das bessere Leben auf sie wartete, hatte sie einen Grund, daran zu zweifeln?
Es wird schon recht sein, Milly-Milly. Solange du und ich zusammenbleiben, wird es zu ertragen sein.
Drei Tage nach dem Missgeschick mit den Navvies, das Mildred so schwergenommen hatte, war sie mit dem Fahrplan gekommen, dann mit Kleidern und einem Korb für Proviant. »Wir fahren am Montag in der Frühe. Den Eltern sagen wir nichts.«
Nur flüchtig hatte Daphne widersprechen wollen, beteuern, dass das alles doch so arg nicht war, dass sie eben schnell zu Tränen neigte, aber die Navvies sich letztlich nicht mehr als einen Spaß gemacht hatten. Ihretwegen brauchte Mildred nicht ihr schwer verdientes Geld auszugeben, ihretwegen brauchten sie nicht von zu Hause fort. Mildred aber hatte davon geredet, fortzugehen, solange Daphne denken konnte, und sie hatte nie widersprochen, also tat sie es auch jetzt nicht.
Vielleicht glaubte sie ja noch immer, es könne nicht Wirklichkeit werden, ein verträumtes Ding aus einem Londoner Hinterhaus könne nicht einfach ein Bündel schnüren, Brot und Käse in einen Korb stopfen und sich auf den Weg machen. Als sie auf dem Bahnhof Paddington ankamen, unter der gewaltigen Glaskuppel standen und auf das fauchende, in Dampf gehüllte Ungetüm starrten, war Daphne stehen geblieben, weil sie es nicht zu fassen vermochte. Mildred, die mit dem Gepäck voranstiefelte, hatte in ihrer Erregung nicht bemerkt, dass die Hand der Schwester ihr entglitten war, aber die Flut der Passagiere hatte Daphne mitgerissen. Hinter Mildred wurde sie in den schwarzen Kasten geschoben, bei dem es sich, wie ein Herr mit zwei Koffern ihr versicherte, um den Reisewagen der dritten Klasse handelte.
So schnell, so schnell, so schnell.
Es war, wie Mildred versprochen hatte. Sie saßen in einer Kutsche ohne Pferd, und draußen flog die Welt vorbei. Nur das Fenster fehlte, die spitzen Lippen und der Tee. Auch fuhren sie nicht nach Southampton. Bahnreisen dritter Klasse kosteten einen Penny pro Meile, und der Uniformierte, dem die Leute ihr Geld einhändigten und der dafür mit einer Zange Pappkärtchen von einer Rolle knipste, rechnete aus, dass Mildreds Münzen nur für zwei Billetts nach Portsmouth reichten. »Das ist uns Jacke wie Hose«, hatte Mildred verkündet. »Alfred, der Aalhändler, sagt, Segler nach Australien gibt’s von Portsmouth genau wie von Southampton.«
Also saßen sie zwischen Koffern, Kisten und Körben auf dem Boden des Waggons und spürten die Welt, über die die Räder hinwegratterten, als kleine Stöße im Hinterteil. Trotz all der Menschenleiber war es kalt, und trotz der vielen Stimmen fühlte Daphne sich allein. Sie betrachtete ihre Finger. Am Zeigefinger war eine Brandblase, die sie sich an Stenton’s Bügeleisen zugezogen hatte, weil der Keller, in dem sie arbeitete, so schlecht beleuchtet war. Wenn die Blase verheilt war – wo würde sie sein? Würde sie in der neuen Heimat auch Rüschen an Blusenärmeln glatt bügeln? Wovon lebte ein Mädchen in Australien, wenn es nicht recht geschickt war, wenig Kraft besaß und nichts gelernt hatte?
Als sie aufblickte, sah sie Mildred, die ihr gegenübersaß und ihre Habe umklammert hielt. »Freust du dich?« Wie hätte Daphne sich nicht freuen sollen, wo doch Mildred sich solche Mühe gab? Wünschten sich nicht Hunderte von Mädchen zu tun, was ihre Schwester ihr ermöglichte, der Not zu entfliehen und anderswo ihr Glück zu machen? Glück machen, wie seltsam das klang, als wäre Glück etwas zum Einkochen, für das man nur Zutaten auftreiben musste. Aber sie schweifte schon wieder ab, immer hing sie mit dem Kopf in den Wolken. Hastig riss sie sich zusammen.
