Kapitel 27
Southsea bei Portsmouth, Mai 1868
Mildred schnitt Rosen. Max taugte als Gärtner weit weniger als bei den Pferden, und sie hätte jemanden einstellen müssen, doch eine letzte Saison lang verschob sie es. Der Ausbau des Altenteils hatte Unsummen verschlungen, weil es ihr widerstrebte, an dem Haus zu sparen, in dem Phoebe aufwachsen würde. Phoebe war nicht der ersehnte Sohn, ihr Haar war zu einem blassen Braun gedunkelt, und Hyperion beachtete sie so wenig wie Georgia, aber Mildred häufte all ihre Liebe auf sie. Sie ertrug sowohl Esther als auch Georgia nur mit Mühe, weil Esther aussah wie Daphne und Georgia aussah wie sie, nur fehlte beiden der Reiz. Phoebe hingegen war leicht zu ertragen. Ich werde für dich sorgen, mein Mädchen, ich werde dir den Weg bereiten. Aus dieser verfluchten Familie soll einmal eine glücklich sein.
Dafür lohnte es sich, die Plage des Rosenschneidens auf sich zu nehmen. Ziel war es, die Rosenstöcke, die jetzt, Anfang Mai, bereits voller Knospen standen, so zurückzustutzen, dass sie auf das Rondell, auf dem an schönen Tagen Tee serviert wurde, keine Schatten warfen. Sie hätten früher beschnitten werden müssen, behauptete Max. »Jetzt, wo sie blühen, tut der Rose jeder Trieb, den man ihr nimmt, weh«, hatte der sonst wortkarge Mann gesagt. »So wie es dem Menschen weh tut, der sie aufgezogen hat.«
Pah! Mildred schnaubte. Max war der gute Geist des Haushalts, doch er sollte sich hüten, sich aufzuspielen. Zornig säbelte sie erst mit der Schere, dann mit dem Messer an einem Ast des größten Rosenstocks herum. Sie mochte diesen Stock ohnehin nicht. Seine Zweige erinnerten an gekrümmte Glieder, die Stiele der Blüten waren so missgebildet, dass man sie unmöglich in einen Strauß einbinden konnte, und die verholzten, unschönen Äste ragten weit über das Rondell. An manchen prangte zwar eine sich öffnende Knospe, aber kein einziges Blatt. Blauer Mond hieß die Sorte, die schwere bläulich blasse, an den Tod gemahnende Blüten zeugte. Daphne hatte sie geliebt.
Warum behalte ich ihn? Ist es nicht mein Garten, kann ich nicht darin tun, was ich will?
Wenn sie den Stock entfernen würde, bekämen die properen Teerosen links und rechts davon mehr Licht. Kurzerhand warf sie das Messer beiseite und stapfte zum Schuppen, um einen Spaten zu holen. Die Axt gleich dazu. Die Wurzeln der Rose hatten sich tief ins Erdreich gebohrt, aber Mildreds Spatenhiebe schlugen die längsten Triebe mit Wucht entzwei. Es war eine Wohltat, die eigene Kraft zu spüren, die unverwüstlich war wie eh und je. Sie hatte keines ihrer Kinder genährt, um diese Kraft nicht zu vergeuden, sie hatte Hyperion Glasflaschen aus dem Spital bringen lassen und hatte ihnen die Milch fetter Kühe gefüttert.
Es war ein Triumph, als die Rose hintenüberkippte. So wie dieses vielarmige Gewächs würde sie alles aus dem Weg schlagen, das Schatten auf ihr Leben warf. Mit der Axt zerteilte sie die Pflanze in Stücke, die Max nachher auf den Abfall werfen konnte.
Von neuem holte sie aus, als das Getrappel kleiner Schritte und Geschrei sie herumfahren ließ. Sie hatte den Mädchen befohlen, unter dem Birnbaum zu bleiben und auf Phoebe, die noch nicht laufen konnte, zu achten. Priscilla hatte behauptet, was Mildred tue, gefährde das Leben der Kinder, aber in Whitechapel tat es jeder, die Frauen hatten Geld heranzuschaffen, und eine Vierjährige war durchaus in der Lage, ein Kleinkind im Auge zu behalten.
