Kapitel 53

März

Sie waren alle dort, wo sie immer zusammentrafen. In Mount Othrys. Auf ihrem Titanengipfel. Ihre Großmutter hatte eine unglaubliche Ausnahme gemacht und den großen Saal des Hotels für die Gäste der Vorsaison gesperrt. Er sollte an diesem Tag der Familie und dem Willkommensfest für Selene vorbehalten bleiben.

Dabei war es nicht nur unnötig, sondern lachhaft, einen Saal, der hundert Menschen fasste, für die Feier einer Familie von acht zu nutzen, zumal eine – Annette – auch noch fehlte. Dass ihre Großmutter Dinge tat, die lachhaft waren, fiel Selene nicht zum ersten Mal auf. Aber zum ersten Mal machte es sie blind vor Wut.

»Ich bitte dich, komm nach«, hatte ihre Mutter sie angefleht. »Der Großmutter bedeutet es so viel, und sie hat das am Kai doch nicht böse gemeint.«

»Und wie hast du es gemeint?«, hatte Selene geschrien. »Du hast dich genauso benommen wie sie – nämlich völlig verrückt.«

»Schrei deine Mutter nicht an«, mischte ihr Vater sich ein.

Die Mutter war zu ihm geflohen und hatte sich an seinen Arm gehängt. »Bitte tu mir die Liebe«, bettelte sie die Tochter noch einmal an, ehe sie ging. »Ich sage der Großmutter, du siehst nur rasch deine Willkommenspost durch, ja?«

Dass diese Post eine weitere Bombe enthielt und dass Selene deshalb in der Tat unterwegs nach Mount Othrys war, um die Bombe unter die verlorenen Gestalten im Saal zu werfen, hatte ihre Mutter nicht gewusst.

Sie hatten am Kai der Fähre gestanden, um sie abzuholen, ihr kleines Empfangskomitee – die Mutter, die Großmutter, Onkel Horatio und Tante Georgia –, und Selene wollte vor Freude hüpfen, als sie sie entdeckte. Bis dahin hatte sie nicht bemerkt, wie sehr sie ihr gefehlt hatten. »Da sind sie!«, rief sie und zerrte Harry, der steif und eingeschüchtert an der Reling stand, am Arm. »Das ist meine Familie.« Für kurze Zeit war die Enttäuschung über Thomas vergessen, der ohne sie abgereist war, weil sie auf Harry hatte warten wollen. Ohnehin hatte Harry sich gesträubt, mit ihr zu fahren, aber Selene hatte darauf bestanden. »Natürlich kommst du mit! Du bist der beste Freund, den ich je hatte, und ohne dich hätte ich das Jahr nicht durchgehalten. Bis zur Jungfernfahrt bleibst du bei uns, du kannst im Victoriana oder in Mount Othrys wohnen. Zu dieser Jahreszeit stehen doch sowieso die meisten Zimmer leer.«

Letzten Endes hatte Harry nachgegeben, wenn auch nur unter einer Bedingung – der wundervollsten Bedingung der Welt. Mochte Thomas tun, was er wollte, mochte er sie wieder einmal ohne Erklärung verletzen, Selene hatte eine Entschädigung. »Wenn ich mit dir komme, kommst du mit mir«, hatte Harry gesagt, und dann hatten sie ihr Geld zusammengelegt – all die unbenutzten Wechsel ihres Vaters und ein bisschen von Harry – und dem Kollegen Francis White seinen Losgewinn abgekauft. Sie, Selene Ternan, würde auf der Jungfernfahrt der Titanic dabei sein. Sie würde auf einem schwimmenden Weltwunder den Ozean überqueren.

Ihrer Familie wollte sie es sagen, sobald sie von Bord gegangen war, und dann wollte sie ihnen Harry vorstellen, und alles würde großartig sein. Nur, dass Annette nicht mit zum Kai gekommen war, enttäuschte sie, doch sie wartete gewiss in Mount Othrys mit irgendeiner verrückten Überraschung. Wann Selene bemerkte, dass die glückselige Stimmung in ihr Gegenteil umgeschlagen war, wusste sie nicht. Vielleicht überfiel sie eine Ahnung, als sie Harry dreimal auffordern musste, die Rampe hinunterzugehen, und er weiter wie angewurzelt stehen blieb. »He, Harry, hat dir Portsmouth die Sprache verschlagen? Dann warte nur ab, bis du Mount Othrys siehst!« Harry erwiderte nichts, und erst als sie ihm einen Stoß verpasste, setzte er sich schleppend, wie benommen, in Gang.

