Kapitel 14
Southsea bei Portsmouth, Mai 1863
Wunschlos glücklich.
Leichten Herzens benutzte man die Phrase, ohne sich je zu fragen, was darinnen steckte. Erst an dem Morgen, als ihn Priscilla in sein Schlafzimmer holte und er in den Armen seiner Frau seinen Sohn liegen sah, lernte Hyperion, dass diese zwei Worte wahrhaftig ein Wunder beschrieben. Einmal in meinem Leben habe ich mich wunschlos glücklich gefühlt.
Er war vor ihr niedergefallen und hatte das Gesicht im Duft des Kindes vergraben, seines Kindes, das von diesem Tag an sein Haus mit Lachen füllen würde. Das verschüttete Glück würde zu ihm zurückkehren. Es würde wieder ein kleiner Junge im Schoß seiner Mutter sitzen, die ihm Lieder vorsang und ihm zuflüsterte, dass sie ihn weiter liebte, als das Licht der Sonne reichte. Und ich habe daran teil, dachte er. Mein Vater und ich, wir konnten einander nicht haben, weil ich so anders war, als mein Vater mich wollte. Aber du und ich haben einander, weil ich gar nichts von dir will, als dass du bist, wer du bist.
An seiner Wange spürte er die flaumige Haut des Kindes. Seine Augen waren blau, als stünde vom Geheimnis des Himmels noch ein Rest darin. Wie Daphnes Augen. Wie Amelias Augen. Das Leben würde nie mehr schwarz und ohne Hoffnung sein. Hyperion war wunschlos glücklich, weil das Glück so allumfassend war, dass für Wünsche kein Raum blieb. Er wünschte sich weder die Taschen voll Geld noch einen Wechsel, der die Schuld bei seinem Bruder tilgte. Er wünschte sich auch nicht, dass die Medizin einen Durchbruch erzielte und Fleckfieber und Cholera besiegte, ja, er wünschte sich nicht einmal etwas für sein Kind, denn das Kind war vollkommen, es ließ keinen Wunsch offen.
Als er es ansah, öffnete es den winzigen Mund zu einem herzhaften, zahnlosen Gähnen. Hyperion streckte die Hand aus, um ihm die Wange zu streicheln, Daphne tat dasselbe, und ihre Hände berührten sich. So begann ihr Leben mit Louis.
Das Glück hielt an. Es bäumte sich mit jedem Lächeln, jedem Laut des Kindes und schrie: Ich bin da! Allmählich aber schlichen sich ins Glück wieder Wünsche, erst unmerklich, doch schon bald unleugbar.
Dass eine Frau von Daphnes Stand ihr Kind nährte, war nicht üblich. Die Königin hielt es für widerwärtig, und zudem verschlang es Kräfte, aber Daphne tat es dennoch, und ihr Kind gedieh. Statt eine Kinderpflegerin einzustellen, übernahm sie den größten Teil der Pflege selbst. Täglich ging sie mit Louis spazieren, sang für ihn und bewachte seinen Schlaf. Hyperion musste froh darüber sein, denn er hätte sich weder Amme noch Kinderfrau leisten können.
Wollte er Daphne alles schenken, was eine Frau begehrte, so wollte er es bei Louis umso mehr. Der Knabe war das schönste Kind der Gegend, er sollte schöne Kleider tragen und jedes Spielzeug besitzen, das seinen Geisteskräften förderlich war. Zu Weihnachten ertappte sich Hyperion dabei, dass er Geld ausgab, das er nicht besaß. Er selbst ging in geflickten Hemden, doch der Gedanke, dass es Daphne und Louis an etwas fehlte, schnitt ihm ins Herz. Zudem packte Daphne unentwegt Päckchen, die sie der Armenstiftung der Kirche schenkte. Amelia hatte dasselbe getan. Seine Frau sollte es tun dürfen, ohne sich zu sorgen.
Eine Zeitlang war es leidlich gegangen. Es gelang ihm, drei neue Patienten zu werben, und als Vernon, mit dessen Gesundheit es stetig bergab ging, das Amt des Spitalleiters niederlegte, übernahm Hyperion die Nachfolge und erhielt zumindest ein geringes Gehalt. Vernon hatte ihn noch einmal gewarnt. Er selbst habe sich ein solches Leben nur leisten können, weil er ererbtes Kapital ertragreich angelegt hatte. »Sie hingegen haben das, was Sie hatten, verbraucht. Sie mögen der edelste Mann auf dieser Erde sein, Weaver, wenn aber Frau und Kind dafür bluten, wird der Grat zwischen Edelmut und Selbstsucht schmal. Ich weiß, ich rede gegen Wände, dennoch wünschte ich, Sie würden sich besinnen.«
»Ich habe mich besonnen«, erwiderte Hyperion. »Mein Sohn ist mein Leben. Dass es ihm an etwas mangelt, ertrüge ich nicht.«
»Das glauben Sie.« Der alte Mann suchte seinen Blick. »Aber jedes Mal, wenn Sie Ihr schönes Heim und Ihre reizende Familie genießen, überfällt Sie eine Welle der Schuld, und dann wollen Sie auf der Stelle ins Spital eilen und mindestens drei, denen das Schicksal weniger hold war, vor dem Tod bewahren.«
Ertappt fiel Hyperion in Schweigen. Vernon hatte recht. Sooft er in Wärme und Glück gehüllt bei Daphne und Louis saß, tauchten die Gesichter derer auf, die in der Kälte hockten. Frauen aus dem Arbeitshaus, die elend dahinsiechten. Das kleine Mädchen, dem er den Abakus geschenkt hatte. War es an der nächsten Seuche verreckt, in einem Armengrab verscharrt? Am schlimmsten war es, wenn das Gesicht der Frau auftauchte, die nach der Entfernung der Gebärmutter gestorben war. Er hatte ihr versprochen, ihren Mann zu suchen, doch vor Glück hatte er nicht mehr daran gedacht.
