5

Lily sah zu, wie ihre Freundin in dem Meer aus halb nackten Männern verschwand. „Erstaunlich. Mit einem Dämon nimmt Cynna es auf, aber wenn man Großmutter erwähnt, hat sie es plötzlich eilig.“

Beth lächelte nicht. „Ich mache mir Sorgen um sie.“

„Um Großmutter?“ Lily lag ein halbes Dutzend Fragen auf der Zunge, aber sie entschied sich für: „Warum?“

„Sie ist weder zur Babyparty noch zur Kindsfeier gekommen.“

„Weil Li Qin krank geworden ist.“

„Und selbst wenn es das wäre“, sagte Beth geheimnisvoll, „wäre ich immer noch misstrauisch. Wann ist Li Qin denn schon einmal krank gewesen?“

Jetzt, da Beth es ansprach, konnte sich Lily nicht erinnern, dass die Partnerin ihrer Großmutter je auch nur einen Schnupfen gehabt hätte. Aber das musste nichts heißen. Auch Menschen mit einer robusten Konstitution wurden manchmal krank – und wenn, dann richtig.

Sollte sie sich um Li Qin Sorgen machen? Lily runzelte die Stirn und zupfte ihre Schwester am Ärmel. „Wir können beim Gehen weiterreden. Ich möchte die Tänzer nicht verpassen.“

„Du wirst schon nichts verpassen“, sagte Beth. „Rule hält dir doch bestimmt einen Platz frei. Wo ist er?“

„Drüben bei den Tänzern“, gab Lily zu. Sie musste nicht vermuten, sie wusste, wo Rule war. Das war eine der angenehmen Seiten des Bandes der Gefährten.

„Was Großmutter betrifft … dir muss doch auch aufgefallen sein, wie chinesisch sie in letzter Zeit ist.“

„Seitdem ich aus North Carolina zurück bin, habe ich sie nicht oft zu Gesicht bekommen.“

„Das ist noch so eine Sache. Niemand bekommt sie viel zu Gesicht.“

Lily zuckte die Achseln. „Wir reden hier über Großmutter.“

„Ja, sie ist immer ein wenig merkwürdig. Aber so übertrieben chinesisch wird sie nur, wenn sie verärgert oder besorgt ist oder irgendetwas im Schilde führt. Ich glaube ja, sie führt etwas im Schilde, aber wenn nicht, dann stimmt etwas nicht. Und Freddie ist der Beweis.“

„Freddie?“, fragte Lily überrascht. „Unser Cousin Freddie?“

„Natürlich unser Cousin. Wer sonst könnte ihn bewegen, hierherzukommen? Abgesehen von seiner Mutter, meine ich, aber das würde sie nicht tun. Bleibt nur Großmutter. Warum sollte sie ihn schicken, statt selbst zu kommen?“

„Äh … Beth, Freddie ist nicht hier.“

„Doch, ist er. Ich habe ihn vor nicht mal zehn Minuten gesehen. Ich habe versucht, ihn mir zu schnappen, aber er ist in der Menge untergetaucht, als er mich gesehen hat.“

Wenn Lily nicht sicher gewusst hätte, dass kein Alkohol ausgeschenkt wurde, hätte sie gedacht, ihre Schwester sei betrunken. „Vielleicht hast du Paul gesehen.“

Beth kräuselte empört die Lippen. „Du machst wohl Witze.“

Ihre Empörung war vermutlich berechtigt. Zwar waren beide chinesischer Abstammung, aber Susans Mann ähnelte Freddie überhaupt nicht. Aber anders als Freddie war Paul immerhin anwesend. Lily hatte den Verdacht, dass er nur mitgekommen war, um Susan vor hungrigen Werwölfen zu schützen. Oder vor ihren Flirtversuchen, die sie auch trotz seiner Anwesenheit machen würden, wenn auch sehr zurückhaltend. „Beth, es kann nicht Freddie gewesen sein, den du gesehen hast. Er war gar nicht eingeladen, und Freddie würde niemals uneingeladen erscheinen. Vor allem nicht hier. Er hat Angst vor Lupi.“