»Ja, ich freu mich, Milly-Milly. Natürlich freu ich mich. Dank dir, du Liebe.«
Mildreds Lächeln wurde breiter. Sie war sehr hübsch, wenn sie so lächelte, fand Daphne. »Du musst mir nicht danken, Sperling. Wenn du dich freust, freu ich mich auch.«
»Ich freu mich wirklich.« Ich freu mich, ich freu mich, ich freu mich. Als würden die Räder ein unentwegtes Echo dazu rattern.
»Die Damen fahren nach Portsmouth? Da haben Sie allen Grund, sich zu freuen.«
Daphne schreckte zur Seite. Neben ihr saß der Mann mit den zwei Koffern, der ihr in den Zug geholfen hatte. Er mochte mittleren Alters sein und hüllte sich in einen Kutschermantel, der abgetragen, aber warm wirkte. »Kaum zu glauben, wie die Stadt sich in den paar Jahren seit Ende des Kriegs entwickelt hat«, fuhr er fort.
»Welcher Krieg?«, war es Daphne entschlüpft, ehe sie bemerkte, wie dümmlich sie klang.
»Welcher Krieg?« Der Mann hob die Brauen bis in den Schatten der Hutkrempe. »Selbstredend der Krieg auf der Krim, mein Fräulein. Es mag ja wünschenswert sein, dass unsere Damen von Gräueln unbehelligt bleiben, aber dennoch komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wo Sie leben, dass Sie nicht wissen, von welchem Krieg die Rede ist.«
»Da, wo wir gelebt haben, ist immer Krieg«, herrschte Mildred den Mann an. »Einer mehr oder weniger, weshalb soll uns das kratzen, bei uns verreckt man auch ohne Kanonen.«
Daphne fuhr zusammen. Daran, dass die Schwester, die zu ihr immer nur liebevoll sprach, aus heiterem Himmel in solche Wut geraten konnte, würde sie sich nie gewöhnen. Denselben Jähzorn kannte sie von ihrem Vater und hatte ihn von klein auf fürchten gelernt. Sie tut es, um mich zu verteidigen, stellte sie nicht zum ersten Mal fest, wobei sie sich alles andere als behaglich fühlte.
Auch der Mann, den Mildreds Zorn getroffen hatte, schien erschrocken. Er nahm seine Brille ab und tat, als müsste er sie putzen, rieb mit dem Zipfel seines Schals heftig über das Glas. Er tat ihr leid. »Ist es in Portsmouth schön?«, bemühte sie sich um einen unverfänglichen Gesprächsgegenstand.
»Aber ja.« Dankbar blickte er auf. »Sehr schön, und wenn’s nicht am Geld fehlt, kann man eine Fahrt zur Isle of Wight unternehmen, wo die Königin ihre Sommerfrische hält. Nur hätten Sie zu einer anderen Jahreszeit reisen sollen, denn jetzt können Sie doch die nette Promenade nicht genießen. Der neue Pier eröffnet erst zur Saison, und an Hotels fehlt es ohnehin. Portsmouth ist nicht Blackpool. Bisher waren wir vor allem Garnisonsstadt, als Badeort müssen wir uns erst mausern. Ich hoffe, Sie haben reserviert? Dass Sie andernfalls ein erquickliches Quartier finden, bezweifle ich. Die meisten Hoteliers schließen ab Oktober ihre Häuser.«
»Wir brauchen kein Quartier«, versetzte Mildred. »Meine Schwester und ich wandern nach Australien aus, und Ihre Hotels und Promenaden können uns gestohlen bleiben.«
»Nach Australien?« Der Mann ließ endlich die Brille in Frieden. »Ich fürchte, da sitzen Sie im falschen Zug. Einen Clipper nach Melbourne bekommen Sie in Southampton. Oder noch besser in Liverpool.«
Daphne sah Mildred den Mund öffnen, hörte aber nur das unentwegte Rattern der Räder, während ihr klarwurde, was das Gesagte bedeutete. Sie fuhren an einen Ort, wo es das, was sie suchten, nicht gab. An einen Ort, wo sie kein Quartier hatten und keine Menschenseele kannten. Es war kalt im Zug. Es würde draußen noch kälter sein. Aus Mildreds Mund drang noch immer kein Wort. Dann nur ein einziges, leises. »Aber …«
