39

Wie angewurzelt stand Lily da, benommen von zu vielen Enthüllungen, zu vielen Ereignissen, die zu schnell auf sie eingestürzt waren. Die Gefahr, in der Isen war, erkannte sie erst, als Rule zu rennen begann.

Dann verstanden auch ihre Füße, und sie sprintete los.

Was dachte der dumme Mann denn, was er gegen die Chimei ausrichten konnte? Er konnte sie weder schlagen noch erstechen, noch beißen, noch fesseln – eigentlich war auch Lily nicht fähig dazu. Aber wenigstens hatte die Magie der Vogelfrau keine Wirkung auf sie.

Doch wie sie diesen Schutz nutzen konnte, um Isen zu helfen, wusste sie nicht.

Natürlich war Rule als Erster dort. Schlitternd kam er zum Stehen und fiel auf die Knie. Erst einige Augenblicke später war Lily nah genug, um zu sehen, was geschah.

Isen lag auf dem Rücken, die Augen geöffnet. Weißer Nebel, dessen Umriss seltsam klar war, lag auf seinem Gesicht wie ein glitzerndes, durchsichtiges Leichentuch. Seine Brust hob und senkte sich nicht. Er atmete nicht mehr.

Rule wollte dieses Andersartige wegdrücken, aber seine Hände glitten jedes Mal ab, als sei Kun Nu Eis, nicht Nebel. „Ich bekomme sie nicht von ihm herunter, verdammt. Es geht einfach nicht.“

Lily ging in die Hocke und versuchte es ebenfalls, doch es war zwecklos. Sie spürte die Oberfläche des Dings, glitschig und leicht kühler als ihre eigene Haut. Unbeweglich, als wäre es so schwer wie ein großer Felsbrocken, nicht wie ein Vogel. „Mist! Los, geh runter von ihm, geh runter.“

„Er atmet nicht“, sagte Rule. „Sie ist in seiner Kehle. Sie ist in seiner Lunge, verdammt. Sam – tu etwas. Halte sie auf.“

Es gibt nur eine Möglichkeit, sie aufzuhalten, erwiderte Sam. Und mir ist sie verschlossen.

Das konnte nicht sein. Lily durfte es nicht zulassen. Wut stieg in ihr hoch, nahm ihr die Luft, als wenn sie diejenige wäre, der ein anderes Wesen in der Kehle steckte – und mit der Wut kam die Erinnerung, schwach und unklar. Schon einmal hatte sie jemanden davon abgehalten, Magie zu nutzen, um etwas zu zerstören. Aber sie wusste nicht mehr, wie, verdammt, konnte sich nicht mehr erinnern, was sie getan hatte.

„Verdammt“, keuchte sie, „wenn ich mit Drachen verwandt bin …“ Drachen saugten Magie auf.

Meine Enkelin-durch-Magie, hatte Sam gesagt.

Es gibt zwei Arten, jemandem die Kraft zu nehmen, hatte die Chimei gesagt. Die eine geschieht freiwillig. Die andere nicht.

Lily legte die Hände flach auf das kühle, weiße Andersartige. Und zog.

Aber dies war keine wahnsinnige menschliche Hexe mit einer Erdgabe, die sich willentlich verbrannte, weil sie etwas zerstören wollte.

Dies war Kraft von ganz anderer Art.

Lilys Hände sanken in das Weiß. Und Kraft schoss ihr die Arme hinauf, entsetzlich, heiß und eisig und alles auf einmal – jede Art von Empfindung auf einmal, alle Arten von Magie, die sich zu Dimensionen ausdehnten, so fremd, dass Lily nicht begriff, was sie da berührte, was sie festhielt …

Was sie festhielt. Denn die weiße Masse kam nun aus Isen heraus und strömte über Lilys Arme. Dort vor Lily schwebte sie, sie festhaltend – und formte einen Mund.

Dieser obszön weibliche Mund zischte: „Hast du gedacht, du könntest mir meine Kraft nehmen, kleiner Mensch? Oh, du hast mich überrascht mit deinem Trick, aber du bist keine Drachin, und der männliche Mensch, der meinen Johnny verraten hat, ist tot. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen, bevor du mich mit deinem Trick abgelenkt hast. Jetzt werde ich dein Herz anhalten und das deines Geliebten. Ich werde euch alle langsam töten und eure Angst essen, während ihr sterbt.“

„D-das darfst du nicht. Das Abkommen –“

„Arme, dumme, kleine Nicht-Drachin. Du hast das Abkommen gebrochen. Als du versucht hast, mir ohne meine Einwilligung meine Kraft zu nehmen, hast du es gebrochen.“ Und sie schwärmte Lilys Arme hoch, über ihre Schultern – Lily holte tief Luft und hielt sie an, als das kühle, weiße Andersartige sich auf ihr Gesicht legte.

