Kapitel 17
Frühling
Sie erpresste ihn. Sie hatte ihn in der Hand. Sobald sie nur zu ihm sagte: »Hast du Daphne nicht genug angetan?«, tat er alles, was sie von ihm verlangte. Seine Patientenkartei hatte sie übernommen und selbst herumgefragt, wer einen Arzt brauchte. Er hatte einen makellosen Ruf, jeder in der Stadt schien ihn zu lieben, aber vor dem, was er aus dem Spital einschleppte, hatten die Leute Angst. Mildred schreckte nicht davor zurück zu lügen: Dr. Weaver erledige für das Spital nur schriftliche Arbeit, er komme mit Patienten nicht in Berührung. Wen sie gewinnen konnte, den behandelte er ohne Widerspruch, und das Geld, das er einnahm, händigte er ihr aus. Sie steckte es in Daphnes Pflege und den Ausbau ihres Hotels. Denn so nannte sie das Altenteil inzwischen – mein Hotel.
Hyperion arbeitete Tag und Nacht. Zur Wehr setzte er sich nie, denn was ihm dafür blühte, wusste er: Hast du Daphne nicht genug angetan? Soll sie sterben, weil der Mann, der ihr das eingebrockt hat, nicht für ihre Pflege aufkommt? Ich habe geglaubt, du seist der einzige Mann, der nichts von einem Tier hat, aber du bist tierischer als der letzte Dreckskerl aus der Gosse. Es gefiel ihr, ihn zu demütigen. Sie redete sich ein, sie bestrafe ihn damit für das Leid, das er ihrer Schwester zugefügt hatte. Manchmal weinte Daphne und bettelte: »Ich will meinen Mann sehen, Mildred. Warum lasst ihr meinen Mann nicht zu mir?«
Mildred brachte ihr stattdessen Louis, der sie immer abzulenken wusste. Dein Mann weiß, warum er nicht zu dir darf, dachte sie grimmig. Weil er dich nicht verdient hat. Weil er schuld ist, wenn du stirbst.
Ende April war Mildreds Anbau fertig. Sie hatte jetzt sechs Suiten und zwei Zimmer für allein reisende Herren zur Verfügung und war von Anfang Mai an ausgebucht. Als Nächstes würde sie einen Teesalon und ein exquisites Restaurant brauchen, etwas im Stil des Cathedral, obwohl neuerdings das Victoriana mit seiner Meeresnähe in Mode kam. Beides waren Grandhotels, ihrem kleinen Betrieb haushoch überlegen, aber das beeindruckte Mildred nicht. Eines Tages würde sie ein Grandhotel besitzen. Dass es dazu nicht genügte, an das Altenteil anzubauen, war ihr bewusst, doch was sie brauchte, würde sie von Hyperion bekommen. Du hast mir alles genommen, und dafür werde ich dir alles nehmen. Deine Frau und den Jungen, den du so sehr liebst. Und am Ende Mount Othrys.
Der Frühling war herrlich. Daphne wollte in den Garten, und Priscilla schlug vor, sie hinunterzutragen und draußen in einen Korbstuhl zu setzen. Mildred verbot es – ihre Schwester sei zu schwach. Auch dass die mickrige Tochter, die Daphnes Gesundheit ruiniert hatte, ihr gebracht wurde, untersagte sie. Für Esther, die ohnehin nicht lange leben würde, war das Kindermädchen zuständig, schließlich wurde es teuer dafür bezahlt. Mildred hatte die Herrschaft übernommen, und wer das anzweifelte, dem brachte sie es bei. Der Einzige, der ihr noch die Stirn bot, war die alte Nell, und der wich sie aus.
Sooft Mildred in Portsmouth etwas zu erledigen hatte, stahl sie ein paar Minuten, um in die Sankt-Thomas-Kathedrale zu gehen und zu beten. Hier, in der Erhabenheit jahrhundertealter Pracht, gelang ihr, was ihr anderswo inzwischen unmöglich war. Sie ging in die Knie und flehte die gesichtslose Macht an, Daphnes Leben zu erhalten, nicht Daphne zu strafen für Sünden, die Mildred begangen hatte. Aber welche Sünden? Nur hier, unter dem himmelhohen Dach, war sie fähig, um Vergebung für Dinge zu bitten, die sie nicht zu nennen wusste.
