Kapitel 23

Mai

Nur zu gern hätte Hector Weaver die ihm verbliebene Hälfte an der Pension Milton’s Court an Victor März verkauft. Der Deutsche war gut in dem, was er tat, und er hatte zwei Kräfte, die ihn antrieben – seinen Wunsch, es zu etwas zu bringen, und seinen Hass auf Mildred Adams.

Mildred Adams hatte ebenfalls zwei Kräfte, die sie antrieben – ihren Wunsch, mit Fug und Recht Herrin auf Mount Othrys zu werden und zu bleiben, und ihren Hass auf Victor März.

Mit diebischem Vergnügen hätte Hector dabei zugesehen, wie diese Titanen zum Kampf antraten, wie sie sich gegenseitig zerstörten und einen Dritten, den, auf den es ankam, dabei mit ins Verderben rissen. Hector Weaver nämlich hatte auch zwei Kräfte, die ihn trieben: seinen Wunsch, alle anderen zu übertrumpfen, und seinen Hass auf seinen Bruder.

Dass März den Preis, den er so niedrig wie möglich angesetzt hatte, nicht zahlen konnte, bedeutete eine herbe Enttäuschung für ihn. Seit Monaten quälte ihn eine Unruhe, als hätten sich Ameisen seiner Blutbahnen bemächtigt und ließen ihm bei Tag und Nacht keinen Frieden. Er kannte dieses Gefühl, wenn auch nicht in solcher Heftigkeit.

Er hatte zu lange stillgehalten, zu lange nicht ausgeholt, um einen Coup zu landen. Die überwältigende Mischung von Erregung und Genugtuung hatte er zuletzt in der Winternacht am Strand verspürt, als er dem Boot zusah, das mit schwerfälligen Ruderschlägen hinaus aufs Meer trieb.

Wie lange war das her? Bald anderthalb Jahre? Schon damals hatte er gewusst, wie schwer es sein würde, den Rausch jener Nacht zu steigern. Natürlich würde er das unglaubliche Wissen, das er dort draußen erworben hatte, nutzen, doch zu früh verschießen durfte er das kostbare Pulver nicht. Der Verkauf der Pension hätte ein hübsches Zwischenspiel ergeben. Dem Duell der beiden zuzusehen hätte ihn über Monate unterhalten.

Da aber März ihn so bitter enttäuscht hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich so gut es ging bei Laune zu halten. Am Vormittag wohnte er der Züchtigung seines Sohnes bei, doch das Vergnügen daran war zweischneidig. Zwar geschah es dem nutzlosen Bengel, der die Mühe seines Vaters mit blödem Schweigen vergalt, nur recht, wenn er gehörig den Stock bekam, aber mittlerweile ließ sich nicht länger leugnen, dass bei Horatio selbst die gnadenlosesten Prügel nichts nützten. Der Junge war inzwischen fast acht Jahre alt und hatte bereits drei Erzieher verschlissen. Auch dieser neue, der ihm empfohlen worden war, schien nichts auszurichten. »Der junge Herr ist völlig verstockt«, hatte er bei seinem Einstand erklärt. »Dann nehmen Sie ihn härter her«, hatte Hector gebrüllt und zum Stock eine Peitsche angeschafft. Dem zum Trotz fürchtete er, dass das, was der Erzieher für Verstocktheit hielt, schlichte Idiotie war.

Äußerlich hatte Horatio sich verändert, doch hatte ihn das nicht ansehnlicher, sondern im Gegenteil noch hässlicher gemacht. Er war nicht länger kahl. Zu Hectors Entsetzen war das Haar, das ihm spitz in die Stirn wuchs, kohlschwarz wie sein eigenes. Das Fette, Aufgeschwemmte war verschwunden, stattdessen wirkte der Junge jetzt geradezu hager und hielt sich schlecht, auch wenn Hector ihn dafür in den Rücken schlagen und ihm Gewichte auf den Kopf legen ließ. Vermutlich würde er so gebeugt wie sein Vater enden. In seinem Gesicht war nichts Kindliches mehr, es wirkte auf Hector verschlagen und gemein. Die pfeifenden Hiebe steckte er ein, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur der Schweiß, der ihm auf der Stirn ausbrach, verriet, dass er sie überhaupt spürte.