Über ihnen begann Sam zu singen.

Die Töne eines Drachenliedes sind anders als jeder andere Laut. Rule hatte es einmal mit einem Didgeridoo verglichen, dem hohlen Instrument der australischen Ureinwohner. Lily hatte Aufnahmen von einem Didgeridoo gehört, und tatsächlich klangen sie ein bisschen wie ein Drachenlied – und doch auch wieder ganz anders.

Zur selben Zeit, als etwas Kühles und abstoßend Festes in Lilys Nase und in ihr Innerstes hinunterfloss, strömte auch das Drachenlied in sie ein. Durch ihre Ohren und eine Öffnung, die über ihre Ohren weit hinausging.

In diesem Lied hörte sie Dinge, die sie allein kannte. Die sie ausmachten.

Woher weißt du es?, fragte sie, während die Welt vor ihrem Auge grau und trüb wurde und ihre Lunge sich mit der erstickenden Andersartigkeit füllte. Woher weißt du es?

Mein Kind, sagte er, und seine Stimme war so sanft wie nie, zärtlich und volltönend und ganz nah. Ich habe dich in den Armen gehalten, als du gestorben bist. Wie könnte ich deinen Namen nicht wissen?

Und dann sagte er Worte, die Eiseskälte in sich bargen, die kälter waren als irgendetwas anderes auf der Welt, und sie durchdrangen sie, schnitten tief in ihr Herz hinein.

Erinnere dich.

Sie sprang von der Klippe – aus freien Stücken, aber nicht heiter, denn ihr Herz war in Aufruhr vor Liebe und Trauer über das, was sie aufgegeben hatte, ihr Kopf leer vor Entsetzen über das, was sie getan hatte.

Die Chimei in Lily erschauderte. Und begann sich zurückzuziehen. Erst langsam, dann schneller.

Lily fiel und fiel – so wie in ihren Träumen. Aber dies war kein Traum, dies geschah wirklich, in diesem Moment – die Luft, die an ihr vorbeizischte, in ihren Augen brannte. Ihr Körper drehte sich hilflos.

Das Weiße verließ ihre Lunge, ihre Kehle. Ihre Nase. Ihre Brust hob sich, als sie tief einatmete. Nein, sagte sie zu der Chimei, ohne die wertvolle Luft zu verschwenden – aber sie sagte es sanft, weil sie es wusste. Sie wusste, was sie tun musste.

Lily – die ganze Lily, denn ihre Seele war nicht mehr geteilt und keine ihrer Erinnerungen mehr nur halb – schlang die Arme um das Weiße und ließ es nicht los, als sie auf den Steinstrand zufiel. Sie hielt es fest, ganz fest mit ihrer Gabe, der Gabe der Drachen. Sie hielt die Chimei, als sie starb.

„Lily? Gott, Lily, ich kann dich spüren, aber wenn du nicht aufwachst und mir antwortest, werde ich … werde ich …“

Als Lily die Augen aufschlug, sah sie in Rules verzweifeltes Gesicht. „Ich bin hier“, flüsterte sie. Sie lag auf dem Rücken, registrierte sie vage. Auf dem Boden.

Rules Augen schlossen sich. Er schauderte. „Gott sei Dank. Oh Gott, ich dachte, ich hätte dich verloren. Bist du verletzt?“

„Schwindlig“, murmelte sie. „Hilf mir mal, mich aufzusetzen, ja? Oh, Mist – dein Vater –“

„Reanimation klappt bei Lupi genauso wie bei Menschen“, sagte Isen schroff. „Nachdem du die Kreatur aus mir herausgezogen hast, hat Remy mein Herz wieder zum Schlagen gebracht.“

Lily wandte den Kopf nach ihm. Isen saß ganz in der Nähe. Ein großer junger Mann, der ihr bekannt vorkam, kniete neben ihm. Remy, vermutete sie.