Der kleine Louis platzte vor Entdeckungslust. Wie ein Welpe sprang er auf allen vieren durch die Räume. Wollte Priscilla ihn holen, damit die Herrschaften ungestört beisammensitzen konnten, wehrten Hyperion und Daphne ab. Sie genossen jede Minute mit dem Kind. Es schien nie müde zu werden, zog alles herunter und brach in lachende Seligkeit aus, sobald etwas in die Brüche ging. Die Eltern sahen einander an und stimmten in sein Lachen ein. Ihr Kind war so anders als sie, es eroberte das Leben im Sturm. Hyperion betrachtete das Gesicht seines Sohnes, und im nächsten Moment verwandelten sich die schönen Züge des Jungen in die des Waisenmädchens, das er im Stich gelassen hatte. Hatwick. Der hässliche Name war alles, was ihr von ihrer Mutter bleiben würde.
Nein, er konnte nicht aufhören, das bisschen Kraft, das er besaß, dem Spital zu geben. »Wir sind der Welt etwas schuldig«, hatte Amelia ihn gelehrt, wenn sie Pakete für die Armen packte. »Weil wir einander haben, mein Sonnenschein.«
Es musste beides gehen, die Sorge für den Haushalt und die Arbeit im Spital, und eine Zeitlang glaubte er, es ginge. Mehr Geld kam ins Haus, und Mildred sparte mit eisernem Zepter. Oft war er versucht, ihr Einhalt zu gebieten, vor allem wenn sie den Dienstboten, die seit seines Vaters Zeit im Haus waren, den Lohn kürzte, aber er hatte gelobt, ihr freie Hand zu lassen, und sie machte ihre Sache gut. Erst als der Frühling begann, wurde deutlich, dass es nicht genügte.
Er kaufte für Louis einen offenen Wagen und stellte fest, dass kein Geld mehr für die Rechnung des Metzgers übrig war. Er selbst hatte in Louis’ Alter ein Pony gehabt, auch wenn er sich vor dessen Hufen gefürchtet hatte. Louis würde sich nicht fürchten, er war ein kleiner Dragoner im Herzen – nur wovon sollte sein Vater ein Pony bezahlen? Kurz darauf besuchte er Cynthia Lewis, die er seit Jahr und Tag wegen ihrer eingebildeten Krankheit behandelte. Er kam sich vor wie ein Scharlatan. Dennoch überwand er die Scham und fragte, ob sie ihn wohl ihren Freundinnen empfehlen könne.
Die Großtante des Port Admirals bedachte ihn mit einem Blick, unter dem sich etwas in ihm krümmte. »Ach nein, Herr Doktor, ich denke nicht, dass ich das kann. Ich sehe ja über manches hinweg, weil ich der Ansicht bin, wir sind Amelia Ward etwas schuldig, doch man rät mir nicht selten, den Arzt zu wechseln. Schließlich fragt man sich doch, ob diese Geschwulstkrankheiten nicht aus den Spitälern eingeschleppt werden wie all die anderen scheußlichen Seuchen.«
Es hatte keinen Sinn, dagegen anzureden, ihr den Unterschied zwischen infektiösen und nicht infektiösen Krankheiten zu erklären, an den der Großteil der Menschen ohnehin nicht glaubte. Krankheiten kamen aus der Luft, und wer wie er in fauliger Luft seine Arbeit tat, der schleppte sie mit sich herum. Deshalb also bekam er keine Anfragen mehr. Er blickte an sich hinunter. Wahrlich, wie der Armenarzt sah er aus in seinem staubigen Anzug und dem zerknitterten Hemd. An diesem Tag ging er mit schwerem Herzen nach Hause. Noch gelang es ihm jedoch, alles zu verdrängen, sobald er Daphne und Louis sah. Sein Sohn kroch zu einem Sessel, krallte sich an die Lehne und zog sich hoch. Zum ersten Mal überschaute er seine Welt aus dem Stand. Der Schrei, den er ausstieß, geriet triumphal. Hyperion und Daphne tauschten ein Lächeln, dann lief Hyperion hin und hob das Kind an sein Herz.
Es wurde schlimmer. An einem Maimorgen traf er in der Stadt seinen Bruder. Wie üblich wollte er über die Straße flüchten, doch ein Trauergespann, das gemächlich hätte dahinzockeln sollen, donnerte in solchem Höllentrab vorbei, als käme der Tote irgendwohin zu spät. Der Wagen kappte Hyperions Fluchtweg. »Angenehmen Morgen«, grüßte Hector und zog seinen Hut.