Nicht so Esther! Sie war eine fahrige Träumerin, die keine Anweisung im Kopf behalten konnte. Mildred wusste, dass ihr zu oft und aus nichtigem Anlass die Hand ausrutschte, aber das Wesen des Kindes brachte sie um den Verstand. Was rief sie jetzt wieder, das kleine Gesicht einmal mehr gerötet und die großen Augen schon in Tränen schwimmend? »Doch nicht die blaue Mondrose, Mildred! Du darfst doch dem blauen Mond nichts tun!«
Sie wollte Esther nicht hassen. Man hasste kein Kind, das einem knapp bis zur Hüfte ging, aber das weinerliche Stimmchen trieb sie zur Raserei. Eine Zeitlang hatte Hyperion sie mit ins Spital genommen, und so ungern Mildred es sich eingestand, sie hatte die Stunden ohne Esther genossen. Geduldet hatte sie es natürlich trotzdem nicht lange. Zum einen war das Pack im Spital kein Umgang für ein Kind aus Mount Othrys, und zum anderen war es nicht gerecht, dass Esther den Tag mit ihrem Vater verbrachte, während Mildreds Töchter ihn kaum zu sehen bekamen.
»Die blaue Mondrose«, rief Esther heulend. »Der arme blaue Mond!«
»Was hast du damit zu schaffen?«, herrschte Mildred sie an. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst auf Phoebe achten?«
»Hab ja geachtet!«, verteidigte sich Esther. »Aber dann hab ich gesehen, dass du den blauen Mond totmachst, und das darfst du nicht. Das ist mein blauer Mond!«
»Dein ist, was der Hund macht«, blaffte Mildred und schämte sich ihrer Gossensprache. Das Kind war schuld! Sie packte es am Arm und verpasste ihm einen Klaps. Gleich darauf schämte sie sich noch mehr und ließ die Hand wieder sinken. Esther war so schmächtig, sie würde nicht lange leben. »Geh zurück zu deinen Schwestern und misch dich nicht in Dinge ein, die dich einen Dreck angehen«, gebot sie ihr.
»Der blaue Mond ist kein Dreck! Der blaue Mond geht mich an!«, widersprach Esther mit einem seltsamen Trotz, der nie laut wurde, aber umso sturer war. Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen, doch sie sprach unbeirrt weiter: »Er gehört mir, und du hast ihn totgemacht.«
»Und weshalb soll der wohl dir gehören?«
»Weil ihn die Mutter gepflanzt hat! Für mich!«
Die Mutter. Daphne. In der Maisonne spürte Mildred ein kaltes Gerinnsel, das ihr den Rücken hinunterkroch. Aber die langen Wurzeln der Rose bewiesen doch, dass der Stock seit Jahrzehnten hier stand, und Daphne hatte zur Gartenarbeit keine Kraft gehabt. »Du lügst«, sagte sie zu Esther. »Und wer lügt, bekommt Strafe.«
»Ich lüge nicht. Die Mutter hat den blauen Mond für mich gepflanzt!« Mit nassem, verschlossenem Gesicht baute sie sich vor Mildred auf.
»Jetzt hör auf zu heulen!«, schrie Mildred.
