Kapitel 42
Portsmouth, Ende September 1888
Mit den Attacken der Angst lebte Hedwig March, solange sie denken konnte. Sie wusste, sie war kein kleines, der Waisenpflege entronnenes Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau von sechsundzwanzig Jahren, die gelernt haben sollte, ihre inneren Dämonen zu beherrschen, aber das nützte ihr nichts. Sobald man sie allein ließ, sobald sie spürte, dass niemand da war, der sie vor übergroßen Händen, die sie packten und fortschleppten, beschützen konnte, brach sie in haltlose Panik aus.
Onkel Victor hatte versucht dafür zu sorgen, dass sie nie allein gelassen wurde. Seit Sukies Tod war dies jedoch zunehmend schwieriger geworden, denn beschützt fühlte Hedwig sich nur, wenn ein Mitglied ihrer Familie bei ihr war. Ließ man sie in der Obhut eines Bediensteten, überfiel die Angst sie schlimmer denn je. Sie wusste, dass der Onkel gern Einladungen für sie wahrgenommen hätte, dass er sich ein gesellschaftliches Leben für sie wünschte, doch alle Bemühungen waren fehlgeschlagen. Weite, unübersichtliche Räume, Gesellschaft von Fremden und Lärm verwandelten die kräftige Hedwig in ein hilfloses Kind, ein Häuflein Elend, das oft auf Tage hinaus nicht zu beruhigen war.
Dabei wollte sie sich so gern überwinden und Onkel Victor und Charles nicht so schrecklich zur Last fallen. Der arme Charles hatte ihretwegen nicht studieren dürfen. Hedwig wusste, wie sehr er darunter litt, auch wenn er kein Wort darüber sagte. Jurist hatte er werden wollen, für Gerechtigkeit kämpfen. Es gab keinen gerechteren Menschen als ihren Vetter Charles, und klug genug war er auch, er las, wann immer seine Zeit es erlaubte, und trug mit seinen einundzwanzig Jahren bereits eine Brille, denn er hatte sich beim Lesen ohne Licht die Augen verdorben.
Statt aber im fernen Cambridge auf die Universität zu gehen, hatte er in Portsmouth bleiben müssen, weil Onkel Victor drüben in Southsea ein neues Hotel eröffnet hatte und zwischen beiden hin- und herpendelte. Ohne Charles hätte er Hedwig mitnehmen müssen, aber häufige Ortswechsel bekamen Hedwig schlecht. Am wohlsten fühlte sie sich daheim, im Verwalterhaus, wo sie in ihrem Schaukelstuhl saß und Stickarbeiten anfertigte. Charles erledigte die gesamte Schreibarbeit für erst zwei und dann drei Hotels, konnte auf diese Weise ständig in ihrer Nähe sein, und wenn er hinüber zu den Gästen gerufen wurde, beeilte er sich, zu ihr zurückzukehren. Zweimal war es geschehen, dass er sich verspätet hatte, und wie zur Strafe hatte er eine völlig aufgelöste Hedwig vorgefunden, die schrie und sich die Arme zerkratzte.
Ein drittes Mal aber war alles gutgegangen. Ein Gast war in seinem Zimmer bewusstlos geworden, und Charles hatte warten müssen, bis ein Arzt eintraf, doch diesmal war es Hedwig gelungen, sich zu beruhigen, sich zu versichern, dass Charles schließlich nur im Gebäude nebenan war und bei der geringsten Gefahr sofort zu ihr eilen würde. Als er zurückkam, dröhnte ihr zwar ihr Herzschlag in den Ohren, aber sie saß noch in ihrem Schaukelstuhl, hatte nicht geschrien und sich nichts angetan.