Hyperion verschränkte die Hände im Rücken und blieb stumm.
»Kein Gruß? Nun, sei’s drum. Manieren bringt man Knaben eben mit dem Stock bei, nicht mit Zucker und Gesäusel.« Der Bruder verzog den Mund. »Und da wir von Manieren sprechen – meinst du nicht, es gehöre sich, allmählich an Begleichung zu denken?« Er hob eine Hand und vollführte immer noch lächelnd die Geste des Geldzählens.
Hyperion zerbiss sich die Lippe.
»Noch keine Antwort?« Hector klopfte ihm auf die Schulter. »Nun, zerbrich dir nicht den Kopf. Es ist ja nicht so, dass ich am Hungertuch nage. Ein Weilchen kann ich dir das kleine Vermögen schon stunden. Vergiss nur nicht, an einem Tag meiner Wahl stehe ich vor deiner Tür und fordere mein Geld, und dann tust du gut daran, es bereitzuhalten, wenn du dein Elternhaus behalten willst.«
»Es ist auch dein …«, begann Hyperion, aber Hector winkte ab.
»Streich mir keinen Sirup um den Bart. Wir wissen beide, dass es das Haus deiner Eltern war, nicht meiner. Dein Vater hat es für deine Mutter und ihren Kronprinzen gekauft. Mein Vater war er zu der Zeit schon lange nicht mehr.«
»Das ist nicht …«, fiel Hyperion ein, brach aber gleich darauf ab.
Hectors Lächeln verzog sich zur Seite. »Was ich an dir mag, ist, dass du ein so schlechter Heuchler bist. Du bringst es nicht über dich, mir zu sagen, das sei alles nicht wahr. Nichts für ungut. Empfiehl mich der Dame, die dich geheiratet hat. Wenn sie dir das nächste Mal sagt, du solltest deinen Bruder gelegentlich zum Tee bitten, hör auf sie.«
Damit ließ er ihn stehen. Vor Scham konnte Hyperion sich lange nicht rühren, ehe er sich zusammenriss und den Weg nach Hause antrat. An der Straßenecke sah er Mount Othrys, das sich so friedvoll zwischen die Ulmen schmiegte, als wäre es dort gewachsen. Es zu verlieren war undenkbar, es war seine Muschelschale, sein Schutz. Dann sah er seine Großmutter auf sich zueilen. Beinahe rannte sie, eine Frau von über achtzig Jahren.
»Bist du kein Herr mehr?«, rief sie. »Gehst du neuerdings zu Fuß? Das passt zusammen, Hyperion, wahrlich, das passt.«
»Was passt?« Er blieb stehen. Noch immer kam es ihm vor, als würde er vor ihr einschrumpfen.
»Dass du wie ein Tagedieb durch die Stadt scharwenzelst, dass du ein Marktweib ins Haus nimmst und deine Großmutter aus dem Heim, das ihr Sohn ihr zugedacht hatte, hinauswerfen lässt.«
»Wie bitte? Was redest du denn? Kein Mensch lässt dich aus deinem Heim werfen, ich am allerwenigsten.«
»Ha!« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Da ist deine Marktschreierin aber anderer Ansicht. Die hat sogar Möbelpacker bestellt. Ich habe deine Frau nicht behelligt, Hyperion, deine Frau trägt so wenig wie deine Mutter an irgendetwas Schuld, aber dich behellige ich. Nell Weaver lässt sich nicht umherstoßen wie einen alten Schrank. Du gehst sofort und rückst diese Sache zurecht, oder ihr beide, du und das Marktweib, sollt mich kennenlernen.«
Er hätte ihr sagen sollen, dass sie Mildred nicht Marktweib nennen durfte, aber dazu war keine Zeit. Mit fliegenden Fingern öffnete er das Tor und rannte den Gartenweg entlang.
In der Halle wartete Daphne mit Louis auf dem Arm und hatte wieder Tränen auf den Wangen. »Mit Milly ist nicht zu reden«, war alles, was sie ihm zur Erklärung gab. »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist, ich erkenne sie nicht wieder.«
»Wo ist sie, Liebstes?«
Daphne wies in Richtung Garten. »Aber dass du mit ihr sprichst, ist sinnlos. Du weißt, sie hat leider nicht die Meinung von dir, die sie haben sollte, und sie hört uns alle ja nicht einmal an.«
Hyperion küsste sie und den Jungen. »Sorg dich nicht«, murmelte er und eilte in den Garten. Mildred trug schwarzen Satin, der in der flimmernden Luft jede Linie ihres Körpers umspannte. Er musste stehen bleiben und den Atem anhalten. Ja, die Zeit der Wunschlosigkeit war vorüber. Das Schlimmste war, dass man nicht alle Wünsche beim Namen nennen durfte, nicht einmal im Stillen vor sich selbst. Hyperion, der gelobt hatte, seiner Liebsten kein Kind mehr zu machen, und dem das Wasser bis zum Hals stand, verhielt im Mailicht im Garten und wünschte sich, mit einer Frau zu schlafen.