Esther schüttelte den Kopf. »Kann ja nicht.«
»Herrgott, so schlimm war es doch nicht.«
»Doch«, sagte Esther. »Du hast meinen blauen Mond totgemacht.«
»Jetzt gib Ruhe, du Plage. Ich brauche den Platz für die Gäste, und hier sind Rosen ohne Ende, oder nicht? Wer in drei Teufels Namen hat dir eingeredet, dass ausgerechnet diese deine Mutter gepflanzt hat?«
»Die Mutter hat ihn gepflanzt«, beteuerte das Mädchen. »Die Großmutter Nell hat’s erzählt.«
Nell! Die Teufelin, die für Phoebe nie einen Blick übrig hatte, geschweige denn für die arme Georgia. Mildred biss die Zähne zusammen. Dann beugte sie sich zu Esther hinunter. »Hör zu«, sagte sie, »deine Großmutter ist alt, und alte Leute erzählen Kindern dumme Geschichten. Die Rose hat der Gärtner gepflanzt, sie war krank, und deshalb habe ich sie zerhauen. Jetzt geh und pass auf deine Schwestern auf. Und wenn nachher der Naschwagen kommt, kaufen wir Sahnebonbons für euch alle drei.«
Esther sah sie lange an, so dass Mildred glaubte, sich unter dem Blick der blauen Augen zu winden. Schließlich drehte Esther sich um und lief davon, wie Mildred es ihr befohlen hatte. Kurz vor dem Baum, unter dem Phoebe und Georgia warteten, drehte sie sich im Laufen um. »Will keine Bonbons«, rief sie leise, das Gesicht noch immer verweint.
Schon oft hatte Mildred sich vorgenommen, Nell zur Rede zu stellen. Das Haus gehörte ihr. Sie hatte keinen Grund mehr, sich vor irgendwem darin zu fürchten. Im Gegenteil. Hätte sie gewollt, so hätte sie alle Übrigen, auch die Alte, das Fürchten lehren können. Dennoch ließ sie sich von ihr mehr gefallen als von jedem anderen, womöglich, weil ihr ein Instinkt verriet, dass sie in ihr einen Gegner hatte, der ihr gewachsen war. Gewiss hätte sie sie auch diesmal davonkommen lassen, wenn sie ihr nicht über den Weg gelaufen wäre, solange ihr Zorn noch lichterloh brannte.
Nell, die alt wie die Sünde war und hilflos auf dem Tagesbett vor sich hin hätte röcheln sollen, trat kerzengerade und tadellos gekleidet aus dem Haus und trug einen schmiedeeisernen Tisch vor sich her. Priscilla folgte ihr mit dem dazugehörigen Stuhl und einem Sonnenschirm. Mildred hatte die Reste der Rose zusammengefegt und hielt inne. Bei der hohen Goldlackhecke, die wie Honig duftete, stellte Nell den Tisch ab. Priscilla rückte den Stuhl so davor, dass der Blick des Sitzenden auf den Springbrunnen traf, den Mildred im hinteren Teil des Gartens hatte errichten lassen. Aus dem Mund eines tanzenden Fauns sprudelte eine Wasserfontäne. Mildred war stolz auf den Brunnen, weil er, wie sie fand, ausgezeichnet zu dem Titanen-Fries über dem Portal passte. Sie hatte ein Vermögen dafür ausgegeben.
»Stellen Sie den Stuhl dort hinüber, Priscilla«, sagte Nell. »Auf dieser Seite kann ich nicht sitzen.«
»Aber auf der anderen Seite bekommen Sie die Sonne ins Gesicht«, gab Priscilla zu bedenken.
»Lieber lasse ich mir den Teint von der Sonne verderben als den Appetit auf meinen Tee von diesem Ausbund an Scheußlichkeit.« Sie wies auf den Springbrunnen und schüttelte sich pikiert.
»Sehr wohl, Madam.« Priscilla schob den Stuhl auf die andere Seite.
Mildred wartete, bis das Mädchen den Tee serviert und sich getrollt hatte, ehe sie den Kehrbesen zu Boden warf und an den Tisch stürmte. »Was fällt dir ein?«, schrie sie sie an. »Den Kindern, für die ich verantwortlich bin, solche Ammenmärchen zu erzählen?«
»Muss ich wissen, wovon du sprichst, Mildred?« Die Alte, die mit geziert gespreiztem Finger an einem Scone geknabbert hatte, blickte flüchtig auf.