Wenn sie ein wenig stolz auf sich war, so war das nichts gegen Charles. Ihr Vetter brach in wahre Lobeshymnen aus, als hätte sie eine Weltumsegelung gemeistert. »Hedwig, Hedwig, du bist ja ein richtiges Löwenherz!«, rief er aus. »Meine kleine Jeanne d’Arc bist du. Meine Heldin. Sag, Hedwig, da du doch jetzt so viel Mut hast und es so gutgeht mit dem Alleinsein – meinst du, wir könnten das nächste Woche noch einmal versuchen? Und die Woche darauf auch? Ohne dem Vater etwas davon zu sagen? Es wäre unser Geheimnis, Hedwig, und du würdest mir so eine große Freude damit machen. Es sind nämlich zwei Herren vom Zentralen Kriminalgericht in London in Southampton. Sie halten eine Reihe von Vorträgen an der Hartley Institution über Straffälligkeit und die soziale Frage. Verstehst du, dass ich da gern dabei wäre, Hedwig? Meinst du, wir beide zusammen könnten das auf die Beine stellen?«
Bei der Vorstellung, einen ganzen Tag allein verbringen zu müssen, während Charles sich mit Dingen befasste, an die Hedwig nicht einmal denken mochte, wurde ihr übel. Wie aber konnte sie Charles einen derart bescheidenen Wunsch abschlagen? »Wollen wir es nicht mit Onkel Victor besprechen?«, wagte sie vorzuschlagen, verwarf die törichte Idee jedoch sofort. Was der Onkel tun würde, wenn er von Charles’ Plänen erfuhr, konnte sie sich lebhaft vorstellen – Charles bei den Schultern packen und auf ihn niederschreien, er habe kein Gefühl für Verantwortung, er kenne keine Dankbarkeit und wisse nicht, auf wessen Kosten er lebe. Wer Onkel Victor mit Hedwig und wer ihn danach mit Charles erlebte, musste glauben, in demselben Mann steckten zwei Persönlichkeiten wie in der grausigen Geschichte, die Charles ihr erzählt hatte, von dem guten Dr. Jeckyll, der bei Tag Menschen heilte, und dem satanischen Mr Hyde, der bei Nacht Morde beging.
Auch in London beging jemand Morde. In den finsteren Gassen, in denen das Elend zu Hause war, schnitt eine Bestie, die sich Jack the Ripper nannte, Straßendirnen die Kehlen durch und zerfleischte sie. Hedwig wollte sich mit solchen Dingen nicht befassen, nicht die Zeitschriften aufheben, die Charles herumliegen ließ, aber sie tat es wie unter Zwang. Charles wiederum befasste sich damit, weil er etwas zu beweisen suchte: Wer aus menschenunwürdigen Verhältnissen stammte, war nicht in der Lage, sich menschenwürdig zu verhalten.
Ich stamme aus menschenunwürdigen Verhältnissen, dachte Hedwig, aber ich schneide niemandes Kehle durch, ich will niemandem ein Leid tun, nur unauffällig vor mich hin leben, in meinem schönen Zimmer mit dem Schaukelstuhl und den dichten Vorhängen, hier, wo ich genug zu essen habe, hier, wo mich niemand anschreit, packt, schlägt, in die Kälte stößt, an den Haaren reißt. Charles hatte in Wahrheit keine Ahnung von menschenunwürdigen Verhältnissen, das hatten nur die, die sie erlebt hatten. Aber Charles war ein guter Mensch. »Wenn du nicht willst, lassen wir es bleiben«, sagte er. »So wichtig ist es nicht.«
Hedwig riss sich zusammen. »Ich will es«, sagte sie. »Du fährst nach Southampton, und ich warte auf dich und sticke an meinem Schultertuch.«
»Aber dir wird doch bange …«
»Es wird schon gutgehen«, behauptete Hedwig und betete, das möge es tun.
Es ging nicht gut. Keine Viertelstunde, nachdem Charles in heiterster Stimmung das Haus verlassen hatte, wurde Hedwig klar, dass die Welle der Angst, die sich bereits auf sie zubewegte, sie überrollen würde. Ein paar Möglichkeiten gab es, um sie aufzuhalten. Onkel Victor hatte im Lauf der Jahre zahlreiche Ärzte aufgesucht, stets allein, weil Hedwig Angst hatte, die Ärzte könnten sich ihrer bemächtigen, sie zu Boden schleudern und an Stricken in eine Anstalt zerren. Deshalb hatte der Onkel den Ärzten lediglich geschildert, woran Hedwig litt, und war jedes Mal mit einem anderen Mittel heimgekehrt, von denen manche gar nicht, andere ein wenig halfen. Das, was am besten half, stand unter der Treppe in der Küche. Es hieß Geoffrey’s Cordial und war ein Gemisch aus Sirup, Melasse und einem Wirkstoff namens Laudanum. Wenn sie einen ihrer Anfälle hatte, gab Onkel Victor ihr davon einen Löffel voll, und wenn sie Glück hatte, versetzte die dickliche Masse sie in Schlaf.