Sooft Hector sich dessen bewusst wurde, fragte er sich, ob es keine Gerechtigkeit auf der Welt gab? Der einzige Trost war, dass sein Bruder seinen makellosen Sohn verloren hatte und stattdessen mit zwei Töchtern geschlagen war – einem bleichen Geschöpfchen, das kaum zehn Jahre alt werden würde, und einem derben, unhübschen Bankert. Hectors eigene Tochter Nora war ebenfalls unhübsch, aber sie würde ihren Ruf und ihre Mitgift haben, um das auszugleichen.

Hyperions Balg hingegen würde niemand ansehen. Das Verschwinden seiner allseits beliebten Frau und die Tatsache, dass er in wilder Ehe mit deren Schwester lebte, hatte das Ansehen seines Bruders zerstört. Soweit Hector wusste, hatte Hyperion keinen einzigen Patienten mehr, sondern arbeitete für einen Hungerlohn im Spital. Der ganze Haushalt lebte von der Hand in den Mund – von Mildreds Hand, der es gelungen war, aus ihrem winzigen Hotel einen Geheimtipp zu machen. Und zumindest diese Suppe konnte Hector ihr auch ohne Hilfe von Victor März versalzen. Mit den paar Zimmerchen konnte sie unmöglich genug einnehmen, um die Schuldscheine auszulösen, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Vor zwei Wochen war er schon einmal da gewesen, um Mildred, die so gern die Unerschütterliche spielte, einen Schrecken einzujagen. Heute würde er seinen Bruder persönlich aufsuchen und ihm klarmachen, dass sein Lotterleben demnächst kein Dach mehr hätte, um es zu beherbergen.

Im Empfangsbereich des Spitals stank es beißender als in den Gassen der Gewürzinsel, und das Pack, das sich hier herumtrieb, machte das Gesindel um Milton’s Court zu Ehrenmännern. Wieder einmal fragte sich Hector, was eigentlich mit seinem Bruder, diesem gehätschelten Götterliebling, nicht stimmte, dass er an solchem Ort sein Leben verschleuderte. War ihm nicht alles in den Schoß gefallen, was ein Mensch sich nur wünschen konnte? Was befiel einen Mann, damit er Harmonie und Frieden von Mount Othrys gegen diese stinkende, kreischende Hölle tauschte? Hector musste seinen Ekel überwinden, ehe er einen jungen Kerl im schmutzigen Mantel ansprach und nach seinem Bruder fragte. Immerhin trug der Mann ein Stethoskop um den Hals und gehörte somit offenbar dem Ärztestab, nicht dem Haufen der Patienten an.

»Dr. Weaver ist im Operationssaal«, beschied ihn der Schmutzige und wollte weitereilen. »Von dort kann er jetzt nicht geholt werden.«

»Es ist dringend«, versetzte Hector und stellte sich ihm in den Weg.

»Das glaube ich Ihnen gern«, erwiderte der Schmutzige. »Aber Leben und Tod sind immer dringender, Sie verstehen? Ich werde dafür sorgen, dass Dr. Weaver informiert wird, sobald die Operation beendet ist.«

Hector unterdrückte einen Fluch. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in einen Winkel zu zwängen, in dem ihm die stöhnenden Patienten nicht allzu nahe kamen, und zu warten.

Sein Bruder erschien eine gute halbe Stunde später. Hatte Hector den Mantel des anderen Arztes schmutzig genannt, so fehlte ihm jetzt ein Wort zur Beschreibung. Der Mantel, den Hyperion trug, war vom Saum bis zum Kragen blutverschmiert. Einige Spritzer zierten seine Wangen, und eine Strähne seines schönen Haars war schwärzlich verklebt. »Bitte entschuldige, Hector«, sagte er und hob die Hände, die als Einziges an ihm blitzsauber und wund gewaschen waren.