»Von der verdammten Rose! Von dem total verwachsenen Stock, dem ich heute den Garaus gemacht habe und von dem Esther behauptet, ihre Mutter habe den eingepflanzt.«
Nell wandte den Kopf und sah in die Richtung, in die Mildreds Finger wies. »Erstaunlich«, bemerkte sie. »Ich hätte gewettet, dass selbst das primitivste Gemüt zu einer so barbarischen Tat nicht in der Lage ist, aber du hast es tatsächlich fertiggebracht. Du hast eine Rose in der Blüte zerhackt.« Sie sagte dies in einem Ton, den Menschen im Raritätenkabinett anschlagen, wenn der Anblick einer Missgeburt sie zwar ekelt, doch zugleich fasziniert.
»Die Rose war krank!«, schrie Mildred.
Die Alte hustete. »Natürlich war sie das nicht, das weißt du so gut wie ich.«
»Und überhaupt – was schert es dich? Es ist mein Garten, ich kann darin tun, was ich will.«
»Soso«, erwiderte Nell und nahm einen lächerlich winzigen Biss von ihrem Teekuchen.
»Ich verbiete dir, Unsinn über meine Schwester zu verbreiten und Esther Flausen in den Kopf zu setzen«, herrschte Mildred sie an. »Das Kind hat Unarten genug.«
»Hat es das deiner Ansicht nach? Nun, wir werden uns in diesem wie in den meisten Fällen darauf einigen müssen, uneinig zu sein.«
»Esther ist eigensinnig, ungehorsam und faul.«
»Interessant. Mir scheint sie verständig, bemüht und ein entzückendes Geschöpf zu sein, Gaben, mit denen ihre illegitimen Halbschwestern ja leider nicht gesegnet sind.«
»Phoebe ist …«
»Ja, ja, ich weiß.« Nell winkte ab. »Aber eine Ehe ohne Segen ist in unseren Kreisen nun einmal überhaupt keine Ehe.«
Sie hatte es Hyperion mehr als einmal gesagt: »Ich will in Sankt Thomas getraut werden wie jede Braut unseres Standes. Ohne kirchliche Trauung erkennt man unsere Ehe hier nicht an – und habe ich vielleicht weniger Recht darauf als andere?« In diesem Punkt aber blieb er stur, so wie er sein Schlafzimmer verschloss und sich von ihr nicht berühren ließ. »Herrgott, du glaubst doch ohnehin an keinen Gott«, hatte sie ihn angefahren, und er hatte, wie es ihr verhasst war, mit den Schultern gezuckt und sie gefragt: »Weiß man immer so genau, was man glaubt? Ich kann nicht noch einmal in einer Kirche getraut werden, Mildred, das ist das Einzige, was ich weiß.«
Das größte Ärgernis war, dass er sich nicht mehr erpressen ließ. Wenn sie ihm sagte, sie würde von dem geheimen Dokument Gebrauch machen, falls er sich ihrem Wunsch nicht füge, erwiderte er: »Dann wirst du das tun müssen, Mildred. Verdenken kann es dir kein Mensch.«
Sie hasste ihn mehr denn je. Sie liebte ihn mehr denn je. Der Kampf, den die beiden Leidenschaften sich unentwegt in ihrem Inneren lieferten, kostete sie jeglichen Frieden. Vielleicht war Hyperion vor den Augen anderer Menschen nicht einmal mehr schön, so übermüdet und ungepflegt, wie er herumlief. Für Mildred aber blieb er das schönste, begehrenswerteste Objekt auf der Welt. Er war ihr schöner, unnahbarer Eisblock. In einem Moment wollte sie die Axt in ihn hineinschlagen wie in den Stamm der Rose, und im nächsten wollte sie ihren warmen Leib an ihn schmiegen, um ihn zu schmelzen.
»Meine Ehe und meine Töchter gehen dich nichts an«, warnte sie Nell viel schwächer als beabsichtigt.