Sie musste von dem Stuhl aufstehen, ehe die Welle sie erfasste, sie musste hinunter in die Küche laufen und die Flasche mit Geoffrey’s Cordial holen. Wenn der erste Löffel nicht half, könnte sie noch einen zweiten nehmen, der zweite half bestimmt, und sie würde wieder Charles’ Heldin sein. Keine Last, sondern eine vernünftige Person, auf die man sich verlassen konnte. Sie krallte die Hände um die Lehnen, sammelte all ihre Kraft, um sich hochzustemmen, aber so sehr sie auch stemmte, sie blieb stecken, wie an den Sitz des Stuhls geleimt.
Der Stuhl begann zu schaukeln wie von unsichtbarer Hand bewegt. Hedwig versuchte ihn zum Halten zu zwingen, aber der Stuhl schwang noch weiter aus, so dass sie sich festhalten musste, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Und dann kamen die Bilder. Zwischen ihren Schläfen rasten sie einher – Bilder von dem Mann mit dem Messer, der durch einen Londoner Bezirk namens Whitechapel strich, um Frauen die Kehle und den Bauch aufzuschlitzen. Jetzt aber war er nicht mehr in Whitechapel. Er war hier. In ihrem Haus. Unten in der Küche wartete er darauf, dass sie kam, um ihr Geoffrey’s Cordial zu holen. In dem Augenblick, in dem sie einen Fuß in die Küche setzte, würde sein Messer auf sie niedersausen. Hedwigs Hand fuhr an ihren Hals und fühlte Nässe, als flösse dort schon Blut.
Sie durfte hier nicht bleiben. Sobald der Mann in der Küche begriff, dass sie nicht kam, würde er sich die Treppe hinaufschleichen und im Haus nach ihr suchen. Er würde in ihr Zimmer springen und mit seinen riesigen Händen ihren Stuhl zum Stehen bringen. Hedwig blickte auf und glaubte die Klinge zu sehen, von der schon Blut auf ihr Gesicht tropfte. Erstickt schrie sie auf. Sie musste fliehen. Nirgendwo im Haus, in keinem Winkel war sie vor dem Mann in Sicherheit.
Die Anstrengung, mit der sie sich aus dem schwingenden Stuhl in die Höhe stemmte, überstieg ihre Kräfte. Hedwig wurde schwarz vor Augen, sie taumelte und stürzte, doch im nächsten Moment wuchs sie noch einmal über sich hinaus und rappelte sich auf. Jetzt nur laufen, fliehen, dem Haus entkommen. Während sie in rasender Angst durch den Gang jagte, hörte sie ihre Sohlen auf die Dielenbretter schlagen und dahinter die viel schwereren Sohlen des Mannes. Als ihre zitternden Finger es endlich schafften, die Riegel zurückzuschieben und die Tür aufzureißen, glaubte sie seine Hand auf ihrer Schulter zu spüren.
Regen schlug ihr entgegen und graues Zwielicht, doch zumindest die krumme Gasse kam ihr vage vertraut vor. Sie rannte weiter. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hämmerte das Wort Southampton. Nach Southampton war Charles gefahren, ihr Charles, der sie vor allem Bösen auf der Welt beschützte. Wenn sie es bis dorthin schaffte, durfte sie sich in seine Arme fallen lassen und bekäme ihr Geoffrey’s Cordial, damit sie schlafen konnte, tief und selig schlafen. Sie rannte bis ans Ende der Straße, aber dort tat sich auf einmal ein Platz auf, der zu einer Seite nicht einmal durch Häuser begrenzt war. Schreiend machte Hedwig kehrt, sah riesengroß den Mann mit dem Messer vor sich und schlug einen Haken, um in eine Seitenstraße zu entwischen.
Sie musste zum Bahnhof. Nach Southampton fuhr man mit dem Zug, also würde auch sie in einen Zug steigen müssen. Bei der Vorstellung schwanden ihr vor Angst die Sinne, aber alles war besser, als dem Mann in die Hände zu fallen, als mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Pflaster zu liegen, bis die Nacht kam und Polizisten ihr mit Scheinwerfern in das grausig entstellte Gesicht leuchteten.