Als sie an jenem Maiabend aus der Kathedrale kam, war der Himmel dabei, sich zu röten. Über der Stadt lag die sachte Stille, die sie in Whitechapel nie gekannt hatte, und die Welt erschien ihr so schön, dass es weh tat und dass sie zu wissen glaubte: Etwas musste geschehen sein. Sie hatte sich längst angewöhnt, im Herrensitz zu reiten, wann immer sie es eilig hatte. Über sie zerriss sich die gute Gesellschaft von Southsea ohnehin die Mäuler, weshalb ihnen also noch Zugeständnisse machen? Rücksichtslos trieb sie den Fuchs in Galopp und sprengte nach Hause.
Unzählige Male hatte sie sich vorgestellt, wie sie durch das Tor eilte und Max, der ihr das Pferd abnahm, »Mein Beileid« murmelte, wie sie aufschrie und zusammenbrach. Als sie den Wagen des Spitals an der Straße stehen sah, war sie sicher, dies sei der Tag, an dem ihr schlimmster Alptraum wahr wurde. Ohne Max Gelegenheit zu geben, ihr das Unerträgliche mitzuteilen, stürmte sie ins Haus. Am Treppengeländer lehnte Priscilla und heulte. Mildred schrie auf und stürzte an ihr vorbei.
Daphne war nicht gestorben. Sie war, weil das verfluchte Hausmädchen nicht aufgepasst hatte, aufgestanden, um mit Louis im Garten Ball zu spielen. Schwach, wie sie war, hatte sie den Halt verloren und war die Treppe hinuntergestürzt. Alle dreißig Stufen. Wer es ihr sagte, erfasste Mildred nicht. Sie rannte nach oben, riss die Tür auf und fand um das Bett geschart Sarah, Schwester Gladys, die sie wohl wieder einmal aus dem Spital geholt hatten, und einen der Ärzte, die sie des Öfteren bestellte. Vor dem Bett, über Daphne, kniete Hyperion.
»Was machst du in diesem Zimmer!«, brüllte sie ihn an. »Verschwinde, rühr meine Schwester, die du auf dem Gewissen hast, nicht an!«
Sie sprach so nicht zum ersten Mal mit ihm. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, und üblicherweise duckte er sich unter ihrer Stimme und tat, was sie von ihm verlangte. Heute aber richtete er sich auf und schrie zurück: »Beim Himmel, Mildred – ich bin Arzt!«
Mildred war so überrumpelt, dass sie eine Weile nicht reagieren konnte, und diese Zeit machten Nell, Sarah, Priscilla und wer immer noch in diesem Haus ihre Feindin war sich zunutze und zerrten sie aus dem Raum. All ihr Wüten und Toben kam zu spät. Irgendwann, als ihre Kraft verbraucht war, sah sie ein, dass Priscilla, die auf sie einsprach, recht hatte. Sie schadete nur Daphne mit ihrem Geschrei. Geschlagen und vor Verzweiflung leer, schleppte sie sich hinunter in die Bibliothek.
Priscilla hätte ihr nie unaufgefordert etwas zu trinken gebracht, wie sie es für alle anderen tat. Von Daphne abgesehen hatte sie im Haus nur Gegner, die sie lieber heute als morgen gehen sehen würden. Still saß sie an dem Tisch, an dem sie auf die Nachricht von Louis’ Geburt gewartet hatte, starrte vor sich hin und trank Port, den sie sich aus der Kammer geholt hatte. Sie war allein, wie sie ihr Leben lang allein gewesen war.
Bis Hyperion kam.