»Was hast du denn gemacht? Ein Schwein geschlachtet?«

»Eine Schilddrüse entfernt«, antwortete Hyperion. »Wie die Frau mit den Folgen leben kann, bleibt fraglich, aber an dem Knoten so knapp vor der Luftröhre wäre sie erstickt.«

Hector hatte das Gefühl, auch ihm schnüre ein Knoten die Luft ab. »Ich wäre dir dankbar, wenn du Einzelheiten für dich behalten könntest. Ich finde dieses Ambiente nicht eben appetitlich.«

»Das geht den meisten so«, sagte Hyperion. »Gehen wir in den Park? Dort fällt dir das Atmen leichter.«

Das, was er Park nannte, war eine zertrampelte Grünfläche zwischen zwei Gebäuden, auf der Frischverbundene und von Hustenanfällen Geschüttelte umhertaumelten. Immerhin war die Luft nicht mehr so dick, und der Gestank ließ sich ertragen. »Schämst du dich eigentlich manchmal?«, fragte er seinen Bruder. »Für das, was aus dir geworden ist, nach allem, was aus dir hätte werden können?«

»Unablässig«, antwortete Hyperion. »Aber hier weniger als irgendwo sonst.«

»Das begreife, wer will«, brummte Hector. »Ich bin, wie du dir denken kannst, nicht ohne Grund in dein Prinzenschloss gekommen. Um nicht um den heißen Brei herumzureden – es geht um diese Kleinigkeiten hier.« Damit zog er die Schuldscheine aus der Aktenmappe und hielt sie Hyperion hin. »Du erinnerst dich? Ich habe dir geraten, vorbereitet zu sein, wenn ich damit vor deiner Tür erscheine. Ich hoffe, du hast dich an meinen Rat gehalten?«

Hyperion warf einen Blick auf die Scheine und sagte: »Nein, ich habe mich nicht daran gehalten. Wie lange gibst du mir, um dich auszuzahlen?«

Hector hatte vieles erwartet – Betteln, Flehen, Weinen, als wäre Hyperion noch immer der verzärtelte Liebling seiner Mutter, dem die Tränen schossen, sobald jemand ihn ausschimpfte. Nicht erwartet hatte er die völlige Gleichgültigkeit, mit der sein Bruder ihm die Frage stellte.

»Nicht lange«, knurrte er zurück. »Schließlich lebe auch ich nicht von Luft und Liebe, und die meisten dieser Schulden sind Jahre alt.«

»Natürlich.« Hyperion nickte. »Es tut mir leid, Hector. Ich werde mein Haus verkaufen müssen, und das dauert seine Zeit.«

Hector hielt den Atem an. Sein Bruder sprach vom Verkauf des Heiligtums, für das er einst alles gegeben hätte, als ginge es um ein nicht mehr benötigtes Kleidungsstück. »Mount Othrys?«, entfuhr es ihm. »Du willst das Haus deiner Mutter verkaufen?«

»Mir wird nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte Hyperion noch immer in völlig unbeteiligtem Ton. »Ich kann nur hoffen, dass der Erlös es mir ermöglicht, Mildred, Nell und die Kinder angemessen unterzubringen. Aber das soll nicht deine Sorge sein. Du hast mich gewarnt, und ich habe nichts daraus gelernt. Die Suppe, die ich mir eingebrockt habe, werde ich selbst auslöffeln müssen.«

»Deine Großmutter löffelt sie mit dir aus«, versuchte Hector ihn zu reizen. »Und das Kind, das deine Frau dir hinterlassen hat, nicht minder.«

»Ja«, sagte Hyperion. »Das tut mir in der Seele weh, und dasselbe gilt für Mildred und Georgia, die keine Menschen zweiter Klasse sind, nur weil ich sie schlecht behandelt habe. Im Übrigen wäre ich dir dankbar, wenn du deine Frau anweisen könntest, Mildred nicht mehr zu beleidigen.«