»Je nun, meine Damen«, sagte ihr Mitreisender, »allzu sehr sorgen müssen Sie sich nicht. Die Schifffahrtsgesellschaften haben ja ihre Büros bei uns, und wenn Sie bei denen Ihre Passage kaufen, sorgen die bis zur Abreise für Ihre Unterkunft. Bestehen Sie nur darauf, dass man Ihnen das Zimmer vorher zeigt. Zuweilen sollen üble Zustände herrschen, und zwei so schmucke Damen wollen sich schließlich kein Ungeziefer zulegen. Dabei fällt mir ein …« Mit ausladender Geste zog er einen der Koffer unter sich hervor und entriegelte die Verschlüsse. Der Deckel sprang zurück und gab den Blick auf eine Reihe Tiegel und verkorkter Fläschchen frei. »Vielleicht benötigen die Damen ja noch das eine oder andere zur Pflege der Schönheit? Auch ein Präparat gegen Seekrankheit empfehle ich und natürlich Stecknadeln. Unentbehrlich für eine Bahnfahrt – behalten Sie stets ein paar davon im Mund, und falls ein Strolch versucht sich im Dunkel des Tunnels einen Kuss zu stehlen, kann er sein blaues Wunder erleben.« Strahlend hielt er Daphne die Nadeln hin. »Übrigens, mein Name ist Will Burnet, Handelsreisender in Arzneimitteln und Kosmetika.«
Mildred sprang auf. Da der Zug gleich darauf einen Schwenk vollführte, wurde sie gegen eine Frau geschleudert und wäre gefallen, hätte ein Mann in Uniform sie nicht aufgefangen. »Wir setzen uns anderswohin«, beorderte sie Daphne, ohne sich bei der Frau zu entschuldigen oder bei dem Uniformierten zu bedanken. Aber anderswo gab es keine Handbreit Platz. Mildreds Gesicht war bleich. Als wüsste sie, dass Daphne es bemerkt hatte, rief sie: »Keine Sorge, Sperling, überlass das nur mir. Ich finde ein Schiff für uns und auch ein Quartier.«
»Und Geld, Milly-Milly?«
»Um Geld brauchst du dich nicht zu kümmern. Besorge ich nicht immer alles, was du brauchst?«
Daphne stand ebenfalls auf und balancierte mühsam ihr Gewicht. »Ja, das tust du«, murmelte sie. Die Schwestern sahen einander an. Es war, als stünden sie allein im Waggon. So war es gewesen, solange Daphne denken konnte. Mildred war immer da, alle anderen waren bedeutungslos. Ich will ihr helfen, nahm Daphne sich vor, sie muss ja müde davon sein, die Last allein zu schleppen. Zugleich aber wusste sie, dass sie, linkisch, wie sie war, nicht würde helfen können, sondern dass Mildred wie immer alles alleine regeln musste.
Als der Zug in Portsmouth hielt, als Mildred mit ihrer Fußspitze zum ersten Mal den Boden der Stadt berührte, hörte es zu regnen auf. Genau wie der riesenhafte Bahnhof, von dem sie in London aufgebrochen waren, war auch dieser kleinere von einer gläsernen Kuppel überdacht, und auf das Glas der Kuppel hörte Mildred Regen prasseln, als sie aus der Tür spähte. Sobald sie jedoch ihren Fuß aufsetzte, verstummte das Prasseln.
Das ist gut, dachte Mildred und wunderte sich, weil der Gedanke so seltsam war. Sie war sicher, sie würde sich daran erinnern – an den Augenblick, in dem sie in Portsmouth aus dem Zug stieg, der Regen ein Ende nahm und sie bei sich dachte: Das ist gut. Gleich darauf drehte sie sich um und half Daphne aus dem Zug.
Sie hatte nicht gewusst, was zu tun war. Die Behauptung des Lackaffen hatte ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen entzogen, doch mit einem Schlag schien ihre Sorge fortgewischt. Alles würde sich fügen, wie das Ende des Regens sich gefügt hatte. Die kleine Stadt, in die sie irrtümlich geraten waren, meinte es gut mit ihnen. Mildred hatte noch nie so gedacht, sie war nicht abergläubisch und verließ sich auf ihre Tatkraft. Jetzt aber dachte sie so. Schleppte ihr Gepäck durchs Gewühl aus der Bahnhofshalle, zerrte Daphne hinterher und setzte sich kurzerhand mit ihr auf ein Mäuerchen, um dort auf ihr Glück zu warten.