»Darin dürften wir endlich einmal einer Meinung sein«, entgegnete diese und nahm zwischen zwei Finger ein mit Gurke belegtes Butterbrot, das Brot wie Papier geschnitten und die Gurke so dünn, dass sie sich wellte. »Um ehrlich zu sein, deine Ehe und deine Töchter interessieren mich in etwa so sehr wie aller Reis in China. Meine bedauernswerte Urenkeltochter ist darin allerdings nicht eingeschlossen.«
Sie sind alle drei deine Urenkeltöchter, wäre Mildred um ein Haar herausgeplatzt. Zorn auf sich selbst verschnürte ihr die Kehle. So sehr sie die Hexe in ihre Schranken verweisen und von ihren Kindern fernhalten wollte, so sehr sehnte sie sich danach, sie möge ein einziges anerkennendes Wort über die Mädchen sagen. Gab Mildred sich nicht alle Mühe? Sie hatte ein Cembalo gekauft, sie hatte einen Lehrer engagiert und suchte bereits nach einem französischen Fräulein. Sie hütete die Kinder wie ihre Augäpfel, stattete sie aus wie Prinzessinnen und ließ sie nach den neuesten Erkenntnissen ernähren. »Wie Esther erzogen wird, bestimme ich«, sagte sie. »Deine Einmischung ist dabei nicht vonnöten.«
Nells scharfe Schneidezähne trennten eine Krume von der Brotscheibe. »Und darin sind wir wieder einmal einig, uneinig zu sein. Ich habe sehr wohl vor, mich in Esthers Erziehung einzumischen, und ob du dazu deine Zustimmung gibst, bedeutet mir, mit Verlaub, wiederum nicht mehr als Chinas Reis.«
»Ich warne dich! Du weißt nicht, wozu ich in der Lage bin.«
Die Alte tat etwas, das man bei ihr höchst selten sah – sie lächelte, was ihren winzigen Mund in ein Spinnennetz aus Falten senkte. »Arme Mildred«, sagte sie. »Ist zu so vielem in der Lage und doch völlig machtlos. Ich bin alt, meine Liebe. Weißt du eigentlich, was das für eine Freiheit verleiht? Was könntest du einer, die mit einem Bein im Grab steht, schon antun? Spiel dich nur auf, spreiz dein Gefieder wie ein Hähnchen, es rauscht an mir vorbei wie eure Eisenbahn, die sich irgendwann erledigt haben wird. Mir geht es allein um das Kind. Dass du es ständig in seiner Würde verletzt, kann ich nicht verhindern, aber es scheint mir eine Natur zu besitzen, die daran nicht zerbricht. Die feine Empfindsamkeit und den Liebreiz hat sie von ihrer Mutter und Amelia, doch von meiner Seite kommt eine gewisse Unverwüstlichkeit hinzu. Wenn ich ihr ein wenig das Rückgrat stärke, wird sie lernen, deine Schikanen wegzustecken.«
Mildred musste nach Atem ringen. Dass Nell Weaver ein Biest war, wusste sie seit langem, aber dass sie es offen eingestand, schlug dem Fass den Boden aus. »Hast du ihr deshalb eingeredet, ihre Mutter habe die gottverfluchte Rose gepflanzt?«, fragte sie.
»In der Tat.« Nell lächelte noch immer.