„Ich möchte mich aufsetzen“, wiederholte sie. Rule half ihr dabei und setzte sich so hin, dass sein Körper sie stützte. Das tat gut. Wunderbar. „War ich lange bewusstlos?“

„Nein, es schien mir nur endlos. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte er. „Die Chimei ist fort“, fügte er hastig hinzu, als fürchte er, sie könne das vielleicht nicht wissen. „Ganz plötzlich ist sie verschwunden.“

Nicht verschwunden, sagte Sam. Sie ist tot.

„Was?“ Rule hob den Blick.

Sam setzte wieder zur Landung an – diesmal sehr viel langsamer als zu der vorherigen. In seinen Klauen hielt er immer noch den Zauberer, dessen Körper jedoch schlaff war – vielleicht war er bewusstlos? Oder hatte der Verlust seiner Geliebten ihn getötet? Das ist die einzige Art, wie Chimei getötet werden können. Sie wurden erschaffen, niemals den Tod kennenzulernen, und so können sie nur sterben, wenn jemand den Tod mit ihnen teilt.

„Den Tod teilt?“, fragte Rule verständnislos.

Drachen sind die Einzigen, die dazu imstande sind – wir waren es wenigstens, bis heute Abend. Lily ist in Dis gestorben. Dadurch, dass sie trotzdem weiterlebte, wurde ihr Tod nicht weniger wirklich. Diesen Tod hat sie mit der Chimei geteilt.

„Ich habe das Abkommen gebrochen“, sagte Lily matt.

Nein. Kleine Handlungen sammeln sich an. Als eine Vertreterin des Gesetzes hast du versucht, die Chimei aufzuhalten, ohne sie zu töten. Sie dachte, mit dem Versuch, ihr ihre Kraft zu nehmen, würdest du das Abkommen brechen, aber ihr Denken war sehr verzerrt, sonst hätte sie gespürt, dass es immer noch galt – aufs Äußerste strapaziert, aber intakt. Ihr Versuch, dich zu töten – der hat das Abkommen gebrochen.

Rule sah sie fragend an.

„Wenn du mich fragst, wie ich das gemacht habe, nun … mir fehlen die Worte.“ Dasselbe sagte er oft genug zu ihr. „Rule, ich habe mich erinnert. Sams wegen habe ich mich an alles erinnert. Der Teil von mir, der mit dir in Dis war – ist jetzt hier, ganz bei mir. Ich meine, ich bin jetzt sie. Ich bin nicht … Ich bin wieder ganz.“

Er schlang die Arme um sie, drückte sie sanft an sich und gab ihr einen Kuss auf das Haar. Sie lächelte und schloss die Augen. Ich liebe dich.

Er schreckte zusammen. „Lily?“

„Was?“

„Das hast du nicht laut gesagt.“

Überrascht öffnete sie die Augen. „Na so etwas.“

Lilys Großmutter erschien mit einem halben Dutzend Lupi – einige bekleidet und auf zwei Beinen, einige nackt und auf zwei Beinen, zwei immer noch auf allen vieren. Sie stützte einen schwachen Cullen. Mit angespannter Miene und wildem Blick sah er sich um. „Was ist mit Cynna?“, fragte er heiser.

„Ihr geht es gut“, sagte Lily schnell. „Und dem Baby auch. Die Gnome haben sie da rausgeholt.“

Seine Augen schlossen sich. „Gut“, sagte er einfach – und sank zu Boden.

Einige hektische Sekunden später hatten sie sich davon überzeugt, dass er nur bewusstlos und nicht tot war. Sein Herz schlug noch.

Ihm geht es gut, sagte Sam. Staub wirbelte auf, als er sich ein paar Meter weiter niederließ. Er legte den Körper des Zauberers auf der Erde ab. Dem da nicht.

Lily sah ihre Großmutter an, die unnatürlich still inmitten der Lupi stand. Ihr Gesicht drückte Zärtlichkeit, Traurigkeit und Glück auf einmal aus. „Du hast sie also festgenommen. Die Chimei.“

„Du hast es also gehört.“ Freude erklang in der Stimme ihrer Großmutter. „Ja, das habe ich. In solchen Dingen ist es wichtig, die Form zu wahren.“

„Ich habe ein paar Fragen“, begann Lily – und brach stirnrunzelnd ab.

Denn aus irgendeinem Grund schienen das alle – nun ja, bis auf Cullen, der bewusstlos war – ganz furchtbar komisch zu finden.