Hedwig würde nie wissen, wie sie schließlich zum Bahnhof gelangt war. In ihrer Erinnerung hatte sie Stunden gebraucht, in denen sie durch endlose Straßen rannte, vor offenen Plätzen zurückwich und im letzten Augenblick dem Messer des Mannes entkam. Als sie die gläsern überdachte Halle mit der Aufschrift Bahnhof erkannte, warf die Erleichterung sie um ein Haar nieder. Ihre Kraft war gänzlich verbraucht, ihre Lungen schmerzten wie zerfetzt, doch sie hatte es geschafft. Jetzt musste sie nur noch den Zug besteigen, der sie geradewegs in Charles’ schützende Arme tragen würde. Nach links durfte sie nicht sehen, denn dort breitete sich die grenzenlose graue Fläche des Meers aus, doch mit dem nächsten Schritt tauchte sie in den Schlund der Halle und wiegte sich in Sicherheit.
Auf das neue Grauen war sie nicht vorbereitet. Menschenfluten. Eine tausendköpfige Masse umzingelte sie, und das Summen unzähliger Stimmen drang auf sie ein. In namenlosem Entsetzen sah sie den Mann mit dem Messer, der durch den Koloss aus Leibern auf sie zustrebte. Nein, nicht einen, sondern zwei, drei, vier Männer, einen von jeder Seite. Hedwig schrie und versuchte sich blind ins Freie zu kämpfen, aber da vertrat ihr einer der Männer den Weg und umfasste ihren Hals. »Wohin so eilig, schönes Kind?«
Ein zweiter sprang dazu und packte ihren Arm. Sein Lachen hallte ihr mit schrillem Echo in den Ohren. Der erste stieß sie, der zweite fing sie, ein dritter riss sie an den Haaren zu sich. Hedwig sah Farben und Formen verwischen, fühlte, wie ihre Beine nachgaben und ihre Kampfkraft erlosch. Sie würde sterben. Sie würde in der kalten Morgenstille am Boden liegen, ihr Blut um sie vergossen, und niemand würde wissen, wer sie gewesen war.
»He, ihr Strauchdiebe, lasst die Frau in Ruhe.«
Durch das unkenntliche Gewirr von Stimmen drang die eine klar. Hedwig konnte ihr Glück nicht fassen. Charles war aus Southampton zurück, er war gekommen, um sie zu retten. Mit einem mächtigen Sprung teilte er die Menge, trieb die Männer in die Flucht und fing Hedwig in den Armen auf. Plötzlich war er nicht mehr der kleine Charles mit den schmächtigen Schultern, sondern größer und breiter als sie und stark genug, sie zu halten. Hedwig ließ sich fallen. »Ist ja gut«, sprach Charles besänftigend auf sie ein. »Die Bengel belästigen Sie nicht mehr. Nicht zu glauben, dass die Stadt nicht mehr Polizei einsetzt, damit Frauen unbehelligt mit dem Zug fahren können.«
Er hatte nicht mehr seine hohe Jungenstimme, sondern die tiefe, kraftvolle Stimme eines Mannes, und er stützte leichthin ihr Gewicht. Behutsam führte er sie durch die Menge, die eine Gasse bildete, und machte halt vor einer Bank. »Wollen Sie sich setzen? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
Sie klammerte sich an seinen Unterarm, damit er nicht ging und sie wieder allein ließ. Erst als er ihr auf die Bank geholfen hatte, als ihre schmerzenden Beine und Lungen zur Ruhe kamen, wurde ihr klar, dass er sie nicht beim Namen ansprach. Sie blickte auf. Dass er nicht Charles sein konnte, begriff sie, ehe sie sein Gesicht sah. Aufschreiend wollte sie sich losreißen, doch ihr fehlte die Kraft, und dann traf sie der Blick des Fremden. Er hatte die wärmsten Augen von der Welt. »Aber wir kennen uns ja«, rief er geradezu erfreut. »Sie sind Sukie Ralphs Tochter, nicht wahr? Erinnern Sie sich? Sie waren auf meiner Hochzeit.«
Heftig schüttelte Hedwig den Kopf.
