32
„Wer sind Sie?“, fragte Lily, die SIG Sauer fest in der Hand. Vorsichtig, das Ziel immer im Blick haltend, bückte sie sich, um ihren Laptop abzusetzen. Ihre Handtasche und ihre Jacke waren schon auf den Boden gefallen.
Der Mann, der hinter einem der Betonpfeiler hervorgetreten war, lächelte. Er war Chinese, vermutlich jünger als dreißig Jahre, hatte den Kopf kahl rasiert und die Figur eines Bodybuilders auf Anabolika. Die Anzugjacke, die er trug, verdeckte nur notdürftig die Wölbung seiner Waffe.
Aber er streckte jetzt beide Hände aus. „Ich bin niemand, aber ich bringe Ihnen eine Nachricht von Xing Zhou.“
„Ich höre.“
„Es ist eine geschriebene Nachricht. Erlauben Sie, dass ich näher trete und sie Ihnen überreiche?“
Er war jung und sprach ohne Akzent, aber er nannte Zhous Nachnamen vor seinem Vornamen, auf die chinesische Art. Vielleicht war er aus Taiwan. Xing hatte Verbindungen dorthin. „Bitte verstehen Sie, dass ich zu viel von Mr Xings Intelligenz halte, um Ihnen zuzustimmen. Ich, … äh, ich möchte Ihnen zwar nicht zu nahe treten, aber ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie die Nachricht auf die Haube des schwarzen Geländewagens neben Ihnen legten und zurückträten.“
Er nickte und lächelte leicht, als habe er Verständnis für ihre Vorsicht, sei aber auch gleichzeitig darüber belustigt. „Ich muss in meine Jacke greifen“, sagte er entschuldigend, ein paar Schritte zur Seite tretend, Richtung Geländewagen.
„Aber langsam. Ich würde es sehr bedauern, wenn ich einen von Mr Xings Leuten aus Versehen erschießen würde.“
Immer noch lächelnd, folgte er ihren Anweisungen und zog einen weißen Umschlag hervor, legte ihn auf die Kühlerhaube und verbeugte sich knapp. „Mr Xing möchte, dass ich Ihnen seinen Dank für Ihre Warnung ausspreche. In dem Umschlag ist ein zusätzlicher Ausdruck seiner Dankbarkeit.“
„Ich hoffe, Mr Xing weiß, wie er mich beleidigen würde.“
„Ich wurde angewiesen, den Umschlag nicht zu öffnen, und habe es auch nicht getan. Aber ich bin sicher, dass kein Geld darin ist, wenn das Ihre Sorge sein sollte.“ Er wandte sich um und ging zu Fuß auf die Ausfahrtrampe zu.
Mit gezogener Waffe und weiterhin auf alles gefasst, näherte sich Lily dem Geländewagen und dem unschuldig aussehenden weißen Umschlag. Als sie dort ankam, war Xings lächelnder Angestellter außer Sicht.
Es könnte Anthrax oder Ähnliches darin sein, überlegte sie, den Umschlag betastend. Sie berührte ihn mit dem Handrücken, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Xings Mann hatte keine Handschuhe getragen, und eine Überprüfung seiner Abdrücke würde möglicherweise interessant sein.
Kein magisches Kitzeln.
Lily betrachtete den Umschlag noch einen Moment nachdenklich und beschloss dann, kein Risiko einzugehen. Sie zog ihr Telefon hervor und wählte eine Nummer, die sie bisher noch nie gebraucht hatte. „Hier ist Lily“, sagte sie, „Code drei. Ich bin in der Garage in der Nähe meines Parkplatzes. Ich hätte gerne zusätzliche Ohren und Nasen. Eine gute Nase, bitte.“
Sie steckte das Telefon weg, ergriff Laptop und Jacke und stellte sich mit dem Rücken zu dem Pfeiler, hinter dem Xings Mann auf sie gewartet hatte. Von hier aus hatte sie eine gute Sicht. Dann wartete sie auf einen von Rules Bodyguards.