Die Tür öffnete er so leise, dass sie ihn erst hörte, als er sprach. »Es tut mir leid«, sagte er. Sie drehte sich um und sah in sein zu Tode erschöpftes, wie erloschenes Gesicht. »Es tut mir leid, Mildred. Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.«
Mildred sprang auf. »Wie geht es ihr?«
»Sie schläft jetzt«, sagte er. »Sie ist auf die Seite gestürzt und hat sich den Oberschenkelknochen gebrochen. Es wird lange dauern, bis sie wieder laufen kann, und sie hat solche Schmerzen.«
Er schlug die Hände vors Gesicht. Mildred packte ihn bei den Gelenken und riss sie hinunter. »Aber sie wird nicht sterben?«
Hyperion schüttelte den Kopf. Tränen strömten ihm über die Wangen. »Es tut mir so leid, Mildred. Es tut mir so leid.«
Sie musste verrückt sein. Es gab auf der Welt kein Geschöpf, das ihr so verhasst war wie dieser Mann, doch seinen Schmerz ertrug sie noch immer nicht. Wie ohne ihr Zutun schlossen sich ihre Arme um seinen Hals, strichen ihre Hände über das schweißnasse Haar in seinem Nacken. »Es ist ja gut«, murmelte sie. »Daphne wird nicht sterben.« Im nächsten Atemzug lagen ihre Lippen auf seinen.
Sie hatte ihn schon einmal geküsst, aber wie heute war es nicht gewesen. Damals hatte sie geglaubt, dass dem einen Kuss Hunderte, Tausende folgen würden, heute hingegen war ihr, als müsste sie in wilder Gier alles, was sie je gewollt hatte, nehmen, weil sie nie wieder etwas bekommen würde. Ihr Mund schnappte, ihre Hände klammerten, ihre Zähne gruben sich in seine Lippen. Und er küsste sie wieder. In ihrem Rausch bemerkte sie es erst, als sie einen Herzschlag lang Atem holte. Er küsste sie mit demselben Verlangen, demselben Hunger wie sie ihn.
Sich die Kleider herunterzureißen, all die Haken und Ösen, wurde zur Qual der überreizten Sinne. Als sie ihm die grauen, von zu vielem Bügeln glänzenden Hosen von den Hüften streifte, entfuhr ihr ein Laut. Er war kein Tier, auch wenn er sich wie eines in ihre Umarmung gestürzt hatte, auch wenn sie beide wie Tiere einander wollten. Im Licht der Wandarme schimmerte sein goldenes Fleisch. Seine Schönheit hatte mit Tieren nichts gemein, sie war über alles Widerliche erhaben und so wenig irdisch, dass sie ihr Begehren dämpfte. Aber das machte alles noch herrlicher. Es war Mildred, nicht Hyperion, die daran dachte, die Tür der Bibliothek zu verschließen, ehe sie in seine Arme zurückkehrte.
Sie liebten sich auf dem weichen Teppich vor dem Kanapee. Etwas war seltsam daran, dass ein so zarter, argloser Mann wie Hyperion einem so kraftvollen, gewieften Mädchen wie Mildred die Liebe beibringen und sie zur Frau machen sollte, und es fühlte sich nicht so an. Nur den Augenblick lang, in dem es weh tat, in dem sie spürte, wie Blut aus ihr herausschoss, weil etwas in ihr zerrissen war. Sie biss ihn in die Schulter. Er ächzte und seufzte, gab über ihr all seine Kraft aus und brach dann in ihren Armen zusammen. Alles Rauschhafte, Wilde war vorüber. Trotz des weichen Lichts glaubte Mildred jede Einzelheit des Raums überklar zu sehen, jede Einzelheit ihres Lebens zu begreifen. Sie hielt seinen makellosen Leib an ihrem, streichelte die schweißnasse, schimmernde Haut und das wirre Haar. Dass er weinen wollte, glaubte sie zu spüren, wusste aber, dass der Schmerz und die Schuld zum Weinen zu groß waren.
»O Mildred, Mildred, was haben wir getan?«
Mit einer zärtlichen Bewegung schloss sie ihm die Augen. O ja, was haben wir getan?, dachte sie. Und wir werden es wieder tun.