Mildred beaufsichtigte einen Tross Männer, die Möbelstücke aus dem Altenteil ins Haupthaus schleppten. Die mannshohe Standuhr seiner Großmutter. Das zierliche Tagesbett, das Amelia ihr geschenkt hatte. Den Tallboy, in dem sie Wäsche aufbewahrte, an die niemand hätte rühren dürfen. »Was geht hier vor?«, presste Hyperion heraus. Sehr langsam drehte Mildred sich um.
Der Wind blies ihr Haar aus dem Gesicht, der Kragen des Satinkleides umschloss den gereckten Hals. »Die Saison beginnt«, sagte sie. »In wenigen Tagen platzt diese Stadt aus den Nähten. Die Feriengäste bringen Geld wie Heu, und von dieser Fülle schneide ich uns einen Teil. Wie bitter wir es nötig haben, dürfte dir bekannt sein.«
Sie schrie einen Burschen an, der zwei Stühle aus dem Haus trug. »Die bleiben drinnen, wo hast du deinen Verstand? Auf irgendetwas müssen meine Gäste ja sitzen.«
Hyperion begann zu begreifen. »Du willst das Haus meiner Großmutter an Urlauber vermieten? In mein Mount Othrys willst du Fremde bringen, die auf den Teppichen meiner Mutter herumtrampeln und die Dinge, die sie liebte, anpacken?«
»Wenn ich es nicht tue, wird es nicht mehr lange dein Mount Othrys sein«, erwiderte Mildred ruhig. »Wegen all der Teppiche und Staubfänger, die deine Mutter gesammelt hat, kann ich die Zimmer als Luxusquartiere anbieten und gesalzene Preise verlangen. Ich habe mich kundig gemacht, bald ein Jahr habe ich in diese Sache gesteckt, und jetzt, wo ich am Ziel bin, hältst du mich nicht auf. Oder wäre es dir lieber, wenn dein Sohn, für den meine Schwester um ein Haar gestorben ist, an Mangelkrankheiten leidet wie das Pack im Spital, das du so sehr liebst?«
»Aber Mildred, das Haus gehört meiner Großmutter.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe im Haupthaus zwei Räume für sie herrichten lassen. Leer stehen ja genug.«
»Meine Großmutter möchte nicht ins Haupthaus ziehen. Sie ist zu eigen dazu, deshalb hat ihr mein Vater das Wohnrecht für das Altenteil zugesichert.«
»Dann soll sie es einklagen«, versetzte Mildred kalt. »Das möchte ich sehen, wie Missus Nasehoch Weaver sich in einen Gerichtssaal stellt und gegen die eigene Familie vom Leder zieht.«
Er wollte nach ihr greifen, doch die Hände fielen ihm hinunter. »Du kannst das nicht tun. Ich erlaube es nicht.«
»Ha.« Sie warf den Kopf zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hatten wir beide nicht eine Abmachung, hast nicht du mir gelobt, du ließest mir freie Hand?«
Ihre Blicke trafen sich. Hatte das Glimmen ihrer Augen ihn einst wirklich belustigt, hatte es ihm keine Angst eingeflößt? Mildred, um die sich das Abendlicht schmiegte, wandte ihren Blick nicht ab. »Ich könnte auch mit Daphne sprechen«, murmelte sie endlich. »Aber ich denke, das wird nicht nötig sein.« Damit wandte sie sich ab und ging, um die Möbelträger anzutreiben, die Hyperion völlig vergessen hatte.
Nach einer Weile kehrte er ins Haus zurück, wo Frau und Sohn auf ihn warteten. Zum ersten Mal seit Louis’ Geburt heiterte das helle Lachen seines Kindes ihn nicht auf, und er war froh, als Daphne erklärte, sie wolle Louis zu Bett bringen. Das Abendessen ließen sie sich auf ihrem Zimmer servieren. Mehrmals fragte Daphne, wie das Gespräch mit ihrer Schwester verlaufen sei und ob ihn etwas quäle, aber er vermochte kaum, ihr Antwort zu geben. Er trank viel zu viel Wein. Für gewöhnlich trank er mäßig, doch heute leerte er die Kristallflasche und musste Priscilla bitten, sie neu zu füllen. Auch Daphne bat um ein Glas. »Wenn wir etwas zu feiern haben, muss ich doch mittun«, bemerkte sie. »Und das Gezänk mit Nell und Milly will ich gern vergessen.«
»Wird es dir nicht schaden?«, fragte er besorgt.
»Hyperion«, sagte sie, »nicht alles, was zum Leben gehört, schadet mir. Ich werde verwöhnt wie eine Made im Speck, ich glaube, ich bin mein Leben lang nie so gesund gewesen.«
Hätte er sich nüchtern vielleicht beherrschen können, so gab der Wein ihm den Rest. Er fühlte sich, als wäre er meilenweit gerannt, als liefe der Schweiß ihm aus den Poren und als müsste er in Daphnes Armen zusammenbrechen. Er tat es. Ließ sich von ihr in die Arme schließen, gab alle Bedenken dahin und schlief mit ihr.