»Sie soll Mildred nicht beleidigen?« Hector war fassungslos. »Dass du nicht bei Trost bist, war mir ja seit langem klar, aber das geht zu weit. Diese Mildred kann man überhaupt nicht beleidigen. Was immer man sie schimpft, ist noch zu gut für sie. Du hast alles, was du besessen hast, deine Frau, deinen Sohn, deinen Ruf, an diese Mildred verloren und verteidigst sie? Und von mir und Bernice verlangst du, dass wir zu solchem bösen Spiel noch gute Miene machen? O nein, mein Bester, damit hast du dich geschnitten. Was glaubst du wohl, was wir uns von meinem Schwager, dem Port Admiral, anhören müssen wegen des Skandals, den du uns aufgehängt hast? Damit du es weißt: Zu dem bösen Spiel, das meine Mutter trieb, machte auch niemand gute Miene, und ich habe Jahre gebraucht, um mich aus diesem Sumpf herauszurackern. Das werde ich mir von dir und deiner Hure nicht kaputt machen lassen, und meiner Frau werde ich nicht den Mund verbieten, wenn sie sich darüber empört.«

»Mildred ist keine Hure«, sagte Hyperion ruhig. »Warum wird für das, was ein Mann ihr antut, immer die Frau bestraft? Dass ich meine Familie verloren habe, habe ich mir selbst zuzuschreiben, und dass ich jetzt mein Haus verliere, ebenfalls. Mildred trifft keine Schuld. Sie tut, was sie kann, um den Kindern ein Heim zu geben.«

»Das ihnen nicht mehr lange bleiben wird!«, höhnte Hector. Die Ruhe seines Bruders brachte ihn so außer sich, dass er wie als Junge mit den Fäusten auf ihn hätte losgehen mögen.

»Nein, es wird ihnen nicht mehr lange bleiben«, sagte Hyperion. »Glücklicherweise ist für die Mitgift der Mädchen gesorgt. Kannst du mich jetzt bitte entschuldigen, Hector? Du hast gesehen, was am Empfang los ist. Wir haben zu wenig Leute, wir können niemanden entbehren.«

»Du willst dorthin zurück?« Hector starrte seinem Bruder in das vollkommen geschnittene Gesicht. »Du weißt, dass du in ein paar Tagen dein Haus verlierst, und dir fällt nichts Besseres ein, als zurückzugehen und noch mehr Säufer und Tagediebe aufzuschlitzen, ohne einen Penny zu verdienen?«

»Nein«, sagte Hyperion und wandte sich zum Gehen. »Mir fällt nichts Besseres ein. Auf Wiedersehen, Hector.«

»In vier Wochen will ich mein Geld«, schrie er und hasste sich, weil er es war, nicht sein Bruder, der sich hinreißen ließ.

»Du hast mein Versprechen«, sagte Hyperion und ging mit gesenktem Kopf zurück in das Gebäude.

Hector stand wie gebannt und starrte ihm nach. In seinem Rücken hörte er ein paar Frauen kichern. Er hätte sich umdrehen und einer von ihnen die Luft abdrücken mögen.


Mildred hatte ihn nicht erwartet. Selbst wenn sie ihm eine Nachricht sandte und ihn nach Hause beorderte, wagte sie nicht mehr damit zu rechnen, dass er kam. Sie hatte die Last des Alltags zu tragen, die plärrenden Kinder zu versorgen, die Rechnungen zu begleichen und der feindlichen Welt ihr Gesicht entgegenzuhalten, ohne auf Lohn zu hoffen, ein lobendes Wort oder auch nur ein Lächeln, geschweige denn eine Geste. Sie hatte einen Mann geliebt und ihn in den Armen gehalten, sie hatte diesem Mann ein Kind geboren und war nicht älter als fünfundzwanzig, doch an den Abenden, die sie allein in der Bibliothek verbrachte und auf die endlosen Reihen der Buchrücken starrte, ohne etwas zu lesen, kam sie sich vor wie eine alte Frau, weggeworfen, allein, von niemandem geliebt.