»Aber das ist eine Lüge!«
»Was du nicht sagst. Entspricht es vielleicht nicht der Wahrheit, dass Esthers Mutter eine zärtliche, vornehme Dame war, die ihr Kind liebevoll aufgezogen hätte, wäre ihr die Möglichkeit dazu nicht geraubt worden.« Mit einem Schlag schrumpfte das Lächeln ein. Der Blick, der Mildred traf, war prüfend und kalt, so dass sie hätte schreien mögen: Was unterstellst du mir? Aber eben das durfte sie nicht, es sei denn, sie wollte die Antwort hören. »Ich will, dass Esther um die Liebe ihrer Mutter weiß«, fuhr Nell mit stählerner Stimme fort. »Es wird sie stärken, so dass sie auf deine Zuneigung nicht länger angewiesen ist. Dass du meinen Enkelsohn im Inneren zerstört hast, habe ich hinnehmen müssen. Dass du meiner Urenkelin dasselbe antust, lasse ich nicht zu.«
Bis zu diesem Augenblick hätte Mildred geschworen, dass Nell nicht nur gleichgültig war, was mit Hyperion geschah, sondern dass sie sich sogar daran freute, wenn er gedemütigt wurde, weil sie ihn aus tiefstem Herzen verachtete. Wie konnte ausgerechnet sie Mildred vorwerfen, sie habe ihn zerstört – Mildred, die alles tat, um ihm ein Heim zu schaffen, ihm Kinder zu geben, auf die er stolz sein konnte, Mildred, die ihn mit einer Leidenschaft liebte, wie sie die arrogante Alte nie erlebt hatte. Auch all die blassen Amelias, Daphnes und Esthers hatten solche Leidenschaft nie erlebt, weil es dazu eines starken Herzens bedurfte. Von Mildred hätte Hyperion geliebt werden können, wie er nie geliebt worden war, unbedingt und allumfassend, so dass dieses Mal sein Göttergeschlecht nicht in Schönheit hätte sterben müssen, sondern als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen wäre.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Nell. »Dabei hätte ich gedacht, es ist unmöglich, dieses Mundwerk von dir, das man mit Seife hätte auswaschen müssen, zum Schweigen zu bringen.«
»Das ist es auch, du hässliche Vettel!«, zischte Mildred. »Du neidische Kröte! Du in Seide gewickelte Trockenpflaume!« Sollte die Alte doch gehen und sie bei Hyperion anschwärzen. Mildred würde alles abstreiten und beteuern, die arme Greisin verliere allmählich den Verstand.
Nell spitzte die Lippen, um Tee zu trinken. »Es ist ja nicht so, dass du mir nicht leidtust«, sagte sie, wandte langsam den Kopf und wies auf den plätschernden Springbrunnen. »Wie könnte einem jemand, der eine seltene Rose zerhackt und stattdessen den Garten mit einem solchen Monstrum verschandelt, nicht leidtun?«
»Was ist falsch an meinem Springbrunnen?«, hatte Mildred gefragt, ehe sie sich auf die Zunge beißen konnte.
»Alles, meine Liebe.« Wieder lächelte Nell. »Oder auch nichts, je nachdem, ob man ihn von oben oder von unten betrachtet. Er ist ein prächtiger Beweis für das Vorhandensein von reichlich Geld und völligem Mangel an Geschmack.«
»Du bist ein Snob!«, schrie Mildred.
»In der Tat«, erwiderte Nell. »Und du wärst auch gern einer. Leider wird man zum Snobismus geboren. Kaufen lässt er sich nicht, und wenn man noch so penetrant mit der Geldbörse klappert.«
»Wer hat die verdammte Rose gepflanzt? Meine Schwester nicht, also die heilige Amelia?«
»Mein Sohn«, erwiderte Nell. »Als Amelia mit Hyperion in der Hoffnung war. ›Ich habe nach den Sternen gegriffen und den Mond noch dazubekommen‹, hat er gesagt und die Mondrose gepflanzt, damit das himmlische Glück seines Hauses nie verlorenginge. Du hast sie ausgerissen. Du wirst schon wissen, warum.«
Mildred war keine Idiotin. Natürlich wusste sie, dass Nells Gerede dazu diente, ihr weh zu tun. Dennoch hatte ihr Hieb sie so tief getroffen, dass sie tagelang herumlief wie verletzt.