Die Frau kam nach Einbruch der Dunkelheit, wenn kein Besucher mit Anstand sich hätte blicken lassen. Sie klopfte am Dienstboteneingang, übergab aber dennoch dem Hausdiener ihre Karte und trug ihm auf, sie dem Herrn des Hauses auszuhändigen. Hector war klar, was das bedeutete. Er hätte die Karte nicht ansehen müssen, um zu wissen, wer da im dunklen Flur des Dienstbotentraktes auf ihn wartete.
Die Karte war schmuddelig und an den Rändern ausgefranst. Dass eine wie sie sich überhaupt Karten drucken ließ, war der Gipfel der Unverschämtheit. Aber die Karte war gar nicht gedruckt. Sie hatte sie in ihrer scheußlichen Klaue selbst geschrieben. Die wenigen Zeilen enthielten zwei Schreibfehler.
Jedes Mal, wenn sie kam, wünschte er sich, er wäre Manns genug, sie abzuweisen. Stattdessen teilte er Bernice mit, er habe noch Arbeit, sie solle zu Bett gehen. Sie bestand darauf, zuvor mit ihm über den Erzieher zu sprechen, den er für Horatio eingestellt hatte. Er sei roh und grob, ereiferte sie sich, sie wolle ihn nicht um sich haben, und die Aufzucht der Kinder unterstehe ihr. Zudem sei Horatio mit seinen vier Jahren noch jung genug, in der Obhut des Kindermädchens Sukie zu verbleiben.
»Kindermädchen sind zum Herzen«, widersprach Hector scharf. »Mein Sohn braucht eine harte Hand, die einen Mann aus ihm macht.« Der Sohn war noch immer hässlich, sprach kein Wort und erinnerte an einen Idioten, doch der Stock des Erziehers würde Abhilfe schaffen, und wenn der Bursche die ganze Stadt zusammenbrüllte. »Schick dich drein«, verwies er Bernice. »In diesem Haus wird kein Sohn verzärtelt.«
Über kurz oder lang würde er Sukie ihres Weges schicken. Für seine Tochter würde er eine Gouvernante finden, und weiterer Kinder bedurfte es nicht. Die Gefahr, dass die zwei, die er hatte, missrieten, lastete schwer genug auf ihm. Mit Sukie vergnügte er sich zuweilen, aber die Lust an ihrem Knabenleib ebbte ab. Was er wirklich suchte, war unauffindbar, und sooft er glaubte es entdeckt zu haben, wurde es wieder schal.
Im Licht der Gaslaterne unter dem Vordach sah er die Frau. Hector hatte für die wenigsten Frauen viel übrig, die Amelias und Daphnes dieser Welt waren rar wie Störeier, und die anderen flößten ihm Verachtung ein. Eine aber reizte ihn zu würgendem Hass, und die stand jetzt vor ihm. Man las in der Zeitung Schauergeschichten von Verwandten, die einander metzelten, gerade sorgte der Fall eines Mädchens für Aufsehen, das ihrem Bruder die Kehle durchschnitten hatte. Man nahm es zur Kenntnis, legte die Zeitung beiseite und wunderte sich, wie weit Menschen sich treiben ließen. Wenn aber Hector diese Frau vor sich hatte, wunderte er sich über nichts mehr. Er hätte den Zeitungslesern erklären können, wie schmal der Grat war, der den gesitteten Bürger vom Mörder trennte.
»Willst du mir keinen guten Abend wünschen?«
Das Schlimmste war, dass er in ihrem vor Bosheit triefenden Ton seinen eigenen erkannte, dass er in ihren verlebten Zügen und dem einstmals schwarzen Haar sich selbst sah. Leute behaupteten, sie sei schön gewesen, damals, als ihr Mann sich so aufsehenerregend von ihr scheiden ließ, aber Hector wusste, sie war von jeher hässlich wie die Sünde. Der rote Samt ihres Kleides war so schäbig wie sie selbst. »Es ist nicht Abend«, sagte Hector. »Für Menschen mit Anstand ist es längst Nacht.«
»Ach, der Anstand«, erwiderte sie und legte den Kopf mit dem frivolen Hütchen schräg. »Den Anstand, mein Liebchen, muss man sich ja leisten können.«
»Nenn mich nicht so«, fuhr er auf. »Sag, was du willst, und geh.«
»Soll ich dich nicht so nennen? Aber so hab ich dich dein Leben lang genannt, ob in Worten oder in Gedanken. Es ist das Herz einer Mutter, das da spricht.«
Ohnmächtig vor Wut ballte Hector die Fäuste. So schmal ist der Grat, so schmal. Jetzt nur die Hände um diesen fetten Hals gelegt, und all das Quälen hätte ein Ende.
»Du ekelst dich vor deiner Mutter, hab ich recht?«
Er stierte zu Boden, auf den Kegel, den das Licht der Lampe bildete.
»Das schmerzt, mein Bübchen. Weißt du, wie das schmerzt? Hast ja selbst zwei Kinder, die werden nie auf meinen Knien reiten, und wenn sie ihrer Großmutter in der Stadt begegnen, rümpfen sie die Nasen. Und wofür wird deine Mutter so hart bestraft? Dafür, dass sie jung war und aus Liebe einen Fehler beging, oder dafür, dass die Titanengöttin Amelia Ward bereitstand und alles war, was Polly Pierson nie hätte sein können?«
Der Lichtkegel tanzte. Hector hörte seine Zähne knirschen.