»Aber Sie können mich doch nicht auf die Straße setzen!« Sukie Ralph starrte ihren Dienstherrn an, als hätte er nicht in ihrer Sprache gesprochen. »Ich habe alles getan, wie Sie es wollten. Was habe ich denn falsch gemacht?«
»Nichts«, erwiderte Hector Weaver mit jener süffisanten Gleichgültigkeit, vor der ihr schauderte. »Du warst ein braves Mädchen, Sukie, bist es immer gewesen.« Weit ausholend klatschte er ihr auf den Hintern. Wie so oft musste sie die Zähne zusammenbeißen, um nicht zurückzuschlagen, ihm nicht ins Gesicht zu schreien, was sie von ihm und seinen abscheulichen Gelüsten hielt.
»Aber warum wollen Sie, dass ich gehe?«, presste sie mühsam heraus.
»Weil dich hier niemand mehr braucht, Goldkind. Horatio soll von Männern erzogen werden, nicht von Weibern, und für Nora hat die gnädige Frau eine französische Gouvernante eingestellt. Wen wollen Sie da noch hüten? Die Hunde?« Er lachte auf.
Über die Dienste, die sie ihm erwiesen hatte, verlor er wie üblich kein Wort. Kein Wunder, war doch das, wonach es ihn verlangte, wenn er sich mit ihr in der Besenkammer einschloss, zu scheußlich, um es in Worte zu fassen. Ihr aber würde es auf ewig anhängen. Als unbeflecktes Mädchen hatte sie die Stellung in seinem Haus angetreten, und ihre einzige Schande war ihre Armut gewesen. Man hörte dergleichen Geschichten an jeder Straßenecke. Der reiche Dienstherr, der dem armen Mädchen Versprechungen machte, und das dumme Ding, das darauf hereinfiel. Auch Hector Weaver hatte ihr Versprechungen gemacht. Er würde sie als Lehrerin ausbilden lassen, ihr Geld für Sprachstunden geben, ihre Zukunft sichern. Hatte sie ihm geglaubt? Ich hatte doch keine Wahl, begehrte es in ihr auf. Wovon hätte ich denn leben sollen? Wovon sollte sie jetzt leben? Hector Weaver öffnete die Tür.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du das Zimmer bis heute Abend räumen könntest. Die gnädige Frau will es für das Fräulein aus Paris herrichten lassen.«
»Das können Sie nicht tun!«, rief Sukie. »Ich bitte Sie, lassen Sie mich bleiben, ich kann auch in der Küche arbeiten, ich kann nähen und flicken.« Dass sie sich aufs Betteln verlegte, noch dazu, wo die Tür offen stand und alles Personal sie hören konnte, trieb ihr die Schamröte in die Wangen.
Hector Weaver verzog den Mund zu einem hässlichen Lächeln. »Bei so vielen Talenten wirst du gewiss nicht lange nach einer Stellung suchen müssen. Wer weiß, vielleicht stellt sogar die Königin dich ein – obgleich, ohne ihren Albert fährt sie ja nicht mehr in die Sommerfrische.«
»Darf ich wenigstens bleiben, bis ich etwas Neues habe?« Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie widerte sich an.
»Du hast mich doch verstanden, Goldkind. Und du weißt auch, dass ich kein Mann bin, der seine Meinung ändert. Also los, ab mit dir.« Noch einmal sauste seine Hand auf ihren Hintern nieder. Sukie stand starr vor Scham, bis er gegangen war.
Um ihre paar Habseligkeiten zu packen, brauchte sie mehr als eine Stunde. Mit jedem Stück, das sie in die schäbige Stofftasche legte, schien das Unfassliche wirklicher zu werden. Wie konnte er ihr das antun? Ein Kindermädchen war keine gewöhnliche Dienstmagd, sondern ein geachtetes Mitglied des Haushalts, das man Bekannten empfahl, ehe man es entließ. Hector Weaver aber war zur Achtung nicht fähig. Er missachtete seine Frau, die er unter ihrem eigenen Dach mit dem Personal betrog, seine Tochter, die er nicht einmal ansah, und den Sohn, den er derart gnadenlos prügeln ließ, dass Sukie einmal dumm genug gewesen war, dazwischenzugehen. Dass ausgerechnet Hector Weaver einen schwachsinnigen Sohn hatte, war eine Ironie des Schicksals, für die das arme Wurm ein Martyrium ohnegleichen durchlitt.