„Das weiß ich. Das beweist doch, dass Großmutter ihre Finger im Spiel hat. Vor ihr hat er noch mehr Angst als vor Lupi.“

Lily musste lächeln. „Gut, dass du nicht bei der Polizei bist. Du hast eine sehr lockere Vorstellung davon, was ein Beweis ist.“

„Na schön, dann glaub mir eben nicht, aber sieh trotzdem einmal nach Großmutter. Du bist ihr Liebling, vielleicht findest du heraus, was los ist.“

Gewöhnlich war es am einfachsten, Beth ihren Willen zu lassen. Außerdem hatte sie möglicherweise recht. Beth’ Gespür für Menschen hatte nichts mit Magie zu tun, und sie lag trotzdem oft richtig. „Gut, ich werde ihr einen Besuch abstatten.“

„Wann?“

„Bald, okay? Jetzt will ich den Tänzern zusehen.“

Die Sänger waren verstummt, aber am Ende der Wiese hatten sich bereits viele Gäste versammelt, und Lily befürchtete, dass sie keine gute Sicht haben würden. Einer von ihnen wandte sich um, als sie näher kamen – Jason, der Blonde, mit dem Cynna gerade eben keine Gelegenheit gehabt hatte zu flirten.

Lily mochte Jason – wirklich. Man musste ihn einfach mögen. Aber er war der Überzeugung, dass er in ihrer Schuld stand. Dabei hatte sie nur ihre Arbeit getan. Nun ergriff er jede Gelegenheit, um sich zu revanchieren, und sie wusste nicht, wie sie ihn davon abbringen konnte. Rule fand die ganze Sache nur lustig.

„Haben sie schon angefangen?“, fragte sie Jason.

„Nein. Michael und Sean brauchten auf einmal unbedingt ihre Geige, aber sie sind jetzt wieder zurück. Ich höre, wie sie ihre Instrumente stimmen. Geh lieber nach vorne. Von hier hinten siehst du nichts.“

Das mochte stimmen, aber seine Art, ihr behilflich zu sein, machte sie verlegen – egal, was Beth gesagt hatte –, denn er nahm ihre Hand und rief laut: „Die Auserwählte ist hier hinten. Sie muss nach vorne.“

Selbstverständlich teilte sich die Menge auf der Stelle. Freundlich lächelnd drehten sich alle zu ihr um und ließen sie vorbei. Jason wollte sie mit sich ziehen.

„Das ist meine Schwester“, sagte Lily. „Ich möchte, dass sie das sieht.“

„Deine … Oh ja.“ Jason blieb stehen und ließ seinen Blick über Beth wandern. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Dass ich dich übersehen habe, unglaublich. Hmm.“

Beth lächelte ihn kokett an. „Mein Name ist Beth. Ich bin die nette Schwester.“

„Sehr nett“, versicherte er ihr, und seine Augen ließen keinen Zweifel, welche Teile ihm besonders gefielen. „Aber nicht zu … nett, hoffe ich?“

Lily widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen, und entzog ihm stattdessen nur ihre Hand. Er schien es gar nicht zu bemerken. „Jason, das ist Beth. Beth. Jason Chance. Könntet ihr später miteinander flirten? Ich will die Aufführung nicht verpassen.“

Beth konnte nicht widerstehen, sie verdrehte die Augen. „Netter als du jetzt bin ich alle Male.“

„Das bezweifle ich nicht. Ich gehe jetzt los und suche Rule. Kommst du mit?“

Beth warf Jason einen Blick von der Seite zu. „Ich komme später nach.“

Lily hatte so ein Gefühl, dass ihre Schwester nicht in den Genuss des Trainingstanzes kommen würde. Na schön. Jason würde nichts tun, was Beth nicht auch wollte, und mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie streng genommen erwachsen. Lily machte sich auf den Weg.