»Nun gut«, sagte Polly Pierson. »Liebe lässt sich nicht zwingen, auch wenn man annimmt, die Liebe des Kindes zur Mutter sei angeboren. Da man mir jedoch alle Rechte einer Mutter geraubt hat, bin ich der Ansicht, eine kleine Entschädigung sei angebracht. Es wünscht ja kein Sohn, dass seine Mutter hungert.«
Sie sah nicht aus, als würde sie hungern. Sie war ein feistes Weibsbild, das den Hals nicht vollkriegen konnte, und natürlich würde sie wiederkommen, immer dann, wenn er glaubte, er sei sie endgültig los. »Lass von meinen Kindern die Finger«, krächzte er.
»Dass ich von meinen Enkeln die Finger lasse, willst du? Und meinst du nicht, wenn du von einer Großmutter solche Opfer forderst, sollte es dir ein Trostpflaster wert sein?«
Er gab es ihr. Er gab es ihr jedes Mal. Es war nicht das Geld, um das es ihm weh tat, sondern das Gefühl, erpressbar zu sein. Er wartete, bis sie hinter der Gartenpforte verschwunden war, dann stürmte er in sein Herrenzimmer und verriegelte hinter sich die Tür. Den kostbaren Whisky aus Talisk kippte er hinunter wie seine Mutter ihren billigen Fusel. Jemand würde dafür bezahlen müssen. Der Teutone! Der Wunsch, dem Deutschen ein Leid zuzufügen, war so übermächtig, dass er augenblicklich nach Milton’s Court eilen wollte, wo der Mann noch immer seine Schlafstätte hatte. Sobald er jedoch an diese Schlafstätte dachte, tauchte ein anderer Wunsch auf, und der brachte ihn um den Verstand.
Anderntags erwachte er mit höllischem Kopfweh, und aus den Blicken, mit denen seine Frau ihn bedachte, schloss er, dass sein Zustand in der Nacht nicht unentdeckt geblieben war. Eine Stunde lang sah er dem Unterricht seines Sohnes zu, geriet über die Trägheit des Kindes in Zorn und wies den Erzieher an, ihm eine Tracht Prügel von zwanzig Hieben zu verpassen. Vor Tagen hatte er auf der Promenade den bildhübschen Sohn seines Bruders gesehen, der an der Hand seiner Mutter bereits Schritte wagte. Und hinter beiden war der Bruder gegangen, auf den Zügen eine Seligkeit, wie Hector sie nie empfunden hatte. Hatte er nicht sein Leben lang danebengestanden, während der Bruder alle Liebe und alles Glück einsackte? Und jetzt hatte er auch noch einen Traum von Sohn, während Hector mit einem haarlosen Kretin geschlagen war. »Sie geben ihm fünfundzwanzig«, korrigierte er sich vor dem Erzieher. »Ich will diesen Stock schnalzen hören, und zwar täglich, sonst sind Sie Ihre Stellung los.«
Hector schluckte ein Mittel gegen Kopfweh. Als keine Linderung eintrat, rief er den Kutscher und ließ sich zur Gasanstalt fahren.
Er hatte dem Deutschen einen Aufstieg ermöglicht, der für einen Navvy vergleichslos war. Inzwischen hatte März sein eigenes Büro und verwaltete die Leitungen des Abschnitts Southsea. Sprosse um Sprosse hatte Hector ihn erklimmen lassen, doch dabei darauf geachtet, dass er sich nie in Sicherheit wiegte, sondern immer wieder um Schritte zurückfiel und weniger Geld erhielt als andere in seiner Stellung. In Deutschland hatte irgendein Windhund einen Arbeiterverein gegründet und kämpfte für die Forderungen des Aufwieglers Marx, der ebenfalls aus Deutschland stammte. März aber begehrte nie auf, sondern schuftete von früh bis spät und beugte sich jedem Befehl. Nur mit einem trieb er Hector zum Wahnsinn, und das war seine Unnahbarkeit. Ob Hector ihn demütigte oder sich kumpelhaft gab, der Deutsche sagte nicht mehr als danke, bitte und sehr wohl und blieb ein verschlossenes Buch.
Soweit Hector wusste, hatte er kein Liebchen, ja nicht einmal Kameraden, mit denen er ab und an über die Stränge schlug. Er trank nicht, spielte nicht und trug sein Geld nicht zu Huren. Wofür er es ausgab, war Hector ein Rätsel. Sein Zimmer bot nicht den geringsten Komfort, seine Kleidung war sauber, doch von billiger Machart, und auch beim Essen versagte er sich allen Luxus. Er musste etwas verschweigen, ein geheimes Laster, das Geld verschlang, und auf diese Schliche wollte Hector ihm kommen.