Auch nicht von den Kindern. Die kleine Esther hatte Angst vor ihr, wie Daphne vor allem und jedem Angst gehabt hatte. Und Georgia war zufrieden, wenn sie etwas Essbares bekam, ganz gleich, wer ihr den Mund damit stopfte. Sie war ein plumpes, grobes Kind, ihrer Mutter aus dem Gesicht geschnitten, ohne eine Spur von der Schönheit des Vaters. An einem Klavier konnte man sie sich unmöglich vorstellen, weit eher Esther, die offenbar schnell lernte. Aber was ihre Tochter nicht bekam, würde Daphnes Tochter auch nicht bekommen. Mildred biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten, und ballte die Hände zu Fäusten. Warum ist alles, was ich wollte, dir zugefallen, warum setzt es sich jetzt sogar bei unseren Töchtern fort?

Als sie hörte, wie die Räder des uralten Phaetons, den das Spital Hyperion zur Verfügung stellte, auf dem Pflaster knirschten, sprang sie auf und rannte in die Halle. Sie verachtete sich, weil sie nicht verbarg, wie bedürftig sie war. Sie würde ihn dafür büßen lassen, aber dass ihr Herz vor Freude hochschlug, konnte sie nicht verhindern. Er hatte einen abgetragenen Anzug an und sein Haar nicht gekämmt. Hätte er nicht Angst vor irgendwelchen Infektionen gehabt, hätte er vermutlich den verdreckten Operationsmantel anbehalten. An den eleganten Mann im Cutaway, der an Daphnes Seite im Portal gestanden hatte, durfte sie nicht denken. »Du siehst jämmerlich aus«, sagte sie, statt ihm guten Abend zu wünschen.

»Das scheint mir angemessen«, erwiderte er und strebte geradewegs auf die Waschschüssel zu.

»Statt dir die Haut von den Händen zu schaben, könntest du dich gelegentlich kämmen«, versetzte sie.

Er drehte sich im Händewaschen um und sandte ihr eines jener traurig-verlorenen Lächeln, für die sie ihn hätte ohrfeigen mögen, ohne den Wunsch bezähmen zu können, ihn zu küssen.

»Das Abendessen ist abgetragen. Aber du kannst ja mit Sarah reden, vielleicht richtet sie dir noch etwas.«

Hyperion schüttelte den Kopf. »Was ich dir zu sagen habe, verträgt kein Essen. Nur Whisky, wenn es dir recht ist. Gehen wir in die Bibliothek?«

Sie hätte es sich denken können. Er kam nicht zu ihr, weil er ihre Gesellschaft oder die seiner Kinder vermisste, er hätte Georgia vermutlich auf der Straße nicht erkannt. Er kam, um ihr schlechte Nachrichten zu bringen, aus keinem anderen Grund. Mit einem Schlag wusste sie, was er ihr zu sagen hatte, und begriff auch, dass sie es seit langem hätte wissen können. Seit Hector Weaver hier gewesen war und es mit seinen Blicken vorweggenommen hatte. In ihrer Brust und bis in ihre Eingeweide wurde alles kalt. Ich werde es dir nicht erlauben, war alles, was sie dachte. So, wie sie wusste, was auf sie zukam, wusste sie auch, was sie zu tun hatte.

Sie ging in die Bibliothek und schenkte sich ein Glas ein. »Nimm dir, was du willst«, sagte sie mit einem Kopfschwenk in Richtung Karaffe, als wäre er ein Diener, dem sie ausnahmsweise einen Drink erlaubte.