Großmutter, Mutter und Tante Georgia hatten ihr frenetisch gewinkt. Als sie mit Harry den Fuß der Rampe erreichte, winkte nur noch die Tante. Keine der anderen stürmte ihr entgegen, um sie in die Arme zu reißen. Sie war anderthalb Jahre fort gewesen, war braun wie ein Kutscher und hatte sich das Haar schneiden lassen, und die beiden Frauen standen stumm und rührten sich nicht.

»Herzlich willkommen in deinem alten Portsmouth!«, brüllte Tante Georgia, doch der Witz, den sie hatte reißen wollen, blieb ihr im Hals stecken, als sie Mildreds Gesicht bemerkte. »Was ist, Mutter? Laus über die Leber gelaufen, und das ausgerechnet heute?«

Großmutter Mildred beachtete sie nicht. »Was tut der hier?«, fragte sie tonlos und wies mit ausgestrecktem Arm auf Harry. Der stockte in der Bewegung. Erst jetzt sah Selene, dass er totenbleich war. Auch die Großmutter war totenbleich, und nur die Mutter war noch bleicher.

»Das ist mein Kollege Harry Matthew«, sagte Selene noch immer in dem Glauben, die seltsame Missstimmung werde sich binnen kurzem in Wohlgefallen auflösen. »Wir sind uns auf der Werft begegnet und sind Freunde geworden. Wir fahren beide auf der Titanic nach New York.«

Selenes Mutter stieß einen spitzen Laut aus.

»Scher dich hier weg«, zischte Großmutter Mildred. »Scher dich um alles, was dir lieb ist, weg!«

»Willkommen bei den Weavers«, bemerkte der Onkel und streckte Harry die Hand hin, obwohl er Händeschütteln hasste. »Der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, lautet: Nehmen Sie uns nicht ernst.«

Harry ließ seine Hand in der Luft hängen. Er starrte Großmutter Mildred an.

»Hat uns die Wiedersehensfreude den Verstand umnebelt?«, fragte Georgia. Niemand beachtete sie.

Endlich berührte Harry ihren Arm. »Ich muss gehen«, sagte er leise. »Verzeih mir.« Damit hob er sein Gepäck auf, eilte los und tauchte in der Menschenmenge unter.

Der Rest der Szene war ein groteskes Durcheinander aus Gerangel, Gezeter und Geheule. Selene wollte ihm folgen, die Großmutter packte sie am Arm, und ehe sie sich losgerissen hatte, hängte die Mutter sich an ihren Hals und bettelte, sie solle mit ihnen nach Hause kommen. Nichts anderes sei wichtig, als dass sie wieder daheim sei. Selene war dennoch hinter Harry hergestürmt, aber natürlich kam sie zu spät, und dann wuchs auf einmal ihr Vater aus dem Boden und packte sie schmerzhaft am Arm. »Du kommst jetzt mit. Irgendwann müssen diese Kapriolen ein Ende haben, oder deine Mutter geht daran kaputt.«

Nie zuvor hatte ihr Vater ihr weh getan. Die Eltern verfrachteten sie ins Haus und vor den Stapel Post in ihrem Zimmer. Die Mutter ließ Rose, das Mädchen, Platten mit Obst und Konfekt auffahren, weinte, flehte und erklärte schließlich, sie und der Vater müssten jetzt zu Großmutters Willkommensfest fahren, Selene solle nachkommen, sobald sie sich in der Lage fühle. »Die Großmutter ist alt, und sie war außer sich, Liebling. Wir wollen doch nicht, dass ihr etwas geschieht.«

»Sprich nicht mit mir, als wäre ich fünf Jahre alt!«, schrie Selene. Ihr Vater sprang auf sie zu, aber ehe er sie schlagen konnte, riss ihre Mutter ihn zurück.

»Tu das niemals, Andrew«, sagte sie und brach in Tränen aus. »Wenn du mein Kind schlägst, siehst du mich nicht wieder.«

Selene wusste nicht, wer von beiden ihr in diesem Augenblick mehr zuwider war.

Die Eltern waren endlich aufgebrochen, und Selene hatte Rose, die sich um sie kümmern wollte, weggeschickt. Doch auch als sie allein war, wurde sie der Verwirrung, dem Gefühl, blind in einen Schacht gestürzt zu sein, nicht Herr. Wo war Harry? Warum spielten alle verrückt? Nur weil der Werftarbeiter nicht ihrer Klasse angehörte, weil ihre Verwandten fürchteten, sie wolle eine Mesalliance eingehen? Begriffen sie wirklich nicht, dass die Zeiten sich änderten? Außerdem hatte sie ihnen doch erklärt, dass es sich bei Harry um einen Kollegen handelte, nicht um einen künftigen Verlobten. Zorn auf Thomas, der die Situation hätte retten können, packte sie. Aber hätte überhaupt jemand die Situation retten können, war sie nicht völlig verfahren und verrückt?