Weavers Missachtung seiner Angestellten ging noch tiefer. Sie waren nicht mehr als Spielzeug für ihn, und wenn er eines von ihnen kaputt gespielt hatte, warf er es weg. Am schlimmsten traf es Victor März, seinen Geschäftsführer in Milton’s Court, den er als Mädchen für alles missbrauchte. Hatte er ihn in einem Augenblick noch herablassend gelobt, so kanzelte er ihn im nächsten ab wie einen dummen Jungen. Sooft Sukie solche Szenen miterlebte, zog sich etwas in ihr zusammen. Victor März war der freundlichste Mensch, der im Haus herumlief, aber das war nicht alles. Er war größer und breiter gebaut als alle Männer, die sie kannte, und dabei sanft in allem, was er tat. Es lag etwas Kostbares darin, wenn ein starker Mann sanft war, fand Sukie. Unweigerlich stellte man sich dabei vor, wie er sanft mit einer Frau umging.
Er war ein schöner Mann, fand sie. Stattlich, immer sauber, das Gesicht klar geschnitten und die Augen wundervoll. Sie hatte begonnen von ihm zu träumen, und wäre das Widerliche nicht gewesen, das Hector Weaver mit ihr tat, so hätte sie sich Hoffnungen gemacht. Würde sie Victor je wiedersehen, wenn sie Mount Olymp verließ?
Sukie legte ein Kleid in ihre Tasche, das sie gekauft hatte, um Hector Weaver zu gefallen. Hätte sie es bleiben lassen, hätte sie jetzt zumindest Geld für ein Pensionsbett. Ihre Hände wurden eiskalt, als ihr einfiel, dass sie nicht einmal wusste, wo sie die Nacht verbringen sollte. Sie kannte so gut wie keinen Menschen in der Stadt, und zu ihrer Familie nach Havant konnte sie nicht zurück. Sie hatte sich den Heiratsplänen ihres Vaters widersetzt und den Bruch in Kauf genommen, um frohgemut in die Welt hinauszuziehen, sicher, dass sie sich dort ihren Platz erobern würde. Wie sehr wünschte sie sich jetzt, sie hätte mit dem öden, gefahrlosen Leben in der Kleinstadt vorliebgenommen, besäße ein warmes Bett und wüsste, woher ihre nächste Mahlzeit kam. Schwer hämmerte eine Faust an die Tür. »Ich käm denn jetzt gern zum Saubermachen«, keifte das plumpe Hausmädchen, das sich an Sukies Elend zweifellos weidete.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Die Tasche zu nehmen und schleppenden Schrittes aus dem Zimmer zu schleichen, das sie sieben Jahre lang bewohnt hatte. Es waren böse Jahre gewesen, Jahre, die ihre Selbstachtung zerstört hatten, aber sie hatten ihr nicht alle Hoffnung genommen. Das war erst jetzt geschehen. Mit erschreckender Klarheit sah sie das Schicksal vor sich, das sie erwartete. Ohne Empfehlung, ja sogar ohne Wohnadresse würde sie sich als Kindermädchen nirgendwo bewerben können. Ohne ein Zimmer mit Waschtisch konnte sie sich nicht sauber halten, sie konnte ihre Kleider nicht aufhängen, und innerhalb von Tagen würde man ihr ansehen, was sie jetzt war – eine von der Straße. Eine, die sich mit ehrlicher Arbeit nicht über Wasser halten konnte und der nichts zum Verkaufen blieb als das bisschen, was Hector Weaver von ihrer Jugend und ihrer Schönheit übriggelassen hatte.