Und dann roch sie es. Spürte es in dem Wind, der ihr um die Wangen pfiff, und hörte es in ihrem Rücken – obgleich aus dem Portal des Bahnhofs eine lärmende Menschenmasse quoll und dahinter das quirlige Treiben einer Einkaufsstraße herrschte. So, wie sie im Radau der Petticoat Lane das Klavier gehört hatte. Sie packte Daphnes Gelenk. »Weißt du, was das ist, Sperling?«
Daphne schüttelte den Kopf.
»Das Meer«, flüsterte Mildred und hörte sich mit Andacht zu. Dann erst drehten beide sich um.
Das Meer war ein Stück weit von der Bucht eingeschlossen, die es wie in Armen hielt. Dahinter aber brach es heraus und nahm allen Raum ein, und hätten die Arme Hände gehabt, sie hätten es nicht halten können. Am Horizont erhob sich eine bucklige Landmasse, gewiss die Isle of Wight, auf der die Königin mit ihrer Familie Urlaub genoss. Das Meer jedoch dehnte und streckte sich viel weiter, als ein enges Sichtfeld fasste. Es war blauschwarz und tobte, bäumte sich schäumend und ging berstend nieder, obgleich es in der Ferne spiegelglatt und reglos wirkte.
Dieses Meer, das sich gab, als hätte es kein Ende, würden sie überqueren müssen, ehe sie an Australiens Küste neues Land betraten, und dennoch war Mildred zumute, als wären sie schon angekommen. Als sie nach oben sah, riss die Wolkendecke auf, gab einen Flecken blasser Sonne frei, und Mildred, die an kein Zeichen oder Wunder glaubte, dachte noch einmal: Das ist gut.
Sie zwang ihren Blick vom Meer fort und ließ ihn über das Gesicht der Stadt schweifen. Zur Rechten lag der Bahnhof, aus dessen Portal immer neue Wellen von Menschen schwappten – elegante Damen mit Kindern und Bediensteten, Scharen junger Männer in Uniformen, die sich Unsinn zubrüllten, und Gruppen von Leuten jeden Alters, die sich an ihr Gepäck klammerten, wie um die Heimat darin festzuhalten. Auswanderer. Dass sie in solchen Massen auf die Straße strömten, versetzte Mildred einen Stich.
Sie sah die Straße entlang. Die Häuser waren hübsch, in hellen Farben verputzt und nicht höher als drei Stockwerke, schmalbrüstig eins ans andere geschmiegt. In den Erdgeschossen reihten sich Geschäfte, und davor tummelten sich Einkäufer, Straßenhändler, Kinder mit Kreiseln, Lieferanten mit Schubkarren, Pferdewagen, bettelnde Hunde. Ein Bild voll Farbe, trotz des trüben Tages, und der Lärm, der herüberdrang, erinnerte eher an einen Jahrmarkt als an die Ladenzeilen, die Mildred aus Whitechapel kannte.
Als wäre ihr Blick eine Dame, die von Geschäft zu Geschäft flanierte, wanderte er die Straße hinunter, blieb hier an etwas hängen und prüfte dort ein Angebot, bis die ganze Pracht abrupt zum Ende kam und der Blick an ein Hindernis prallte. Dort, wo die Straße abbrach, ragte eine Ziegelmauer auf, erstreckte sich bis zum Gestade und ein Stück ins Meer hinein. Darüber hinaus lugten Dächer hoher Gebäude, und Geräusche kündeten von emsiger Arbeit – Hammerschläge, knarrende Winden, gebrüllte Befehle. Hinter der Mauer mussten die Docks liegen, die Werftanlagen der königlichen Marine.