Vorsicht war angebracht, wenn man es mit Mr Xing zu tun hatte. Die alte Schlange mochte Lily, weil sie ihn mit Respekt behandelte, und er respektierte – oder fürchtete – ihre Großmutter. Aber trotzdem war er eine Schlange. Wenn er meinte, sie müsse sterben, würde er alles Notwendige dafür in die Wege leiten.
Der Aufzug klingelte. Die Türen öffneten sich, und zwei Männer sprangen mit gezogenen Waffen heraus – José und Jacob, beide Nokolai.
Lily runzelte missbilligend die Stirn. „Code drei bedeutet, dass ich um einen Geleitschutz bitte. Nicht um zwei. Und er bedeutet auch keine unmittelbare Gefahr.“
„Das ist richtig.“ José bedeutete Jacob voranzugehen, und Jacob – groß, dunkle Haare, dunkle Augen, schlank wie eine Weide und ebenso geschmeidig – begann, mit hallenden Schritten die Garage zu durchsuchen. „Aber du rufst sonst nie an. Ich dachte, du hättest eine verdächtige Gestalt bemerkt oder würdest eine in der Nähe vermuten.“
„Und du meintest, deine Einschätzung habe Vorrang vor der meinen?“
„Äh –“
„Nein, warte. Rule hat euch gesagt, sofort auf Ernstfall zu schalten, wenn ich je einen Geleitschutz erbitten würde, richtig?“
José verzog das Gesicht. „Ich, äh, weiß wirklich nicht –“
„Schon gut. Ich kläre das später mit Rule. Da ihr nun schon einmal beide hier seid, tun wir einfach so, als hätte ich das Sagen. Wer von euch hat die beste Nase?“
„Ich“, sagte José. „Aber ich muss mich wandeln.“
„Okay. Jacob, wenn du nichts gefunden hast, bleib in der Nähe und sei wachsam. Ich hatte gerade Besuch von … Nun, er ist ein Schläger, aber einer mit Köpfchen. Er arbeitet für einen meiner Feinde, der möglicherweise im Moment ein Verbündeter ist. Oder auch nicht. Er hat das für mich hinterlassen.“ Mit einem Nicken deutete sie auf den Umschlag, der immer noch weiß auf dem schwarzen Lack des Geländewagens schimmerte. „Ich dachte, ihr könntet vielleicht riechen, ob es wirklich nur Papier ist.“
„Okay. Ich kann mich aber nicht so schnell zurückwandeln wie Rule“, fügte er hinzu. „Wenn ich etwas Verdächtiges rieche, knurre ich.“ José gab Jacob eine Art Handsignal und legte seine Waffe ab. Dann wandelte er sich.
Lily wurde es nie leid, dabei zuzusehen. Oder es nicht zu sehen, aber dabei zu sein, wenn die Realität sich auf eine Weise verschob, der ihre Augen nicht folgen konnten. Der Raum, die Stelle, an der José sich gerade eben noch befunden hatte, faltete sich sowohl ineinander als auch auseinander, und seine Gestalt kippte und faltete sich mit ihm – bis ein großer schwarzer Wolf auf einem Häuflein Kleidern vor ihr stand und vergnügt hechelte.
Jacob kam gerade von seinem Rundgang zurück. Er behielt die Umgebung im Auge, während José zu dem Geländewagen trottete, sich auf die Hinterbeine erhob und die Vorderbeine beiderseits des Umschlags legte. Er schnüffelte ausgiebig und ließ sich dann wieder auf alle viere fallen. Er wedelte mit dem Schwanz.
„Dann riecht er wohl normal, was? Gut, danke. Gehen wir nach oben.“
Sie nahmen einen Aufzug zusammen – ein Mann, eine Frau und ein Wolf. Glücklicherweise stieg gerade jetzt kein anderer Bewohner des Gebäudes zu.