Er nahm sich nichts. Seine Feigheit war ohnegleichen. »Ich muss das Haus verkaufen«, sagte er. »Ich habe Schulden, die mein Bruder mir nicht länger stundet. Es tut mir leid, Mildred. Ich werde so gut ich kann dafür sorgen, dass du und die Kinder ein Auskommen haben.«

Mildred, die sich nicht gesetzt hatte, um auf Augenhöhe mit ihm zu bleiben, sah ihm kalt zu, wie man ein Tier beobachtet, ehe man es fängt und quält. »Und was ist mit deiner Großmutter?«, fragte sie, obgleich es nichts Übles gab, das sie der Alten nicht an den Hals wünschte. »Und wohin gehst du?«

»Ich kann ein Zimmer im Spital beziehen«, erwiderte er. »Und was meine Großmutter betrifft, so hoffe ich, dass mein Bruder sie aufnimmt. So wenig grün die beiden sich sind, findet mein Bruder wohl ebenso viel Genugtuung darin, mir Nell wegzunehmen wie das Haus. Es sei ihm gegönnt. Er hat hart genug dafür gekämpft.«

»Soso«, sagte Mildred und trank einen Schluck Whisky. »Er hat also hart dafür gekämpft. Was ist eigentlich hart daran, in einem Haus wie diesem aufzuwachsen, selbst wenn man nicht das verwöhnte Lieblingssöhnchen ist? Was ist hart daran, von einem Hauslehrer Unterricht zu erhalten und als Mitglied der Gesellschaft akzeptiert zu werden, ohne einen Finger zu krümmen? Ist es hart, vom Vater ein blühendes Unternehmen zu erben, das man schröpfen kann, bis es einem gefällt, es aus Rache an seinem Bruder in den Ruin zu treiben? Möchtest du vielleicht mit mir nach London reisen, nicht um an hochgestochenen Kongressen teilzunehmen, sondern um dir anzusehen, wo ich aufgewachsen bin? Ich könnte dir beibringen, wie man hart für etwas kämpft, aber du bist ja viel zu sehr in deinem Selbstmitleid gefangen, du hast nicht einmal einen Blick dafür.«

»Bin ich das?« Er stand hinter dem Stuhl, wie sie hinter dem Sessel stand, zwei Krieger, die sich in ihrer Deckung verschanzten. »Vermutlich hast du recht. Es tut mir leid, dir das Haus zu nehmen, Mildred. Du hast es mehr verdient als wir alle.«

»Gut, dass du das erkennst. Wäre ich nicht gewesen, hättest du es schon vor Jahren verloren. Es gehört mir, nicht dir.«

»Ja, das tut es. Aber es nützt nichts.«

»Doch«, fuhr sie ihn an, »mir nützt es, denn wenn es mir gehört, kann ich damit tun, was ich will, und das Letzte, was ich will, ist, es Hector Weaver zu geben.«

»Ich fürchte, wir haben keine Wahl. Mein Bruder hat von mir unterzeichnete Schuldscheine. Ich kann dafür ins Schuldgefängnis gehen, wenn dir das eine Befriedigung ist, aber das Haus erhält uns das noch lange nicht.«

»O ja, das wäre mir eine Befriedigung.« Tief in der Kehle lachte Mildred auf. »Es würde dir gut bekommen, weißt du das? Schlafen im Dreck, zum Trinken Wasser, das wie Hundepisse schmeckt, zum Frühstück Schläge und weit und breit nicht die kleinste Schüssel, in der du deine kostbaren Hände seifen kannst. Es würde dich womöglich lehren, mit dem, was andere Menschen sich bitter erarbeitet haben, nie mehr leichtfertig umzugehen. Womöglich würde es dich aber auch gar nichts lehren. Und womöglich würde ein Schwächling wie du nicht länger als vier Wochen überleben, wenn man ihm ein bisschen härter zusetzt.«

Sie umfasste sein Gesicht mit ihrem Blick, damit ihr nicht entging, wenn ihre Hiebe trafen, doch sein Gesicht verriet keine Regung. »Ich will mich nicht davor drücken«, sagte er. »Aber letzten Endes fällt auch das wieder auf dich und die Kinder zurück. Ich verliere meine Ehrenrechte und meine Stellung im Spital, und aus dem Erlös des Hauses müssen wir noch die Kosten des Prozesses bestreiten. Ich hätte dann überhaupt keine Möglichkeit mehr, für euch zu sorgen.«

»Du könntest mir das Haus überschreiben«, sagte sie.