Mildred erschrak. In ihren Betrachtungen hatte sie die Schwester vergessen und sah erst jetzt, wie verloren sie auf dem Mäuerchen kauerte. Jäh zog sie sie an sich, spürte das Zittern ihrer Schultern und bemerkte, wie kalt es war. »Ist ja gut«, murmelte sie, zupfte Daphne das Schultertuch zurecht und knotete ihr eigenes auf, um es darüberzubreiten. »Bestimmt finden wir gleich jemanden, an den wir uns wenden können.«
»Wen denn, Milly?«
»Überlass das nur mir.« Wie ein Kind war Daphne. Mildred hob den Proviantkorb auf. »Hast du Hunger?«
Da die Jüngere den Kopf schüttelte, nahm Mildred sich selbst, was im Korb verblieben war, einen schrumpeligen Apfel und den Kanten vom Brot. Flüchtig kam ihr der Gedanke, dass sie dies Letzte besser aufheben sollten, aber der salzige Geruch der Luft machte ihren Magen schwach. Sie biss mit Lust in den Apfel und schob die Hand in die Rocktasche, wo der Rest ihrer Barschaft klimperte. Zur Not musste sie ein paar Pennys für ein Nachtessen springen lassen, das war nicht das Ende der Welt. Beim nächsten Biss jedoch stellte sich die Hilfe ein, auf die sie gewartet hatte.
»Gestatten die Damen, dass ich mich Ihnen zugeselle? Mir scheint, Sie sind fremd in unserer Stadt, womöglich käme Ihnen guter Rat gelegen?«
»Und ob!«, entfuhr es Mildred. Vor ihnen stand ein Herr, der nach Art der Geschäftsleute Gehrock und Zylinder sowie einen ledernen Aktenkoffer trug. Ein Blick auf ihn genügte, um Vertrauen zu gewinnen. Jedes Stück seiner Kleidung war tadellos, der Hemdkragen blütenweiß, Haar und Bart gepflegt.
Bei Mildreds Ausbruch lächelte er. »Dachte ich es mir doch. In meinem Geschäft entwickelt man dafür ein Gespür.«
Daphnes Hand krallte sich in ihren Arm. Die Schwester hatte vor allem und jedem Angst, so respektierlich es auch daherkommen mochte. »Darf man erfahren, worin Ihr Geschäft besteht?«, fragte Mildred. »Und den Namen, wenn’s beliebt?«
»Ich bitte um Vergebung.« Der Herr zog den Zylinder und verneigte sich so tief, dass Mildred die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf erspähte. »Frederick A. Wilson mein Name, Geschäftsleiter der Blue Flag Company, Agentur für Auswanderer.«
Mildred hätte jubeln mögen. Stattdessen straffte sie würdevoll die Schultern und nickte dem Geschäftsleiter Wilson zu. »Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Mildred Adams, und dies ist meine Schwester Daphne.« Wie man sich zu derlei Anlässen ausdrückte, hatte sie aus Daphnes Romanen gelernt. Es klang genau richtig, sie durfte mit sich zufrieden sein.
»Sie kommen aus London?«, fragte Wilson.
»Woher wissen Sie das?«
Der Geschäftsleiter klopfte sich aufs Ohr. »Gehör, meine Teuerste. Und ein wenig von jenem Gespür, das ich erwähnte. Erlauben Sie mir, weiterzuraten. Sie sind nach Portsmouth gekommen, weil Ihnen der Sinn nach dem großen Abenteuer steht. Nur wohin die Reise gehen soll, müssen Sie mir verraten. Amerika? Kanada? Zwei Damen von Welt steht ja alles offen.«
»Australien!«, rief Mildred wie im Triumph.
Sein Lächeln verbreiterte sich. »Für Sie nur das Beste. Darf ich fragen, ob Sie Ihre Passage bereits gebucht haben?«
Fieberhaft überlegte Mildred. Wie ließ sich ihr Anliegen formulieren, ohne preiszugeben, dass ihre Geldmittel im besten Fall für ein Nachtessen und einen Schlafplatz genügten? Um Zeit zu gewinnen, biss sie noch einmal in den Apfel, bereute es aber, sobald der Saft der Frucht nach allen Seiten spritzte. Hatte ein Tropfen ihren Retter getroffen, hatte sie ihr Glück verscherzt?
»Wohl bekomm’s.« Der Geschäftsleiter lächelte noch immer. »Wissen Sie, was ich sagen würde, wenn es mir ein weiteres Mal gestattet wäre zu raten? Ich würde sagen: Eine patente junge Dame wie Sie, die bucht nicht einfach eine Schiffspassage und überlässt den Rest dem lieben Herrgott, habe ich recht?«
Mildred kaute auf dem Apfel und entschloss sich zu nicken. Hatte sie richtig gesehen? Hatte Wilson ihr zugezwinkert? »Milly«, wisperte Daphne neben ihr und klammerte sich an ihren Arm. Hastig klopfte Mildred ihr die Hand, damit sie Ruhe bewahrte.