Das Büro, das er dem Deutschen zugeteilt hatte, grenzte an ein anderes, das er verschlossen hielt. Als er das Gebäude am Südrand von Southsea gemietet hatte, war ihm aufgefallen, dass die Räume einst zusammengehört hatten und durch eine dünne Wand getrennt worden waren. Es erforderte wenig Mühe, in die Wand einen Spalt zu schlagen und die Tapete darüber zu richten. Hector sagte sich, er müsse zu solchen Mitteln greifen, schließlich bleibe ein Deutscher ein Deutscher, und wenn er keinen Arbeiterverein in seiner Gasanstalt wollte, hielt er den Mann besser unter Kontrolle. In dem Raum gab es nicht mehr als einen Spind und einen Lehnstuhl. Oft saß er stundenlang in dem Lehnstuhl und hörte zu, wie die Stimme des Deutschen in der Leere hallte.
Bisher hatte er allerdings nie etwas von Interesse belauscht. März bediente Kunden zuvorkommend, schloss kluge Geschäfte ab und empfing niemanden, von dem sein Brotherr nichts wusste. An diesem Morgen hatte Hector jedoch kaum auf seinem Horchposten Platz genommen, als er hörte, wie die Tür des Nebenzimmers aufflog. »Victor!« Hector kannte keinen Menschen, schon gar keine Frau, die den Deutschen beim Vornamen nannte.
Aber die Frau, die rufend ins Zimmer gestürmt war, kannte er.
»Du musst mir helfen, Victor.«
»Mildred.« Der Ton, in dem der Deutsche das Wort aussprach, verriet Hector alles. Mit dem, was darin schwang – Sehnsucht, Leidenschaft, Einsamkeit –, kannte er sich aus. Der Deutsche bewegte sich leise wie ein Raubtier, aber Hector wusste dennoch, dass er um den Schreibtisch herum auf seine Besucherin zugegangen war. »Geht es dir gut?«
»Das tut nichts zur Sache. Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja.«
»Und hilfst du mir?«
»Mildred«, erwiderte der Deutsche, »ich habe dir gesagt, ich helfe dir, wann immer du mich brauchst.«
Einen Augenblick lang hörte Hector nichts als ihrer beider Atem. Warum war er nicht von selbst darauf gekommen? Ihm war, als sähe er sie vor sich, den schönen, starken Leib des Mannes und den schönen, starken Leib der Frau, beide berstend vor Kraft und zum Leben gemacht. Traten sie aufeinander zu, streckten sie die Arme aus und drängten sich aneinander, und das alles in seinem Büro, in der Arbeitszeit, die er bezahlte? Seine Hände fuhren an seinen Hals und lockerten den Kragen, ehe er erstickte.
Papier knisterte. »Ich brauche Geld«, sagte Mildred.
»Geld«, wiederholte März, als wäre er nicht sicher, was mit diesem Wort gemeint sei.
»Hier, lies.«
»Was ist das?«
»Eine Rechnung für Lebensmittel. Die Lieferung steht vor meinem Haus, doch ehe ich die Rechnung nicht begleiche, gibt der Kerl sie nicht frei. Später kommen noch andere, der Metzger und das Mädchen von der Schneiderei. Ich habe alles überschlagen, und das ist die Summe, die ich brauche. Jetzt sofort. Obwohl die Nachbarn sicher längst glotzen.«
Vermutlich studierte März das Papier und versuchte seiner Verwirrung Herr zu werden. »Aber wozu brauchst du denn solche Mengen?«, fragte er endlich. »Ich kenne Rechnungen für Mount Olymp. Dort macht das, was für die Woche bestellt wird, kaum die Hälfte aus.«
»Für uns bestelle ich schon lange keinen solchen Luxus mehr«, versetzte Mildred bitter.
»Für wen ist es dann? Was tust du mit all diesen Dingen?«
»Ich tue, was du mir geraten hast. Ich steige ins Geschäft mit Feriengästen ein.«
Jetzt glaubte Hector das Gesicht des Deutschen vor sich zu sehen, die Fassungslosigkeit in den herrlichen Augen, das Haar, das ihm über die Stirn fiel. »Ich habe dir geraten …«, stammelte er.
»Du hast gesagt, eines Tages wird diese ganze Küste eine Kette von Hotels sein, und die Urlauber tragen Geld wie Heu in die Stadt. Von dem Heu will ich meinen Teil. Meine Schwester und ihr Kind brauchen ihn.«
»Ich habe das Kind in der Stadt gesehen«, murmelte der Deutsche. »Du musst glücklich sein, solchen Neffen zu haben.«
»Ja«, kam es knapp von Mildred.
»Ich wäre auch glücklich, wenn ich meiner Schwester Kind bei mir hätte. Annette ist blond, so wie deine Schwester. Gut möglich, dass ihr Kind so reizend wäre wie der kleine Louis Weaver.«
Eine Schwester? Der Deutsche hatte eine Schwester? Hector besaß das Gedächtnis eines Elefanten, aber er wollte kein Risiko eingehen, sondern langte lautlos nach dem Spind und entnahm ihm Papier und Federhalter.