Die Geigen erklangen bereits, während sie, von Bekannten und Unbekannten geschoben, in die erste Reihe vordrang. Jemand schlug langsam die Trommel. Ungefähr ein Dutzend halb nackter Männer hatte sich zu einem Kreis aufgestellt, die Arme miteinander verschränkt. Keiner von ihnen rührte sich. Niemand schien auch nur zu atmen.

Rule schaute den Tänzern nicht zu. Er war einer von ihnen.

Überrascht hielt Lily den Atem an. Wie die anderen trug er nur alte, abgeschnittene Jeans, die tief auf seiner Hüfte saßen. Er war so herrlich männlich, so berührend menschlich – und doch meinte sie in diesem Moment beinahe den Wolf zu sehen, der in dem menschlichen Äußeren steckte – seine kraftvolle, starke Präsenz schien die gespannten Muskeln und die halb geschlossenen Augen des Mannes von innen zum Leuchten zu bringen. Freundlich war er vielleicht, dieser Wolf, aber nicht zahm.

Jemand hatte in der Mitte des Kreises ein kleines Feuer entfacht. Die roten Flammen ließen Rules Wangenknochen noch schärfer hervortreten und warfen geheimnisvolle Schatten um seine Augen. Dann hob er den Blick, sah sie und lächelte.

Erfreut lächelte sie zurück. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den anderen im Kreis zu – und war erstaunt, als sie Rules Bruder erkannte, Benedict. Die Miene ruhig und undurchdringlich wie Stein, die Haut im Feuerschein glänzend, sah er aus wie die fleischgewordene Statue eines aztekischen Gottes.

Sie hatte noch nie erlebt, dass Benedict an dem Tanz teilgenommen hatte. Wahrscheinlich unterrichtete er ihn – er bildete junge Nokolai in der Kunst des Kampfes aus –, aber sie hatte nie gesehen, wie er ihn selbst getanzt hatte. Warum mochte er wohl heute Teil des Kreises sein?

Rule gegenüber stand Cullen. Er war derjenige, dessen Schönheit am offensichtlichsten war; seine Gesichtsstruktur war beinahe zu symmetrisch. Seine Augen glitzerten aufgeregt – ein fröhlicher Pan oder Loki, der einen Streich plante.

Benedict nickte dem Trommler kurz zu, der auf einmal das Tempo beschleunigte. Die Geigen fielen mit einer schnellen Eröffnungspassage ein, die Sänger stimmten das alte russische Lied an – und die eben noch reglosen Tänzer gerieten in wilde Bewegung.

Die Schritte waren einfach. Doch die Geschwindigkeit und Heftigkeit dieser Schritte riss die Männer in einen Wirbel, der sich schneller und schneller im Uhrzeigersinn drehte, bis er schließlich zu einer Reihe auseinanderbrach – die dann zu einer Welle wurde, als ein Mann nach dem anderen in die Hocke ging, ein Bein und dann das nächste nach vorne streckte, wieder einzog und hochschnellte.

Nachdem die Welle drei Mal durch die Reihe gegangen war, kamen die Männer an den beiden Enden nach vorn. Erst zwei Männer, dann vier, dann mehr warfen sich hoch in die Luft, als wollten sie abheben – was sie auch beinahe taten und dabei einander in einem schwindelerregenden Muster übersprangen.

Dann schleuderten sie sich gegenseitig aufeinander – zwei Lupi nutzten die Hände als Katapult, um einen dritten zu werfen, der erst einen Salto schlug und dann sofort nach der Landung erneut lossprang oder einem zweiten die Hände reichte, um einen anderen zu werfen. So schnell bewegten sie sich, dass sie das zugrunde liegende Muster nicht erkennen konnte, obwohl sie wusste, dass es da war. Schneller als ein Mensch, aber auch schneller, als sie sie jemals hatte tanzen sehen.