»Darf ich?« Wilson förderte ein Taschentuch zutage, wedelte übers Gestein und setzte sich neben Mildred. In seinen Schoß stellte er den Aktenkoffer und klappte ihn wie ein Schreibpult auf. »Sie wollen also vorsorgen. Sichergehen, dass ein behagliches Heim auf Sie wartet. Australien ist für Sie keine Laune, sondern der Boden, auf dem Sie Wurzeln schlagen wollen.«
Wieder nickte Mildred.
Wilson sandte ihr ein weiteres Lächeln. »Registriert sind Sie bisher aber noch nicht?«
Mildred schüttelte den Kopf.
»Meine liebe Miss Adams, ich wage zu behaupten, uns hat der Himmel zusammengeführt.« Er entnahm dem Koffer eine Mappe. »Vorausgesetzt, meine Firma hätte die Ehre, Sie selbst und die werte Schwester als Klientinnen begrüßen zu dürfen.«
War Mildred ehrlich, so zerrte ihr Wilsons Ausdrucksweise inzwischen an den Nerven, zumal sie ständig überlegen musste, was er eigentlich meinte. Aber das war nun einmal der Preis für kultiviertes Betragen. Sie würde sich daran gewöhnen, wenn sie erst in ihrem Haus in Australien lebte und den Schlamm von Whitechapel für alle Zeit abgestreift hatte.
Im Innern des Aktenkoffers machte Wilson sich Notizen. »Adams, Mildred und Adams, Daphne, gebürtig in London von beiderseits englischen Eltern, hat das seine Richtigkeit? Und wie alt sind die jungen Damen, wenn Sie es mir verraten würden?«
»Zweiundzwanzig«, erwiderte Mildred, die neunzehn war. »Meine Schwester ist ein Jahr jünger als ich.«
»Wie bezaubernd. In der Blüte der Jugend. Sie beide sind doch bei bester Gesundheit? Es gibt keinen Grund, warum sich kein Kindersegen einstellen sollte?«
»Keinen«, murmelte Mildred, die natürlich wusste, worauf die Frage hinauslief. Jedes Mädchen, das vom Auswandern träumte, wusste es. Wer die Überfahrt nicht bezahlen konnte, dem blieb nichts anderes übrig, als sich einem Heiratsvermittler anzubieten. Sie hatte sich lange schon damit befasst, und doch schien der Gedanke, sich einem fremden Mann zu versprechen und von Kindern zu schwatzen, geradezu halsbrecherisch. Wenn sie an die Ehe dachte, so dachte sie an ihre Eltern. An Gebrüll und Gepolter, feuchte Kammern, deren Miete nicht bezahlt war, schlaflose Stunden, derweil der Vater seinen Rausch ausschnarchte und die Mutter in der Dunkelheit weinte. Hätte Mildred die Wahl gehabt, sie hätte im Leben keinen Mann genommen. Wie aber sollten sie dann nach Australien gelangen, wie jemals ein Haus mit weißen Säulen besitzen und auf seinen Stufen in der Sonne stehen? Wilsons Schreibfeder schabte über das Papier. Wenn es gar zu schlimm wird, können wir immer noch flüchten, beruhigte sie sich.
Wilson blickte von seiner Schreibarbeit auf. »Haben Sie Wünsche, den künftigen Gemahl betreffend? Soll es beispielsweise ein Herr rein englischer Abkunft sein oder wäre auch ein schottischer oder irischer Einschlag genehm?«
»Ich will nicht, Milly!« Daphne sprang auf.