Der Mann lachte. Sein Lachen war ein zärtliches Rascheln. »Bitte verzeihen Sie. Mit meinen Manieren ist wie üblich kein Staat zu machen. Ich bin Horatio Weaver, ich kenne Ihre Mutter länger, als ich denken kann.«
Wieder schüttelte Hedwig den Kopf, ohne den Blick von seinen Augen zu lösen. »Sukie war nicht meine Mutter«, sagte sie. »Meine Mutter ist tot. Sukie ist auch tot.«
Der Mann senkte den Kopf. »Das tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Kann ich Sie vielleicht nach Hause bringen? Ich bin zu Fuß hier, mein Pferd ist lahm, aber vorn an der Straße findet sich gewiss ein Hansom Cab.«
Zu Hause war niemand. Nur der Mann mit dem Messer, auch wenn Hedwig jetzt, da der Anfall verebbte, wusste, dass es dort keinen Mann mit dem Messer gab. Aber sobald ihr Retter sie allein ließ, würde es ihn unausweichlich geben. Er sah sie jetzt wieder an, und in seinen schönen Augen fand sie Sicherheit. Und noch einmal schüttelte sie so heftig, wie sie konnte, den Kopf. »Nicht nach Hause!« Dann versagte ihr endlich die Kraft, und gnädige Schwärze hüllte sie ein.
Nass bis auf die Haut, verfroren und bitter enttäuscht kam Lydia nach Hause. Zum dritten Mal war ihr Protest vor dem Bauplatz, auf dem das neue Rathaus in die Höhe wachsen sollte, ungehört verhallt. Lydia und ihre Gefährtinnen verlangten, dass die Stadt das Geld, das der Bau verschlang, nicht in ein nutzloses Prunkgebäude, sondern in Wohnungen für ledige Frauen mit Kindern steckte. Sie hatten Petitionen bis hin zum Premierminister in London gesandt, doch überall ließ man sie abprallen.
Die Wohnungen, die sie forderten, waren ein Tropfen auf den heißen Stein, aber einer, der Leben retten konnte. Wer in diesem Land ledig ein Kind zur Welt brachte, bekam von niemandem einen Penny zu dessen Unterhalt. Die Erzeuger der Kinder durften sich ungestraft aus dem Staub machen, und auch der Staat war zu nichts verpflichtet. Mit solchem Unrecht wollte man Frauen zu einem untadeligen Lebenswandel zwingen, doch in Wahrheit zwang man sie dazu, ihre Kinder einer Baby-Farmerin zu geben, die Säuglinge für Geld in Pflege nahm und sie im besten Fall kläglich verhungern ließ.
Eine von Lydias Kameradinnen – Kate, eine junge Dockarbeiterin – hatte diesen Gedanken nicht ertragen und das Leben ihres Kindes beendet, ehe es begann. Auf der Demonstration heute hatte sie gefehlt, weil sie am Morgen verhaftet worden war. Wenn kein Wunder geschah, würde man sie für die verbotene Abtreibung mit vierzehn Jahren Zwangsarbeit oder mit dem Tod bestrafen, wobei das eine dem anderen gleichkam.
Tief bedrückt betrat Lydia ihr Haus. Kurz schnupperte sie, um den ersehnten Duft nach flackerndem Feuer und Fleisch, das in der Pfanne brutzelte, einzusaugen, doch es roch nur nach der Nässe ihrer Kleider. Ihre Mutter lag mit einer Erkältung danieder, aber Horatio war bereits zu Hause, stürmte die Treppe hinunter und wollte sie umarmen. Statt einer Begrüßung raunzte sie ihn an. War der Herr des Hauses sich zu fein, einen Topf Kartoffeln aufzusetzen und ein paar Lammkoteletts in die Pfanne zu werfen, wenn die Frauen, die ihn sonst verhätschelten, einen Tag lang verhindert waren? War es unter seiner männlichen Würde, einen Kamin anzuheizen, damit ihre kranke Mutter nicht erfror?
Noch immer zog er kurz, wie um sich zu ducken, den Kopf ein, wenn sie ihn ausschalt, doch er hatte sich gleich wieder in der Gewalt. »Hattest du einen schlimmen Tag?«, fragte er und legte die Arme um sie.