Lily bereute es nicht, die Truppen gerufen zu haben, obwohl es dann doch gar nicht nötig gewesen wäre. Wenn man wartete, bis man ganz sicher war, dass man bis zum Hals in der Tinte steckte, war es möglicherweise schon zu spät.
Die Wachen vor der Tür waren Leidolf, was sie überraschte, denn es war kein Wochenende. Als sie sie fragte, wie das Schießtraining lief, schnitt der eine eine Grimasse, und der andere grinste. Letzterer – sein Name war Mark – hatte die letzte Runde auf dem Schießstand gewonnen.
Leidolf hatten, wie die meisten Lupi, eine heftige Abneigung gegen Schusswaffen jeder Art. Bei den Nokolai war das anders, weil Benedict darauf bestand, dass sie alle den Umgang mit einer Waffe lernten. Als die Wachen der Leidolf bei Rule angefangen hatten, hatten sie nicht einmal gewusst, wie man eine Waffe hielt, und erst recht nicht, wie man sie abfeuerte, und Rule ließ sie nun von seinen Nokolaiwächtern darin ausbilden.
Bisher hatten sie noch nicht aufeinander geschossen. Das war schon einmal ein gutes Zeichen. Lily gratulierte Mark und sagte den beiden Nokolai, sie könnten gehen.
José schüttelte den Kopf. „Das ist meine und Jacobs Schicht. Mark und Steve haben uns nur abgelöst, damit wir auf Code drei reagieren konnten. Jungs, ihr könnt wieder zu eurem Nintendo.“
Lily zuckte die Achseln und ging in die Wohnung. Vermutlich sollte sie es als Fortschritt betrachten, dass die Leidolfwachen notfalls für die Nokolai einsprangen.
Harry freute sich, sie zu sehen. Sie gab ihm ein bisschen Schinken und Trockenfutter und ließ sich dann endlich nieder, um den Umschlag zu öffnen. Harry beschloss, ihr Gesellschaft zu leisten, nachdem er den Schinken hinuntergeschlungen hatte. Schnurrend rollte er sich neben ihr zusammen. Sie streichelte ihn, während sie die handgeschriebene Nachricht las.
Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
So hieß es in unserem Volk, lange bevor diese Amerikaner existierten, und deshalb werde ich Ihnen einiges über unseren Feind erzählen. Manches werden Sie bereits wissen und sicher noch mehr, was sich jedoch meiner Kenntnis entzieht.
Er nennt sich selbst Johnny Deng und sagt, er sei ein Zauberer. Er ist mehr als das. Er hat Kräfte, wie man sie nicht mehr gesehen hat, seitdem die Dämonen sich vor Jahrhunderten unter die Menschen gemischt haben. Deshalb nehme ich an, dass er ein Dämon ist oder einem Dämon gehorcht.
Er will diese Stadt zu seiner eigenen machen. Nicht Ihren Teil der Stadt, Lily Yu, aber meinen. Er hat bereits zwei kleine Gangs übernommen und mir ein Angebot für mein Unternehmen gemacht. Ich lache – mein Bruder stirbt. Trotzdem wäre ich geblieben und hätte um das gekämpft, was mir gehört, aber ich habe Ihre Warnung erhalten. Wenn ein Feind Ihrer verehrten Großmutter lebt, dann ist er ein mächtiger Mann. Oder mehr als ein Mann.
Wenn Sie dieses lesen, werde ich nicht mehr in San Diego sein.
Es ist gut, der Schlange mit der Hand deines Feindes den Kopf abzuschlagen. Um Ihnen zu helfen, diese Schlange zu töten, sage ich Ihnen noch etwas über diesen Mann. Er hat ein kleines Tattoo unter seiner linken Brustwarze. Es ist für die Augen unsichtbar. Es ist ein Wort, aber das Zeichen kenne ich nicht. Ich schreibe es hier für Sie auf.