»Hast du mich nicht gehört?«, schrie Mildred. »Der Lieferant wird nicht ewig auf mich warten, und wenn er die Sachen wieder mitnimmt, kann ich mich begraben. Meine Gäste kommen morgen. Ich habe alle vier Zimmer auf Anhieb belegt.«
Der Deutsche trat auf sie zu, vielleicht packte er sie an den Armen. Trug sie wieder ein Kleid, das ihre sinnliche Fülle wie ein Gefängnis umschloss? Es gab Frauen, die wurden schon sündig geboren, sie hätten in ein Kloster gehen können und wären doch Schlampen geblieben. »Höre, Mildred«, beschwor sie der Deutsche, »als ich das gesagt habe, meinte ich nicht, du solltest dich in dem Geschäft versuchen. Ich habe an mich gedacht, verstehst du? Es ist eine harte Welt da draußen, zu hart für eine Frau. Wenn aber du und ich uns zusammentäten …«
»Erzähl mir nichts von der Welt«, fuhr Mildred ihn an. »Ich bin aus Whitechapel. Mir macht über die Welt kein Mensch etwas vor. Hilfst du mir, wie du’s versprochen hast? Wenn nicht, halt mich nicht länger hin, denn dann muss ich mich sputen und den Lieferanten bitten, mich auf andere Art bezahlen zu lassen.«
»Mildred!«
»Ich bin aus Whitechapel«, erklärte sie noch einmal. »Von allem, was ich mir wünschte, habe ich nichts bekommen, nur das verdammte Haus, und das Haus gebe ich nicht her.«
Wieder hörte Hector das Papier in den Händen des Deutschen rascheln. »Das ist sehr viel Geld«, vernahm er dessen Stimme.
»Ja, und ich brauche noch einmal das Doppelte, andernfalls stehe ich nächste Woche nicht besser da als heute.«
»Das wäre alles, was ich gespart habe.«
»Ich zahle es dir zurück«, sagte Mildred. »Sobald meine Gäste ihre Zeche begleichen. Ich zahle dir Zins dafür.«
»Ich nehme von dir keinen Zins. Aber wenn dir so viel daran liegt, ein Hotel zu führen, warum tun wir es nicht gemeinsam? Wir könnten Teilhaber werden, wir wollen beide dasselbe …«
Weh tat, dass er recht hatte. Sie wollten dasselbe, sie konnten einander etwas geben, das Hector sich sehnlichst wünschte und nirgendwo bekam. War er März nicht ein Wohltäter gewesen, hatte er nicht die gestrandete Mildred in seine Pension aufgenommen? So dankten sie es ihm – indem sie ihn vergaßen und sich wie Tiere aufeinanderstürzten.
»Du?«, rief Mildred. »Du als Teilhaber von Mount Othrys?« Und dann warf sie gewiss den Kopf mit dem wilden Haar in den Nacken und lachte. »Weißt du überhaupt, was du redest, weißt du, wie vermessen du bist?«
Mit einem Schlag war der Schmerz verflogen. Hector hörte auf mitzuschreiben und verharrte. März sagte lange Zeit nichts. Ein Scharren ließ vermuten, dass einer von beiden sich rührte. »Ich habe das Geld nicht hier«, hörte er März schließlich sprechen. »Geh nach Hause, sag deinem Lieferanten, es kommt gleich jemand, der die Summe bringt. Ich gehe zur Post und hebe alles ab. Ich kann nur hoffen, dass Mr Weaver nicht aufkreuzt, denn dann wird er mich hindern zu gehen.«
Hector hätte sich einen Spaß daraus machen können, aber er tat es nicht. Stattdessen ergänzte er seine Notizen und schrieb das Wort Hotel ganz oben auf den Bogen. Was März erkannt hatte, wusste er seit langem, in der Hotelbranche lag die Zukunft der Stadt. Der berauschende Erfolg der Gasanstalt hatte ihn davon abgelenkt, aber jetzt würde er schleunigst Nägel mit Köpfen machen. Das andere, was sich im Raum nebenan ereignet hatte, war jedoch noch unendlich erregender.
Der Deutsche hatte eine Schwester. In dem wilden Land, aus dem er stammte, gab es eine Verwandte, die ihm über Gebühr am Herzen lag. So etwas von Menschen zu wissen war Gold wert, denn durch solches Wissen ließen sie sich lenken.
Vermutlich hatte März vor, seine Schwester zu sich zu holen, sobald er die Mittel besaß, aber der Wirbel um die Schwester verstummte, sobald Mildred Adams die Bühne betrat. März liebte sie. Der verschlossene Bursche gab das Geld hin, das für die Schwester gedacht war, und setzte die Stellung aufs Spiel, für die er Tag und Nacht schuftete. Hector hatte von solchen Leidenschaften, die wie Krankheiten waren, gelesen, er hatte geahnt, wie sie in Menschen wüteten, jetzt aber erlebte er sie, keine zehn Schritte entfernt, und blieb davon ausgeschlossen.
Für Mildred Adams hätte der Deutsche getötet. Hector spürte den Schmerz in allen Gliedern pochen und wünschte, ein Mensch hätte für Hector Weaver getötet.
»Sag nichts, Mildred«, hörte er den Deutschen sprechen. »Musst dich nicht sorgen.« Dann scharrten Schritte über den Boden, die Türangeln knarrten, und gleich darauf waren beide fort.