Was sie schließlich bewog, mit der Durchsicht der Briefe und Karten auf ihrem Schreibpult zu beginnen, blieb fraglich. Vielleicht die Hoffnung, eine Nachricht von Annette zu finden, die dem Onkel zufolge auf einem Archäologenkongress in London war. Vielleicht der Wunsch, irgendetwas Banales, Gewöhnliches zu tun, um ihre aufgepeitschten Nerven zu besänftigen. Was sie damit jedoch bewirkte, entsprach dem genauen Gegenteil.

Die Karte steckte in einem Umschlag aus billigem Papier. Es war eine altmodische Karte, die den Clarence Pier zeigte, wie er zum Zeitpunkt seiner Eröffnung ausgesehen haben mochte, lange bevor der South Parade Pier ihm den Rang ablief. »Grüße aus dem schönen Portsmouth« stand in weißer Schrift darübergedruckt. Wer schickte ihr das? Touristen einer fernen Epoche mochten solche Karten gekauft haben.

Als sie sie umdrehte, glaubte sie einen halben Herzschlag lang, sie stamme von ihrer Mutter – die stellte schließlich das ganze Haus mit alten Fotos voll und schrieb ihrer Tochter zu jedem Anlass Karten. Zudem stand in der ersten Zeile: »Liebste Tochter«. Als der halbe Herzschlag vorüber war, musste Selene nach Luft schnappen. Die Schrift der Mutter war rund und gefällig, diese hier war schief und eckig, wie geschrieben von ungelenker Hand.

»Liebste Tochter. Willkommen daheim. Wie gern würde auch ich an dem Fest zu Deiner Begrüßung teilnehmen, doch ich wäre die Letzte, die Mildred einlüde. Ich bin nicht mehr vorzeigbar – nicht nur geistig verwirrt, sondern vor allem Mutter eines Balgs ohne respektablen Vater. Deine Mutter, Kleines. Es sei zu Deinem Besten, versicherte man mir, wenn man Dich bei den braven Ternans unterbringe und ich aus Deinem Leben verschwände. Schade nur, dass wir beide uns nun nie kennenlernen werden, und wer weiß, ob ich überhaupt noch lebe. Die erste unliebsame Person, die Mildred aus dem Weg geschafft hätte, wäre ich nämlich nicht. In Liebe, Deine Mutter.«

Selene war ein vernünftiges Mädchen des 20. Jahrhunderts, das weder zu Ohnmachten noch zu hysterischen Anfällen neigte und höchst selten etwas Unbedachtes tat. Was an diesem Tag auf sie einstürzte, setzte jedoch alles, was bisher gegolten hatte, außer Kraft.

Selene jagte aus dem Haus, ohne nachzudenken. Sie rannte den ganzen Weg nach Mount Othrys und schwang dabei die Karte wie eine Fahne vor sich her. Was in ihr vorging, vermochte sie nicht zu benennen. Es war zu viel, es kam aus sämtlichen Richtungen, und es war zu fremd, um einen Namen zu haben.

Vor dem Hotel salutierten heute weder Pagen noch Hausdiener. Ein Mann im grauen Anzug stand dort, der offenbar auf sie wartete. Thomas. Er lief geradewegs auf sie zu und schloss sie in die Arme. Dass sie sich wehrte, ignorierte er, und als sie zu schreien ansetzte, legte er ihr eine Hand auf den Mund. »Du musst mir verzeihen, Titanin«, sagte er. »Und du musst mich anhören. Erst wenn du mir das versprichst, kann ich dich loslassen. Ich habe mich in dich verliebt, als ich dir an der Helling der grausigen Dreadnought zum ersten Mal begegnet bin, und dass ich mich wie Europas größter Idiot benommen habe, hat alles mit mir und nichts mit dir zu tun. Aber es ist vorbei, meine Schöne. Lass mich es dir erklären, und dann spreche ich mit deinem Vater, einverstanden? Ich liebe dich.«

Selene tat das Einzige, das ihr in ihrer grotesken Lage möglich schien. Während er sich auf ihren Mund konzentrierte, befreite sie ihre Hand und versetzte ihm einen Boxhieb vor die Brust. Vor Schreck ließ er sie los, und sie stürmte ins Haus und in den großen Saal.

Die Großmutter hatte Bar und Büfett aufbauen lassen, und am Flügel spielte ein Mann einen schicken neuen Walzer, der »Love unspoken« hieß.