Von einem Moment auf den anderen änderten sie das Muster: Jetzt sprangen sie nicht mehr hoch, nachdem sie gelandet waren, sondern fingen einander auf, um zwei Pyramiden à fünf Lupi zu bilden, drei am Boden und zwei auf ihren Schultern. Dann warfen die Pyramiden einen Mann wie ein lebendiges Projektil zwischen sich hin und her. Es war Cullen.

Er landete auf einem Paar Schultern, ging in die Hocke und wurde nach vorn geschleudert, den Körper zu einem Ball fest zusammengerollt. Erst im letzten Moment streckte er sich, um auf der gegenüberliegenden Pyramide zu landen, wo er sich erneut einrollte – und zurückgeworfen wurde.

Zwei Mal. Drei Mal. Vier – dann lösten beide Pyramiden sich auf, noch während er in der Luft war und die, die sie gebildet hatten, verschwanden in der Menge.

Dort, wo eben noch fünf gewesen waren, stand nur noch ein einzelner Mann. Benedict. Reglos sah er zu, wie Cullen wie eine Kanonenkugel auf ihn zuschoss, ging leicht in die Knie und hob die Hand.

So, wie es aussah, konnte es gar nicht möglich sein. Danach sah es nämlich so aus, als würde er Cullen dribbeln – als würde ein lebendiger Ball auf seine Hand treffen und erst zu Boden, dann wieder hoch in die Luft geprallt werden, wo er sich zu einem Mann entrollte, um anschließend leicht und locker neben Benedict in den Stand zu kommen – schwitzend, keuchend und grinsend wie ein Wahnsinniger.

„Und so, ihr jungen Leute“, sagte Benedict gelassen, „geht der Tanz.“

Die Menge brach in frenetischen Applaus und laute Schreie aus. Lily hörte, wie jemand rief: „Piers – um der DAME willen!“, und jemand hinter ihr sagte immer wieder: „Zurück, zurück, macht Platz.“

Es war der Name – Piers –, der sie aufhorchen ließ. War das nicht der junge Lupus, der, wie Rule ihr gegenüber einmal erwähnt hatte, gerade die terra tradis hatte verlassen dürfen, das Gebiet, auf dem sich die jungen, isolierten Lupi befanden? Wenn tatsächlich dieser gemeint war, dann war er erst achtzehn Jahre alt, noch nicht offiziell erwachsen. Sie drehte sich um und versuchte über die Umstehenden hinweg oder hindurch zu sehen.

Was sie sah, war Rule, der durch die Menge glitt. Sie folgte ihm. Er blieb stehen und streckte die Hand nach ihr aus. Sie folgte seiner Einladung. Er war vom Tanz warm und verschwitzt.

Ein anderer Kreis hatte sich gebildet, sah sie jetzt – um einen hechelnden, aufgeregten Wolf mit geschecktem Fell. Ein Mann lachte. Ein anderer grinste und schüttelte den Kopf. Wieder einer seufzte.

Lily war die einzige Frau in dem Kreis. Der einzige Mensch. Kinder waren auch nicht in der Nähe. Der Wolf war nur von anderen Wölfen umringt – und ihr.

Piers musste sich so aufgeregt haben, dass er die Beherrschung über sich verloren und sich gewandelt hatte. Einem Jugendlichen durfte so etwas nicht passieren – denn es bedeutete, dass er möglicherweise auch in anderer Hinsicht die Beherrschung verlieren konnte. Lily überlegte gerade, ob es klug wäre, wenn sie aus dem Kreis zurückträte, als Isen sich dem Wolf näherte. „Piers“, sagte er. Nur das, aber die Enttäuschung war deutlich zu hören.

Der Wolf legte die Ohren an. Sein Schwanz senkte sich. Er ließ niedergeschlagen den Kopf hängen.

„Du weißt, was du jetzt tun musst.“

Der Wolf legte den Kopf schief und wedelte hoffnungsvoll.

Isen sagte nichts.

Der Wolf seufzte und nickte.