Während sie ihre Tasche durch die Halle schleifte, folgten ihr Blicke, die wie Schläge brannten. All ihre Beherrschung brauchte sie, um aus der Tür zu treten, als ginge sie nur, um Nora aus dem Garten zu holen. Sie hatte sich eingebildet, es werde regnen, aber der Juniabend war makellos. Drei Schritte ging sie noch auf dem frisch gepflasterten Gehsteig entlang, dann blieb sie stehen, weil sie die Kräfte verließen und weil, wer kein Ziel hatte, schließlich nicht fröhlich drauflosstapfen konnte.
Ein Einspänner kam ihr entgegen, das Pferd im munteren, wie sie verhöhnenden Trab. Es war kein Hansom Cab, sondern eins jener kleinen Gefährte, die ihre Besitzer selbst fuhren, weil sie sich keinen Kutscher leisten konnten. Den Mann, der sich, sobald er sie sah, vom Bock herunterbeugte, erkannte sie sofort. »Guten Abend, Miss Ralph«, grüßte Victor März in seiner stillen, höflichen Art und zog die Zügel an. »Ist Mr Weaver drinnen? Ich bräuchte von ihm rasch zwei Unterschriften.«
»Ich arbeite nicht mehr für Mr Weaver«, murmelte Sukie tonlos. Sie hatte nur einen Blick auf ihn geworfen und starrte jetzt auf den Boden. Er sah gut aus. Einen neuen dunklen Anzug trug er und dazu eine Weste in gewagtem Rot. Offenbar war ihm der Aufstieg beschieden, den er sich redlich verdient hatte. Sie dagegen hatte nichts als Verachtung verdient.
»Miss Ralph?« In seiner Stimme schwang jenes Erstaunen, das sie vom ersten Tag an für ihn eingenommen hatte. Wenn es so etwas überhaupt gab, war er ein Mann ohne Arg. »Sie arbeiten nicht mehr bei Mr Weaver? Wie schade. Ich hoffe, es ergeht Ihnen in der neuen Stellung gut.«
»Ich hab keine neue Stellung«, murmelte Sukie mit dem Blick zum Boden, und dann erzählte sie ihm alles – dass sie hinausgeworfen worden war, dass sie keinen Ort hatte, an den sie gehen konnte. Was sie von ihm wollte, wusste sie nicht. Seine Hilfe? Ein Nachtquartier?
»Sie kommen zu mir«, sagte er. »Ich weiß, es ist nicht schicklich, aber ich habe ein großes Haus für mich allein, und tagsüber kommt die Aufwarterin. Sie müssen sich nicht fürchten.«
Um ein Haar hätte Sukie aufgelacht. Wenn er so weitermachte und sich das herrenlose Kroppzeug von der Straße auflas, würde er bald kein großes Haus mehr für sich allein haben. »Ich gehe nur schnell und spreche mit Mr Weaver«, sagte er und sprang vom Bock. »Wenn Sie wollen, steigen Sie schon auf. Ich beeile mich.«
Sukie sah ihm nach, wie er mit seinem Schlüssel das Tor öffnete und den Weg entlangrannte. So gut geschnitten sein Anzug auch sein mochte, an ihm wirkte Kleidung grundsätzlich, als würde sie den schönen Körper einengen. Dass sie solche Gedanken hegte, beschämte Sukie nicht länger. Das schamhafte Mädchen aus Havant gab es nicht mehr. Sie schulterte ihre Tasche. So sehr sie sich wünschte, sein Angebot anzunehmen, so wenig war sie in der Lage dazu. Von Victor März hatte sie sich anderes gewünscht als Mitleid. Ich bin in ihn verliebt, gestand sie sich jetzt, da die Erkenntnis keinen Sinn mehr hatte. Müde ging sie die sonnige Straße entlang, um außer Sicht zu sein, ehe er zurückkam. Lieber würde sie hungern, frieren und sich aufs Tiefste erniedrigen, als dem Mann, den sie liebte, eine Last zu sein.