»Das darf ich nicht. Ich kann nicht Besitz weggeben, mit dem ich meinen Gläubiger auszahlen könnte.«

»Tu es trotzdem«, erwiderte Mildred. »Tu es zwischen uns. Ich werde das Dokument nur präsentieren, wenn ich dazu gezwungen bin, und keiner als wir beide wird wissen, dass das Haus dir nicht mehr gehört. Überschreib es mir, und ich rette es dir. Und das Schuldgefängnis erspare ich dir auch, selbst wenn du es hundertmal verdienst.«

Ihr Herz schlug. Wenn er jetzt einwilligte, hielt sie ihren Traum in der Hand, und niemand, weder der Teufel Hector noch die Nattern, die sich im Ort die Mäuler zerrissen, oder der Gernegroß Victor März konnte ihn ihr je wieder wegnehmen. Es bedurfte nur eines Wortes, und sie würde alles besitzen, wie sie es sich nächtelang erträumt hatte – und doch sah sie ihm in die Augen, verlor sich in dem schillernden Grau, der Schönheit, die immer traurig war, und verspürte von neuem das verhasste Begehren. Hatte sie sich jemals so machtlos gefühlt?

»Glaub mir, ich täte nichts lieber als das«, sagte er. »Wenn du willst, versuche ich das Haus noch einmal zu beleihen, aber ich nehme nicht an, dass das Aussicht auf Erfolg hat, und außerdem würde es uns höchstens über ein paar Wochen retten.«

Mildred sah von ihm weg und setzte sich, weil sie spürte, wie ihr die Beine schwach wurden. »Nicht du wirst das Haus beleihen«, sagte sie, »sondern ich. Und es wird auch kein Haus mehr sein, wenn ich morgen auf die Bank gehe und den Herren die Beteiligung an einem Geschäft anbiete, sondern das Grandhotel Mount Othrys. Nein, hol nicht Luft, um über die Entweihung aufzujaulen. Du bist nicht mehr in der Position, Wünsche zu äußern, mein Lieber. Stattdessen solltest du froh sein, wenn ich dafür sorge, dass wir im Altenteil komfortabel unterkommen. Ein Gebäude von der Größe würde in Whitechapel viermal so viel Menschen Unterschlupf bieten, also wage nicht, dich zu beklagen. Nachdem du im Schuldgefängnis gesessen hättest, wärst du nämlich nichts Besseres mehr als die Leute aus Whitechapel.«

»Ich beklage mich nicht«, sagte Hyperion. »Und ich habe, ob du es glaubst oder nicht, nie angenommen, etwas Besseres als irgendein anderer zu sein. Das, was du vorhast, funktioniert trotzdem nicht, weil die Banken nicht mit dir verhandeln werden.«

»Du wirst mir Vollmachten ausstellen«, erwiderte sie. »Überhaupt will ich, dass du mir jeden Fetzen Papier, der unsere Finanzen betrifft, übergibst. Auch das Testament deines Vaters und die obskuren Verfügungen, die Fergus Vernon aufgesetzt hat. Alles andere kannst du mir überlassen. Geh in dein Spital und suhle dich in den Ausdünstungen, die du so sehr liebst. Um unser Leben zu ordnen, brauche ich dich nicht.«

»Aber du bist doch eine Frau!«, stammelte Hyperion verblüfft.