Das fehlte ihr noch, dass jetzt Daphne alles verdarb. »Gib doch Ruhe, überlass es mir!«
»Ihre Schwester ist wohl ein wenig verstört«, bemerkte Wilson. »Wem wäre das zu verdenken? Aber sobald die Dinge einmal geordnet sind, gewöhnt man sich schnell. Wenn wir nun also wieder auf meine Frage zurückkommen könnten …«
»Keine Iren«, warf Mildred hastig ein. In Whitechapel wimmelte es von Iren, die soffen wie Sickergruben. »Sonst ist alles recht. Nur eine Kleinigkeit wäre da noch.«
»Ich darf bitten?«
»Ich muss wissen, was es uns kostet.« Sie fühlte Glut in den Wangen. »Ihre Agentur erhebt doch sicher eine Art Gebühr?«
»Wie aufmerksam, mich daran zu erinnern«, sagte Wilson. »Nicht auszudenken, wenn ich es ob der charmanten Unterhaltung vergessen hätte. Am Ende hätte ich nichts für Sie tun können, weil die Gebühr nicht entrichtet wurde. Lassen Sie uns das aus der Welt schaffen, es handelt sich in der Tat nur um einen geringen Betrag für den Arbeitsaufwand. Alle anderen Kosten – für die Überfahrt wie für Ihre Versorgung in Melbourne – trägt Ihr Bräutigam.«
»Und was ist mit Quartier und Verpflegung? Wir werden ja wohl kaum noch heute in dieses Southampton verbracht.«
»Natürlich nicht, meine Liebe.« Wilson berührte ihren Arm. »Unsere Bräute werden bis zur Abreise in Privatzimmern untergebracht und dort auch verpflegt. Einen entsprechenden Wertschein stelle ich Ihnen aus, sobald ich die Gebühr erhalten habe, und anschließend begeben Sie sich am besten sogleich in Ihr Quartier. Ihre Schwester sieht müde aus.«
»Wie viel?« Mildreds Stimme krächzte.
»Wie gesagt, nur ein geringer Betrag. Drei Guineen pro Kopf.«
Mildred stockte der Atem. Ohne dass sie es wollte, kroch ihre Hand in die Rocktasche und förderte die Münzen zutage – all die verklebten, abgegriffenen Münzen, die in ihrem Versteck auf diesen Tag gewartet hatten und jetzt nutzlos waren. Zweimal drei Guineen, das waren weit über hundert Schillinge, und die Pennys und Farthings auf Mildreds Handfläche ergaben zusammen vielleicht sechs oder sieben. Nicht einmal ein Zehntel des Preises.
»Oje«, hörte sie Wilson seufzen. »Das ist alles, was Sie haben?«
Sie hielt ihm die Hand noch immer entgegen. Er zog wieder das Taschentuch hervor und sammelte Geldstücke hinein, wobei er stimmlos zählte. »Es ist nicht genug«, flüsterte Mildred, als bestünde daran der geringste Zweifel.
»Schwierig«, bestätigte Wilson, der den letzten Farthing ins Tuch geworfen hatte. »Im Grunde dürfte ich in Ihrem Fall nicht tätig werden, so schreibt es die Geschäftsordnung vor.«
Mildred zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Ich flehe dich an. Ich tue alles, was du willst, nur schick uns nicht weg. Sie wusste, dass sie nicht schön war. Ihr Haar war störrisch, sie hatte den dunklen Teint des Vaters geerbt, und ihren Zügen haftete nichts Liebliches an. Schön war Daphne mit ihren hellen Locken und den Sternenaugen. Nach Daphne drehten sich die Männer lächelnd um, und doch war es Mildred, die, wenn sie wollte, ihre Blicke fesselte. Sie sandte dem Fremden etwas, das sie nicht zu benennen wusste, und betete, dass es seine Wirkung tat.
»Sie sind mir nicht gleichgültig, wissen Sie?«, stotterte Wilson, und Mildred atmete auf. »Ihr Befinden liegt mir am Herzen, deshalb mache ich eine Ausnahme. Sie können die Summe anzahlen.«
Es hatte wieder zu regnen begonnen, in Mildreds Nacken schlugen Tropfen, doch im Inneren breitete sich Wärme aus. Dem Himmel sei Dank! Die Frage, wie sie die Summe auftreiben sollte, würde sie später beantworten. Sie drehte sich nach Daphne um, die erbärmlich zitterte. Aufmunternd lächelte sie ihr zu. Gleich würde Wilson irgendein Papier ausstellen und ihnen den Weg zum Quartier weisen, wo ihr Sperling sich aufwärmen konnte. Gewiss bekämen sie dort Tee. Auch Suppe. Bei dem Gedanken begann Mildreds Magen von neuem zu knurren.