„Du gehst auf direktem Wege zurück“, sagte Isen. „Keine Umwege. Du wirst dich sofort wandeln, wenn du wieder dazu in der Lage bist, und Mason erklären, was passiert ist.“

Mason war der Lupus, der verantwortlich für die terra tradis war. Lily hatte ihn noch nicht kennengelernt, aber schon viel über ihn gehört. Offenbar war er so etwas wie eine Kombination von Armeeausbilder und Schuldirektor und, wenn es sein musste, auch Priester.

„Isen“, sagte einer der älteren Männer, „willst du, dass ich …?“ Er malte mit der Hand einen kleinen Kreis.

„Danke für das Angebot. Aber …“ Isen warf dem kläglich aussehenden Wolf einen Blick zu. „Ich vertraue darauf, dass Piers alleine zurückfindet.“

Da wurde der Wolf wieder munter. Er nickte noch einmal entschieden.

„Was ist denn da gerade passiert?“, fragte jemand hinter Lily.

Als sie sich umdrehte, erblickte sie Paul, der verwirrt zusah, wie der Wolf aus dem Kreis hinaustrottete. Paul war ein großer, schlaksiger Mann mit einer randlosen Brille und glänzendem schwarzen Haar, das er jede Woche nachschneiden ließ, damit auch jedes Haar an seinem Platz lag. Er war so ernst wie eine Regenwolke und recht schüchtern.

„Hallo, Paul. Äh … Piers wurde zurück in die terra tradis geschickt.“

„Die was?“ Er schüttelte den Kopf. „Schon gut. Ist er gefährlich?“

Das sind sie alle, lag Lily auf der Zunge zu sagen. Aber das wäre sowohl zu viel als auch zu wenig Information gewesen. Deshalb hielt sie den Mund.

Rule antwortete auf dieselbe entspannte Art, mit der er auch auf die Fragen von Reportern einging. „Er hat sich nur zu sehr aufgeregt, aber er darf sich nicht wandeln, deshalb muss er bestraft werden. Wir legen genau fest, unter welchen Umständen sich unser Nachwuchs wandeln darf.“

„Ich frage nur, weil man Susan und mich weggebracht hat. Und damit meine ich, weggeführt.“

„Ich bitte um Entschuldigung für die Unannehmlichkeit.“

„Nein, nein, das macht nichts. Ich …“ Paul sah noch immer auf den Punkt in der Menge, wo der Wolf verschwunden war, einen seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht. „Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

„Das haben auch nicht viele außerhalb des Clans.“ Rules Ton war ganz sachlich und suggerierte, dass Paul einerseits privilegiert war und andererseits viel zu klug, um großes Aufhebens um dieses Privileg zu machen. „Paul, ich hatte heute Abend auf eine Gelegenheit gehofft, mich einmal mit dir zu unterhalten. Ich werde dich Susan nicht lange entführen – ich glaube, gleich beginnt der Tanz für alle –, aber ich wüsste gern deine Meinung über eine Aktie, die ich kaufen möchte, ein Medizintechnikunternehmen. Du hast sicher Insiderwissen über dessen Produkte.“

Paul wurde ebenso munter wie eben der Wolf, wenn auch nicht auf ganz so offensichtliche Art. Er hatte einen wichtigen Posten in der Verwaltung eines Krankenhauses – Lily konnte sich nie den genauen Titel merken –, er traf viele Entscheidungen über den Einkauf von Geräten und redete leidenschaftlich gern über Medizintechnik.

Sie lächelte verstohlen. Rule würde das schon machen. Seine Worte hatten zwar wie eine Schmeichelei geklungen, waren aber ehrlich gemeint gewesen. Er überlegte sich vermutlich wirklich, ob er diese Aktie kaufen sollte – er verwaltete diverse Portfolios für die Nokolai –, und wollte Pauls Meinung über das Unternehmen wissen. Und bevor Paul heute Nacht das Clangut verließ, würde er überzeugt sein, dass Rule Turner ein ungewöhnlich scharfsinniger und vernünftiger Mann war. Jemand mit einer seltsamen Fähigkeit vielleicht, doch dass er gelegentlich Pelz trug, würde nicht mehr von Bedeutung sein.