Sie wusste, sie ließ ihren Zorn und ihre Bitterkeit viel zu oft an ihm aus. Es war nicht seine Schuld. Er tat, was er konnte. »Ich habe Hunger«, blaffte sie und suchte sich zu befreien, ging dabei jedoch ziemlich halbherzig vor.
»Lass mich doch jemanden einstellen«, murmelte er und küsste ihr Haar.
»Wer sind wir? Das Prinzenpaar von Wales?«, fuhr sie ihn an. »Ich will keine Frau, die für mich schuftet wie für irgendeine Wohlgeborene aus deinen Kreisen. So ein Leben widert mich an.«
Seine Hände umfassten ihr Gesicht. Er roch gut, und in seinen Augen funkelte Wärme. »Es tut mir leid, dass ich mich um nichts gekümmert habe. Ich fürchte, ich kann einen kompletten Londoner Bezirk ausleuchten, aber ich habe keine Ahnung, wie man ein Kotelett brät.«
»Und darauf bist du auch noch stolz.«
»Nein, Lydia«, erwiderte er friedfertig. »Aber ich will mich auch nicht dafür teeren und federn lassen. Ich kann nicht kochen. Und ich habe vergessen, Feuer zu machen, weil mir auf dem Bahnhof Sukie Ralphs Stieftochter in die Arme gefallen ist, die vollkommen außer sich war, nachdem ein paar Rotzlümmel sie belästigt hatten. Bitte mach mich nicht zur frauenfeindlichen Bestie dafür. Wenn du eine halbe Stunde auf das Mädchen achten könntest, heize ich rasch ein und kaufe im Straßenverkauf die größten Pasteten der Stadt. Und einen roten Franzosen köpfe ich auch, und dann erzählst du mir, was dich so aufbringt, ja?«
»Du bringst mich auf«, versetzte sie, ließ aber zu, dass er sie an sich zog.
»Nur ich?«
»Nein, du und deinesgleichen. Vergiss die Pasteten, köpf den roten Franzosen. Ich glaube, wenn ich nicht sofort in einen Sessel komme und meine Füße hochlege, falle ich tot um.«
Er rückte ihr die Fußbank vor ihren Lieblingssessel, wickelte sie in eine Decke und brachte ihr ein bis zum Rand gefülltes Glas Wein. Dann kniete er sich vor den Kamin und begann ein Feuer zu schüren, und sie sah seinem Rücken zu und spürte, wie die Lebensgeister in ihren Körper zurückströmten. »Lydia«, sagte er, mit dem Feuer beschäftigt.
»Was ist?«
»Auch wenn ich es mir gerade wieder mit dir verscherzt habe – ich liebe dich.«
Vielleicht könnte ich nicht weiterkämpfen, wenn du das nicht tätest, dachte sie. Vielleicht könnte ich die ständigen Niederlagen nicht wegstecken, die Raserei gegen Windmühlenflügel, die drei Schritte zurück für jeden halben voran, wenn ich das nicht hätte – unser Haus voller Wärme und deine Liebe, die mich erträgt. Sie hätte ihn bitten wollen, mit ihr nach oben zu gehen, ihr Schlafzimmer abzuschließen und sie zu lieben, bis sie nicht mehr fror. Ach, mein Liebster, dachte sie, warum mache ich uns nur das Leben so schwer? »Was ist das für eine Geschichte mit der Tochter von Miss Ralph?«, fragte sie.