Keinen Herzschlag später ertönte ein Schrei. Ein Riese von Mann stürmte von der Hauptstraße auf sie zu und sprang mit dem Satz eines Raubtiers vor sie hin. Alles, was Mildred erkannte, war der weiße Filzhut eines Navvy, doch der genügte ihr. Sie setzte zurück und riss Daphne mit sich. Der Verbrecher jedoch griff nicht sie an, sondern Wilson, den er bei den Schultern packte und schüttelte. Dabei schrie er auf ihn nieder und beugte sich über ihn, dass der Geschäftsmann sich unter ihm krümmte. Mildred hätte mit Daphne fliehen sollen, aber sie stand wie festgewachsen da. Unser Geld – mehr konnte sie nicht denken. Sie selbst mochte eine Nacht in der Kälte überstehen, doch Daphne würde es das Leben kosten.
Auf Hilfe von Passanten wagte Mildred nicht zu hoffen. Sie stammte aus Londons Osten, wo in jedem Winkel Leute bestohlen, geschlagen und geschändet wurden, ohne dass jemand eine Wimper zuckte. Durch Schleier sah sie, wie Wilson floh. Mit fliegenden Rockschößen preschte er die Straße hinauf und tauchte in der Menge unter. Daphne ließ sich in ihre Arme fallen und begann zu weinen. Flüchtig wünschte Mildred, dasselbe zu tun.
»Ist alles gut jetzt. Das Schwein ist weg.«
Die Worte klangen hart, wie in Silben zerhackt. Mildred drängte Daphne hinter ihren Rücken und reckte sich zu voller Größe. Wollte der Satan Hand an ihre Schwester legen, so musste er es über ihre Leiche tun.
»Verstehen Sie mich? Sie müssen nicht Angst haben. Ist jetzt alles gut.«
Mildred sah ihn die Hand ausstrecken und sprang mit Daphne zurück. Er aber berührte sie nicht, sondern hielt ihr etwas entgegen. Etwas Weißes. Wilsons Taschentuch. Was darin klirrte, waren ihre Geldmünzen.
»Den Drecksmann sollten die ins Gefängnis sperren«, sagte der Navvy und schwang das Bündel. »Der steht immer hier, hält nach Mädchen Ausschau und betrügt sie um ihr Geld. Aber die lassen den machen. Dafür, dass einer arme Weibsleute ausnimmt, kommt er in keinen Bau.«
Der Mann war wahrhaftig ein Hüne. Er hatte die Filzkappe vom Kopf gezogen und zerquetschte sie in einer Pranke. In ihrem Rücken spürte Mildred Daphnes Zittern. Als sie sich aber umwandte, bemerkte sie, dass das Zittern von ihr selbst kam und dass ihr die Beine in den Knien knickten. Ehe sie aufs Pflaster schlug, war der große Mann bei ihr und fing sie auf.
Geruch nach feuchtem Leder stieg ihr in die Nase. Sie fühlte sich gehalten, spürte Hände, die über ihren Kopf strichen, und ein Herz, das an ihrem Ohr kräftig schlug. »Armes Kleines. Ist ja weg, der Drecksmann. Tut dir nichts mehr. Niemals mehr.«
Trotz der zerhackten Worte war die Stimme sacht. Nie zuvor hatte ein Mensch Mildred klein genannt oder ihr den Kopf gestreichelt.
»Habt keine Unterkunft?«
Sie brachte keine Antwort heraus, und er erwartete keine.
»Musst dich nicht sorgen. Ich nehm euch mit.« Kurz hielt er inne, doch als sie noch immer nichts erwiderte, sprach er weiter: »Victor März heiß ich. Bin Aufseher in Weaver’s Mietpension. Ist nicht schön da. Auch nicht sauber. Aber wärmer als hier.«
Mildred wollte sich befreien, doch der Augenblick der Schwäche tat so gut, dass sie noch einmal zurücksank. Gewiss stank der Kerl und war von oben bis unten verdreckt. Gewiss log er. Zudem war er kein Engländer, noch nicht einmal Ire. Aber er hielt sie fest und hatte begonnen sich mit ihr zu wiegen und zu summen. Sein Wiegenlied erkannte sie nicht. Es kam ihr vor wie ihr eigenes:
»Lavendel ist blau, dilly dilly,
Lavendel ist grün.
Wenn ich erst König bin, dilly dilly,
Wirst du meine Königin.«