»Unausgesprochene Liebe, ungebrochene Treue,

Ein ganzes Leben hindurch.«

Ein modernes Grammophon kam der Großmutter nicht ins Haus, es musste der alte Steinway sein – Mount Othrys war ihr Märchenschloss, das auf immer unverändert bleiben sollte. Auch wenn der Pianist nicht sang, schien der Text des Liedes Selene zu verhöhnen. Mit einem Blick durchmaß sie den Raum. Der Großvater war wie eine Puppe in einen Sessel gepflanzt und mit Kissen gestützt worden. Lebendig waren nur seine Hände, die sich um einen unsichtbaren Gegenstand krampften. Der Onkel stand mit der Mutter bei der Bar und warf hin und wieder ein Wort in ihren gehetzten Redefluss. Der Vater stand hinter ihr, die Großmutter vor dem Büfett, wo sie auf Tante Georgia einschimpfte, die zu Tieren gefaltete Servietten zwischen die Platten mit Speisen setzte.

Ihre Eltern waren mit Selene in die Oper und ins Prinzentheater gegangen, aber sie hatte sich nie dafür begeistern können. Zu theatralisch, zu weit vom wirklichen Leben entfernt erschienen ihr die Gesten der Schauspieler. Jetzt wurde sie selbst zu einem, und ihr Leben hatte sich in eine lächerliche Bühne verwandelt. Sie lief in die Mitte des Saals und warf die Karte auf den Boden. Die war zu leicht, um zu fallen, und segelte in Kreisen. »Sagt mir vielleicht jemand, was für ein krankes Spiel das ist?«, schrie sie.

Niemand rührte sich. Mitten im Stück war die Szene erstarrt. Endlich erbarmte sich der Onkel, ging und hob die Karte auf. Schweigend las er, schweigend sah er Selene ins Gesicht, und schweigend gab er die Karte an ihre Mutter weiter. Ehe sie zu lesen begann, war auch die Großmutter bei ihr. Die Mutter stolperte rückwärts und fiel dem Vater in den Arm. »Selene«, stammelte sie. »Meine Selene …«

Die Großmutter warf den Kopf in den Nacken, dass das Haarnetz sich löste und die graue Mähne ihr auf die Schultern fiel. »Das ist Teufelszeug«, sagte sie so tonlos, wie sie zuvor mit Harry gesprochen hatte. »Teufelszeug, das ein krankes Gehirn sich ausgedacht hat. Du musst das vergessen, Selene, hörst du? Schwöre mir, dass du diesen teuflischen Irrsinn vergisst.« Dann schwang sie herum und brüllte den Klavierspieler an, der noch immer »Love unspoken« klimperte: »Geben Sie endlich Ruhe, Sie Kretin!« Und gleich darauf drehte sie sich zu dem Sessel um, in dem der Großvater hing, und stieß einen Klagelaut aus. »Warum fällt uns alles immer wieder auf den Kopf, Hyperion? Warum habe ich nie einen Mann gehabt, der es für mich aus der Welt schafft, warum war ich mein Leben lang mit diesem Wahn, der kein Ende nimmt, allein?«

Selene, die fassungslos auf die Mitglieder ihrer Familie starrte, spürte eine zarte Berührung an der Schulter. »Gib ihnen eine halbe Stunde Zeit«, meinte der Onkel. »Sie werden dir heute noch sagen müssen, was sie vor dir verheimlicht haben, aber bitte lass sie sich einigen, wer es tut und wie.«

Sie drehte sich zu ihm um. Er schien der einzige Mensch, der nicht den Verstand verloren hatte. »Sag du es mir«, beschwor sie ihn.

»Glaub mir, ich täte es auf der Stelle«, erwiderte er, »aber ich weiß es so wenig wie du.« Er schluckte zweimal, dass der Kehlkopf mahlte, dann fügte er mit schwerer Stimme hinzu: »Es tut mir leid, Selene. Ich hatte kurz vor deiner Geburt mein eigenes Leben in Stücke geschlagen. Für das, was um mich vor sich ging, war ich leider vollkommen blind.«

Willenlos ließ sie sich von ihm aus dem Saal und in eins der Rauchzimmer führen. Er half ihr, sich in einen Sessel zu setzen, und schenkte ihr einen unverdünnten Brandy ein. Nie zuvor hatte jemand sie so etwas trinken lassen. »Eines weiß ich doch«, sagte er. »Deine Eltern haben sich, bevor sie dich bekamen, mit aller Macht ein Kind gewünscht. Ich habe deine Mutter nie so glücklich gesehen wie mit dir in den Armen.«