Darunter war ein auf die alte Art gemaltes Zeichen – mit Tusche und Pinsel. Nachdenklich betrachtete Lily es. Auch sie war sich sicher, das Zeichen nicht zu kennen. Sie sprach zwar ein wenig Chinesisch – obwohl ihre Großmutter behauptete, sie hätte einen fürchterlichen Akzent –, aber lesen konnte sie es überhaupt nicht.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, endete die Nachricht. Auch wenn es Sie überrascht, ich hoffe, Sie überleben diese Auseinandersetzung mit unserem gemeinsamen Feind. Bitte übermitteln Sie Ihrer geschätzten Großmutter meinen Respekt. Keine Unterschrift.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Mist. Sie war versucht, Cody anzurufen und ihm zu sagen, dass sie es nicht schaffen würde … aber wenn sein Spitzel tatsächlich etwas wusste, wollte sie dabei sein. Cody wusste nicht, welche Fragen er stellen musste.
Wenn sie sich beeilte, hätte sie noch Zeit genug, sich ein Sandwich zu machen, aber eine Dusche war nicht mehr drin. Sie stemmte sich aus dem Sessel hoch und ging schnell zu Rules Schreibtisch – seinem richtigen Schreibtisch, nicht dem Esstisch, den er gewöhnlich benutzte. Sie scannte den Brief mit dem Hanzi-Zeichen, druckte ihn aus, fuhr Rules Computer hoch und schickte dann das Bild an sich selbst, Ida und Ruben.
Sieben Minuten später stand sie draußen im Flur – und musterte stirnrunzelnd die beiden Männer vor der Tür. „Wo sind José und Jaccob?“
Mark grinste. „Die Wahrheit ist, Jacob hatte ein heißes Date. Steve und ich waren schon hier, und als Jacob seine … äh, Doppelbuchung gegenüber José erwähnte, haben wir uns bereit erklärt, die Schicht weiterzumachen, damit er pünktlich sein kann.“
Die Erklärung klang vernünftig. Trotzdem hatte sie ein ungutes Gefühl. Einem Impuls folgend, ergriff sie Marks Hand.
Er erschrak. „Äh …?“
Sie schüttelte den Kopf und ließ ihn los. „Nichts.“ Nur die übliche pelzige Magie, was sie auch ohne nachzuprüfen hätte wissen müssen. Illusionen wirkten bei ihr nicht. „Sagen Sie Rule, dass ich Harry schon seinen Schinken gegeben habe, ja?“
„Das werde ich.“
Sie eilte den Flur hinunter, die Handtasche über der Schulter, die Jacke wieder über dem Schulterholster, eine Diätcola in der Handtasche, ein Sandwich in der Hand. Und dachte über Namen nach.
Cullen hatte gesagt, dass ihre Großmutter gesagt hatte – herrje, langsam wurde es kompliziert –, dass die Chimei ihren Geliebten gekennzeichnet habe. War es möglich, dass dieses unbekannte Wort unter der linken Brustwarze des Zauberers der geheime Name war? Konnte es wirklich so einfach sein?
Natürlich musste das Wort immer noch korrekt ausgesprochen werden, was bei einem unbekannten Zeichen gar nicht so einfach war. Dann – wenn es ein Name war oder ein Teil davon – musste sie herausfinden, was sie damit tun konnten. Vermutlich war es nicht genug, ihn einfach zu nennen. Mit Magie musste immer ein Zweck verbunden sein. So viel wusste sie.
Aber dies war vielleicht ein Durchbruch. Außerdem hatten sie jetzt eine Vorstellung davon, was der Zauberer wollte. Lily hatte so eine Ahnung, dass das kriminelle Imperium, das ihm vorschwebte, nicht das war, worauf die Chimei aus war. Vielleicht sollte sie sich das zunutze machen und einen Weg finden, die beiden gegeneinander auszuspielen.
Das war doch immerhin ein Ansatz.