»Sie liegt oben«, antwortete er. »Im Gästezimmer. Ein paar Jungen haben ihr am Bahnhof zugesetzt. Dass sie ihr wirklich etwas tun wollten, glaube ich nicht, aber das arme Mädchen ist vor Angst in Ohnmacht gefallen.«
»Woher willst du wissen, was sie ihr tun wollten? Wer bestimmt, was wirkliches Tun ist? Du?«
»Lydia.« Auf Knien drehte er sich nach ihr um. »Kannst du bitte nicht jedes Wort von mir auf die Goldwaage legen? Ich wäre ja gern der Sandsack, auf den du hemmungslos einprügeln darfst, aber in mir hockt dieser blöde Kerl, der dich bis zum Wahnsinn liebt, und der weigert sich.«
Sie war geschlagen. Er war ihr Mann, den sie mit jeder Faser ihres Daseins wollte, ob es politisch erwünscht war oder nicht. »Komm zu mir.« Als er sich zu ihr beugte, schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn, bis sie nicht mehr so hungrig war. Dann teilte sie noch ein Glas Wein mit ihm und erzählte ihm, was ihr den Tag über zugestoßen war. Er versprach, sie würden Kate einen Anwalt bezahlen. Sie bezahlten ständig irgendwem Anwälte. Horatio war längst zum Stellvertreter des Dekans aufgestiegen und arbeitete selbst an Sonntagen, aber sie kamen auf keinen grünen Zweig. Immer wieder versicherte er ihr, es mache ihm nichts aus, er sei glücklich so, wie es war. »Ich wette, deine Freunde sagen dir, ich nutze dich aus«, bemerkte sie dennoch.
»Wer sind denn meine Freunde?«, fragte er und küsste ihre Augen. »Wenn ich dir schwöre, ich lerne, Koteletts zu braten – kannst dann nicht du wieder mein Freund sein?«
»Genügt dir das wirklich?«
»Nicht ganz, muss ich kläglich gestehen. Wenn ich dir zudem schwöre, ich lerne, eine mindestens dreistöckige Torte zu backen und auf dem Kopf zu balancieren – kannst du dann bitte auch wieder meine Liebste sein?«
»Spar dir die Torte.« Sie biss ihm ins Ohr, schob die Hände unter sein Hemd und ließ sie über seine Schulterblätter gleiten. Sie waren beide mager geworden, weil sie vor Arbeit und Kampf und Liebe so oft das Essen vergaßen, und konnte ein Mensch, der im Kampf und in der Liebe sein Fleisch einbüßte, nicht von Glück sagen? »Was wird mit dem Mädchen?«, fragte sie ihn zwischen Küssen.
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie konnte mir nicht einmal erklären, wo sie wohnt, nur, dass sie nicht nach Hause will.«
»Dazu wird sie wohl ihre Gründe haben.«
»Bescheid geben muss ich ihren Leuten trotzdem.«
»Morgen früh«, erwiderte Lydia und küsste ihn in die Grube zwischen Hals und Schulter. »Ich sehe nach ihr, soll ich?«
»Später«, sagte er, stand auf und verriegelte die Tür.
Es war eine jener Nächte, in denen sie zwischen seinen vom Reiten muskulösen Schenkeln lag und, während sie ihn liebte, glaubte, dass sie jeden Kampf gewinnen konnte. Er stieß sich mit aller Kraft in sie, von seinem Rücken troff Schweiß, und sie nahm ihn auf und gewann dabei das Frauenwahlrecht, die Straffreiheit für Abtreibungen und den Unterhalt für ledige Mütter. Manchmal, wenn sie in Pausen nach Atem rangen, blitzte die Frage auf: Wie konnte es recht sein, einem Mann die Schultern wund zu küssen und sich in der Nässe zwischen eines Mannes Schenkeln zu suhlen, während Frauen von Männern geschlagen, erniedrigt, vergewaltigt wurden, aber dann nahm ihr Mann sie wieder in die Arme, und sie küsste ihm die Schultern wund und suhlte sich in der Nässe zwischen seinen Schenkeln. Als er kam, rief er ihr ins Ohr, dass er sie liebe, und über sein Gesicht rannen Tränen, und sie liebte ihn so sehr, dass sie den Laut, mit dem ihr Herz zerriss, hören konnte.
Sie taten das oft – sich lieben, bis kein Funke Kraft mehr übrig war, und dann sich mit Armen und Beinen umschlungen halten, damit sie es wagten, einzuschlafen. Statt ihr gute Nacht zu wünschen, fragte er sie: »Bist du morgen noch bei mir?«, und statt einer Antwort strich sie ihm über die Wange und schloss ihm mit einer Liebkosung die Lider. Sie schliefen bis kurz nach Mitternacht, als das Mädchen Hedwig sie mit ihren Schreien weckte.