»Ich will das nicht hören.«

»Das kann ich mir vorstellen. Möchtest du allein sein?«

Sie schüttelte den Kopf, und er blieb und schwieg mit ihr, bis Tante Georgia kam. »Ich habe vorgeschlagen zu würfeln«, sagte sie. »Aber die anderen hatten bereits beschlossen, dass der mit dem niedrigsten Wurf die gute alte Georgia ist. Sei ein Schatz, Horatio, und gib mir einen von diesen stocksteifen Drinks. Meine Mutter besteht darauf, dass ich dich aus dem Zimmer werfe, bevor ich anfange, damit dir die Schande der heiligen Familie verborgen bleibt. Ich dagegen wünschte, du würdest bleiben und uns beiden das Händchen halten.«

»Dazu eigne ich mich schlecht«, sagte Horatio und stellte ihr den Brandy hin. »Aber die Schande der heiligen Familie schreckt mich in etwa so sehr wie eine Kinderrassel.«

»Bleib hier«, bat ihn Georgia. Er sah Selene an, die nickte, und stellte sich hinter ihren Stuhl.

Georgia stürzte mit dem Todesmut eines Leichtmatrosen den Brandy hinunter. Dann begann sie zu sprechen. »Wer immer dir diesen Dreck geschickt hat und warum er es getan hat, weiß ich nicht«, sagte sie. »Fest steht, dass es nicht die Frau war, die dich geboren hat. Deine Mutter ist kein böser Mensch, Selene, sie würde dir niemals schaden wollen, und sie wäre dort, wo sie ist, auch kaum in der Lage dazu.«

»Georgia!«, fiel ihr Horatio scharf ins Wort. »Selenes Mutter ist Esther – warum erzählt sie ihrer Tochter diese Dinge nicht selbst, warum ist sie nicht bei ihr und versichert ihr, dass sie sie über alles liebt?«

Hilflos zuckte Georgia mit den Schultern. »Sie sagt, sie kann nicht. Sie hält es nicht aus.«

»Zum Teufel, was hat denn das verdammte Leben aus ihrem Kampfgeist gemacht?«

Selene hatte den Onkel noch nie fluchen hören. Sie fuhr herum und erschrak vor dem Brand in seinen Augen. Um sich zu beherrschen, schloss er die Hände um die Sessellehne. »Verzeihung«, sagte er. »Bitte sprich weiter, Georgia.«

»Falls es dir leidtäte, dieses Prachtstück von einem Onkel zu verlieren und deine Lieblingstante noch dazu, sei unbesorgt«, sagte sie und versuchte sich an einem Georgia-Grinsen, das verrutschte. »Ich bin deine Tante, Horatio ist der Cousin deiner Mutter, und Ihre Hoheit Mildred Weaver ist mehr deine Großmutter, als sie es jemals war. Deine Mutter ist unsere Schwester Chastity, die Jüngste, die so züchtig, wie der Name sagt, nicht war, sondern mit neunzehn durchbrannte und sich mit einem Vertreter des unschönen Geschlechts einließ. Das Ergebnis bist du, mein Vögelchen. Und da auf der einen Seite eine Mutter stand, die für ihr Kind nicht sorgen konnte, und auf der anderen ein Paar, das sich sehnlichst eines wünschte, bestimmte unsere Göttermutter Mildred, das Kind werde aus den Händen von Chastity in die von Esther übergeben.«

Selene war zu erschlagen, um etwas zu sagen. Es war Horatio, der fragte: »Und was ist mit Chastity?«

»Das weißt du auch nicht?«, fuhr Georgia verblüfft auf. »Aber deine Lydia muss es doch gewusst haben, meine Schwester Esther hat ja deiner Lydia jede Kleinigkeit aus ihrem Leben erzählt.«

»Meine Lydia war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mein«, erwiderte Horatio kalt. »Sie hat nie wieder mit mir gesprochen. Als ich irgendwann zu mir kam, habe ich Mildred gefragt, und die hat mir erzählt, Chastity sei an der Cholera gestorben.«

»Nicht zu fassen«, murmelte Georgia und starrte auf ihre Hände. »Einfach nicht zu fassen.«

»Was?«, fragte er noch immer mit der Kälte in der Stimme, die Selene frösteln ließ. »Dass Mildred ist, wie sie ist?«

Georgia nickte stumm.

»Ich finde, das ist ziemlich leicht zu fassen«, erwiderte Horatio erbarmungslos. »Mildred macht aus dem, was sie ist, keinen Hehl, und nicht fassen kann ich, dass ihr sie euer Leben lang damit davonkommen lasst.«

Die Mondrose
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