Das Trommeln hatte wieder begonnen. Nach kurzer Zeit setzten die Geigen ein. Bald würde der Tanz für alle beginnen. Lily ließ den Blick schweifen auf der Suche nach Benedict oder Cullen. Mit Ersterem wollte sie kurz reden und Cullen wollte sie sein … Moment. War das der Mann, den Beth zu Beginn des Abends gesehen hatte?

Der Mann, den sie durch die Menge gehen sah, war wohl unübersehbar ein Asiat, aber er sah nicht wie Freddie aus. Zum einen war er kleiner, und sein Gesicht war runder als das Freddies. Und sie vermutete, dass er auch älter war. Sie hatte ihn zwar nur kurz gesehen, aber er hatte älter als dieser gewirkt. Außerdem trug er ein T-Shirt und eine Baseballkappe. Der spießige Freddie besaß keine Baseballkappe.

Sie berührte Rule am Arm. „Ich geh und suche Cullen, um ihm sein Geschenk zu überreichen.“

Er schenkte ihr ein Lächeln, das er sich vielleicht lieber für später, wenn sie alleine sein würden, hätte aufheben sollen, führte ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. „Reservier mir einen Tanz.“

„Vielleicht auch zwei.“ Ein Tanz hier. Einer, wenn sie allein waren. Lily lächelte und ließ ihn allein, damit er seinen Geschäften nachgehen konnte.

Zehn Minuten später gab sie es auf, den Asiaten zu finden. Sie konnte noch nicht einmal jemanden finden, der ihn gesehen hatte. Dabei hätte man meinen sollen, dass er in diesem Meer aus weißen Gesichtern und nackten Oberkörpern hätte auffallen müssen, verdammt. Jeder menschliche Mann würde hier auffallen, aber die wenigen, die einen Asiaten bemerkt hatten, hatten wohl, nach Größe und Kleidung ihrer Beschreibung nach zu schließen, Paul gesehen. Niemand erinnerte sich an einen Mann mit einer Baseballkappe.

Natürlich bewies das gar nichts. Lily hatte genug Zeugen vernommen, um wenig Vertrauen in das Gedächtnis und die Beobachtungsgabe der Menschen zu haben, und sie hatte keinen Grund anzunehmen, dass Lupi auch nur einen Deut besser waren.

Aber einige waren es doch. Einigen wäre der Mann nicht entgangen. Sie nickte und begann nach dem Mann zu suchen, der niemanden übersah.

Benedict war nicht schwer zu finden.

Die Geiger hatten eine lebhafte Melodie angestimmt, und die Menge machte Platz für die Tanzfläche – Squaredance, dachte sie, der Musik nach zu schließen. Oder vielleicht Western Swing. Wenn Lupi feierten, wurde immer Musik gemacht und getanzt, aber man wusste nie, welche Art. Das hing davon ab, welche Musiker kamen und was sie spielen wollten.

Einen der Männer, der heute Abend Geige spielte, kannte Lily. In seinem anderen Leben spielte er die erste Geige im Sinfonieorchester von San Diego – und dort wusste niemand, dass er ein Lupus war. Was ein weiterer Grund war, warum sie Benedict finden musste. Die Nokolai mochten sich zu dem bekennen, was sie waren, aber einige Clanmitglieder taten es nicht. Da die Bürgerrechtsreform immer noch nicht beschlossen war, konnten es sich manche einfach nicht leisten. Einen Lupus zu entlassen, nur weil er ein Lupus war, war legal, und viele Unternehmen scheuten sich nicht, von dem Gesetz Gebrauch zu machen.

Sie fand Benedict an der Nordseite der Wiese neben den Wannen mit den Getränken. Er sprach mit einem Mann, den sie nicht kannte. Lily rief halblaut: „Benedict.“

Er drehte sich nach ihr um und wartete. Als sie bei ihm war, nickte er ihr zu. Benedict war verantwortlich für die Sicherheit des Clanguts. Jetzt, da der Tanz vorbei war, hatte er die abgeschnittenen Jeans mit einigen seiner üblichen Accessoires ergänzt: einem langen Schwert in einer Scheide auf dem Rücken, einem Holster mit einer .357 an der Hüfte und einem Knopf im Ohr. Sein Handy war neben der .357 an seinem Gürtel befestigt.