Sie schlug um sich und ließ sich erst beruhigen, als Horatio sich zu ihr setzte. Sobald er das Zimmer verlassen wollte, begann sie von neuem zu schreien und zu schlagen, so dass er schließlich bei ihr blieb und Lydia sich auf einen Stuhl ans Fenster setzte. Am Morgen waren sie beide wie gerädert. Lydia musste zur Schule, und Horatio war gezwungen, statt nach Southampton durch die Stadt zu fahren, um Hedwigs Familie zu suchen. »Lass sie nicht dort, wenn du Zweifel hast, dass sie ordentlich behandelt wird«, sagte Lydia, spürte aber, dass sie nicht meinte, was sie sagte. Sie wollte das Mädchen, wenn sie zurückkam, nicht mehr in ihrem Haus finden. Warum sie so fühlte, wusste sie nicht. Nie zuvor hatte sie Abneigung gegen eine Frau in Not empfunden, aber bei dieser tat sie es, und dem ließ sich mit aller Vernunft nicht beikommen.
In seiner Kindheit war Charles von seinem Vater kaum geschlagen worden. Zum einen hatte sich der Vater um das, was er tat, nicht gekümmert, und zum anderen war Charles gewesen, was man einen braven Jungen nannte. Duckmäuserisch, fand er. Ohne Mumm in den Knochen. Wenn er doch Schläge bekam, so war es immer Hedwig zu verdanken. Hedwig hatte sich das Knie aufgeschlagen, während er auf sie aufpassen sollte, Hedwig war schreiend aus dem Schlaf geschreckt, weil er ein Buch über Mordfälle auf dem Tisch vergessen hatte. Immer wurde er behandelt, als wäre er der ältere Bruder, der für die kleine Schwester Verantwortung trug. In Wahrheit war er zwei Jahre alt gewesen, als Hedwig, die acht war, ins Haus kam, und eine Schwester besaß er nicht.
Er hatte alles geschluckt. Vielleicht war ein saftloser Feigling wie er dazu gemacht, die Kröten eines ganzen Tümpels zu schlucken, doch als an jenem Abend sein Vater, der ihn um einen halben Kopf überragte, auf ihn zuschoss und ihm ins Gesicht schlug, blieb ihm vor Schmerz und Schreck die Spucke weg, so dass er überhaupt nichts mehr schlucken konnte.
Er war ein Mann, kein Junge mehr. Er hatte einen Tag unter Männern mit ähnlichen Interessen verbracht, an einem Institut, an dem er hätte studieren können, wenn sein Leben gerecht verlaufen wäre, und die gebildeten Herren hatten ihn behandelt wie ihresgleichen. Er stelle kluge Fragen, hatte der Inspektor von Scotland Yard bekundet, und für einen Laien sei er erstaunlich gut informiert. Er war kein dummer Bengel, der sich ohrfeigen ließ, und er hatte seines Vaters Zorn nicht verdient. Ja, er hatte Hedwig allein gelassen, aber mit ihrem Einverständnis und nur für einen Tag. Das Gefühl, das in ihm aufwallte, war ihm unbekannt. Es war Zorn. Der Wunsch, zurückzuschlagen. Seine Wange brannte. Der Vater holte von neuem aus. »Wo ist meine Hedwig, du Idiot? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich gehe!«, rief Charles und hielt den zweiten Schlag mit seinen Worten auf. »Du kommst ohne mich sicher besser zurecht.« Er konnte nicht glauben, dass er es war, der dies tat. Er hob die Tasche, mit der er hereingekommen war und die nur wenig Geld, einen schrumpeligen Apfel und seinen Schal enthielt, vom Boden auf und verließ das Haus. Ehe er die Tür hinter sich schloss, hörte er den Vater seinen Namen brüllen. Gleich darauf umfingen ihn Kälte und Dunkelheit.
Er hatte es tatsächlich vollbracht. Er hatte sein Elternhaus verlassen. Ohne Unterkunft für die Nacht, ohne Geld oder Wäsche zum Wechseln stand er auf der Straße. Aber die Pennys, die er übrig hatte, mochten für eine Fahrkarte nach Southampton genügen. War nicht Southampton seine Glücksstadt, die ihm Mut und Biss verliehen hatte? Warum nicht zum Bahnhof gehen und sehen, ob noch ein Zug fuhr? Er konnte tun, was er wollte. Zum ersten Mal war er frei.