Es waren nicht wirklich die Worte der Alten, die den höllischen Schmerz verursachten, es war das Verhalten der Welt, das die Worte bestätigte. Hatte Mildred nicht alles getan, um die Anerkennung der Stadt zu erringen, hatte sie nicht gebuhlt und gebettelt, damit ihre Kinder den Platz in der Gesellschaft erhielten, der ihnen von Geburt her zustand? Sie hatte stolze Summen für den Hilfsfonds der Werftarbeiter und die neueröffnete Bücherei von Portsea gestiftet. Sie gab Feste im herrlichen Saal ihres Hotels, zu dem sie die Crème de la Crème einlud. Sie ritt nicht mehr im Herrensattel, nahm Sprechunterricht und führte die Kinder zur Kirche, aber die Stadt honorierte ihre Mühe mit Missachtung, zu ihren Festen erschienen nur Zugereiste und Touristen, und die Geselligkeiten in angesehenen Häusern blieben ihr verschlossen. Eine Einladung zum Geburtstagsfest von Nora Weaver erging allein an Esther. Gegen Tränen der Wut kämpfend, hatte Mildred sie ausgeschlagen.
Sie hatte Portsmouth von dem Moment an geliebt, in dem sie das erste Mal ihren Fuß auf seinen Boden setzte. So freundlich und im Handumdrehen zu erobern hatte die kleine Stadt auf sie gewirkt, doch unter der lächelnden Oberfläche besaß sie einen Kern aus Eisen, an dem Mildred sich die Stirn blutig schlug.
Sie hatte auch Hyperion beinahe vom ersten Moment an geliebt. Sie hatte ihm alles geopfert, und er lächelte freundlich und gab sich wie Wachs in ihren Händen, doch in seinem Inneren besaß er einen Kern aus Eisen, an dem Mildreds blutig geschlagene Stirn allmählich zerbrach. Sie taten beide dasselbe, Hyperion und seine Stadt: Sie zeigten Mildred auf ihre snobistische Weise, die nie fluchte und nie aus der Rolle fiel, dass sie auf ihre Liebe keinen Wert legten. Ich kann tun, was ich will, für die beiden wird es nie genügen. Ich gebe alles, und für sie ist es nichts. Sie lassen mir keine Chance.
An diesem Abend ging sie noch einmal ins Kinderzimmer und stand lange am Bett der schlafenden Phoebe, betrachtete das kleine, ein wenig nichtssagende Gesicht auf dem Kissen und schwor ihr: Was ich nicht haben kann, wirst du bekommen. Wenn sie es mich nicht erobern lassen, werde ich es für dich kaufen. Ich werde Geld wie Heu scheffeln, bis es nichts mehr gibt, das ich dir nicht kaufen kann – Anerkennung, Respekt, Würde. Und jeden verfluchten Mann, der dir gefällt.
Sie ließ den Springbrunnen herausreißen. Diskret erkundigte sie sich nach einer Beratung in Stilfragen und wählte künftig nicht mehr selbst aus, wenn sie Neuanschaffungen für das Hotel machte, sondern konsultierte ihren Berater. Die Saison des Jahres 1868 sollte den Erfolg der Vorjahre in den Schatten stellen. Jede Suite, jedes Zimmer hätte sie zweimal vermieten können, und viele der Gäste buchten für das kommende Jahr im Voraus. »Wir hatten das Victoriana im Auge, weil es für geschmackvolle Ausstattung bekannt ist«, vertraute ihr die Gattin eines Londoner Handelsmagnaten an. »Sie wissen schon, jene Art von Stil, die man nicht kaufen kann. Da wir mit unserer Buchung zu spät kamen, wichen wir zu Ihnen aus und wurden nicht enttäuscht. Ich wage sogar zu behaupten, an Erlesenheit und Klasse vermag Ihr Haus das Victoriana noch zu übertreffen.«
Erzählt mir nur immer weiter, dass man euren ach so einzigartigen Stil nicht kaufen kann, triumphierte Mildred im Inneren. In der Zwischenzeit nehme ich euch Geld ab und kaufe mir Berge davon. Sie würde wiederum anbauen müssen, sie würde die Reitbahn verkleinern und einen Tennisplatz anlegen lassen. Wenn die letzten Gäste abgereist wären, hätte sie Arbeit genug, um jeden Schmerz in ihr im Keim zu ersticken.