Mildred lachte auf. »Bin ich das tatsächlich? Und ist es dir tatsächlich aufgefallen?«

»Mildred, ich …«

Sie blickte auf. Er stand noch immer hinter dem Stuhl und sah zu ihr hinunter. Seine Lider mit den aufgebogenen Wimpern flatterten. »Du magst für uns alle nichts empfinden«, sagte sie, »aber ich habe immerhin die Pflicht, diesen beiden Mädchen eine Zukunft zu sichern. Der einen, die ich geboren habe, ob ich es wollte oder nicht, und der anderen, die ich als das Letzte betrachte, was mir von Daphne geblieben ist.«

Diesmal hatte sie getroffen. In seinen Augen zuckte es, doch der Triumph, den sie sich ausgemalt hatte, blieb aus. Noch immer konnte sie sich nicht helfen – sie tat ihm weh, weil sie ihn nicht liebkosen durfte, und ihn leiden zu sehen presste ihr das Herz zusammen. »Sprich mit mir«, herrschte sie ihn an.

»Was soll ich denn sagen, Mildred?«

»Dass du einverstanden bist. Dass du mir freie Hand lässt.«

»Das habe ich doch schon einmal getan. Natürlich hast du freie Hand. Wie du richtig bemerkst, bin ich nicht mehr in der Position, gegen irgendetwas Einspruch zu erheben. Ich gehe dann und bereite die Papiere vor, ja? Da ich selbst von der Materie so erschreckend wenig verstehe, habe ich einiges Raymond Nettlewood, dem Buchhalter meines Vaters, übergeben. Ich werde ihn morgen früh bitten, dich in alles einzuweisen.«

Noch einen Herzschlag lang sah er sie an, dann wandte er sich zum Gehen. In dem einen Moment aber glaubte sie, in seinem Blick ein Bitten zu erkennen. Sie sprang auf. »Bleib!«, rief sie ihm nach.

Er drehte sich um. Mit schweren, langsamen Schritten ging sie auf ihn zu. Er hielt ihr die Hände entgegen, die nach oben gedrehten Gelenke, als wäre sie gekommen, um ihn seiner Bestrafung zuzuführen. Mildred sah auf die blau sich zeichnenden Adern, in denen sein Blut klopfte. In einem Gefängnis hätte all das binnen Tagen seinen Zauber verloren – die zarten, exquisiten Gelenke, die eleganten, wenn auch wund gewaschenen Hände, das herzzerreißend schöne Gesicht. Ich lasse es niemals zu, begehrte eine Stimme in ihr auf. Sooft ich dich kränke, ich werde nie erlauben, dass ein anderer es tut. Sie nahm seine Hände in die ihren und führte sie an ihre Lippen, küsste die offenen, blutigen Stellen. Dann zog sie sein Gesicht so nah an ihres, dass ihre Stirnen sich berührten.

»Mildred«, flüsterte er gequält.

Beschwor er, bat er sie? Wieder einmal schien alles andere ausgelöscht, nur der Wunsch, es ihm zu sagen, loderte in ihr auf. Ich liebe dich, Hyperion, ich habe dich immer geliebt. Unter all deinen Schwächen und Fehlern sehe ich noch immer einen Mann, der für die Niederungen der Welt zu edel, zu empfindsam und zu kostbar ist.

»Mildred«, wiederholte er, jetzt ohne Zweifel bittend.

Nein, ich werde es dir nicht sagen. Nie wieder, solange du es mir nicht sagst. Sie legte die Arme um ihn und küsste ihn auf den Hals. Ich werde dir gar nichts sagen. Nur dich dazu bringen, mir ein Kind zu machen. Wenn ich deinen Sohn in mir trage, wirst du dich zu mir bekennen, und wenn sich das Klatschvolk der Stadt die Mäuler zerreißt, stelle ich mich vor dich und schütze dich. Wir können nichts ungeschehen machen, Hyperion, aber wir können noch immer manchmal vergessen. Glücklich sein. Einander geben, was uns die Welt verwehrt.

Ehe er noch einmal Mildred sagen konnte, presste sie ihre Lippen auf seine und küsste ihn. Mit einem Auge schielte sie dabei nach dem Whisky, der ausreichen würde, um seine Skrupel zu ertränken.

Die Mondrose
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