Die Kombination von traditionellen und modernen Waffen, nackter Haut und beeindruckender Muskulatur gab ihm das Aussehen eines Charakters in einem Videospiel, und der Ohrstöpsel einen zusätzlichen Hauch von Secret Service. Sie lächelte. „Kein Maschinengewehr?“

„Nein. Ich rechne nicht mit Ärger.“

Er scherzte nicht. Zumindest dachte sie das. Bei Benedict konnte man sich nie sicher sein. „Der Tanz war beeindruckend. Etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen.“

Er nickte zustimmend. Vielleicht auch erfreut.

„Heißt das …“

„Ich rede nicht mit dir über meine Beziehung zu meinem Bruder.“

Sie zog verblüfft die Augenbrauen hoch. Nicht schlecht geraten, auch wenn er sich irrte: Früher oder später würden sie darüber reden. „Das Thema vertage ich fürs Erste. Ich mache mir Sorgen wegen der Sicherheit.“

Er rührte sich nicht. Seine Miene änderte sich nicht, und trotzdem war er plötzlich hellwach. „Ja?“

„Ich habe einen Asiaten gesehen, den ich nicht kenne. Nicht Paul – du kennst Paul, meinen Schwager? Dieser Mann ist kleiner als Paul und wahrscheinlich älter. Ich habe ihn nur kurz gesehen, deshalb kann ich ihn nicht sehr gut beschreiben, aber er trug eine dunkle Baseballkappe und ein helles T-Shirt mit kurzen Ärmeln.“

„Den habe ich weder gesehen, noch wurde er mir gemeldet, und meine Leute behalten alle ospi, die sich im Moment auf dem Clangut aufhalten, im Auge.“

Lily blinzelte. Ospi bedeutete Freunde oder Gäste, die nicht zum Clan gehörten. „Auch meine Schwestern? Du lässt meine Schwestern überwachen?“

Er lächelte schwach. „Ich überwache jeden, der kein Nokolai ist und das Clangut betritt.“

Sollte sie sich tatsächlich geirrt haben? Lily trommelte mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel. Nein, entschied sie. „Es gibt keine asiatischen Nokolai, oder?“

„Zwei“, sagte Benedict sofort. „Halbasiaten natürlich. Einer hat eine koreanische Mutter und lebt hier in Los Angeles. Er ist zehn Jahre alt. Der andere ist erwachsen. Seine Mutter war Japanerin. John Ino ist siebenundfünfzig Jahre alt und lebt in Seattle, und ich bezweifle, dass er heute hier ist. Aber es wäre möglich.“

„Finde es heraus. Ich habe einen männlichen Asiaten mit einer Baseballkappe gesehen. Er war kein Gast und, wie es scheint, auch kein Nokolai.“ Vielleicht hatte er die Kappe mittlerweile abgesetzt. Vielleicht hatte er gemerkt, dass sie nach ihm gesucht hatte, und hielt sich jetzt im Hintergrund. Oder er war gegangen, dann wäre es jetzt zu spät. Doch einen Versuch war es trotzdem wert. „Die Feier wäre eine gute Gelegenheit für Paparazzi, und heutzutage sind die Kameras sehr klein.“

Benedict dachte einen Moment darüber nach, dann nickte er. „Na gut. Wer immer es ist, dieser Mann ist durch keines der Tore gekommen. Es gibt andere Möglichkeiten, auf das Gelände zu gelangen, aber nur zu Fuß. Was bedeuten würde, dass er eine Geruchsspur hinterlassen hat.“ Er nahm sein Telefon und tippte eine Nummer ein. „Saul, ich brauche dich. Ich bin bei den Getränken.“

Er steckte das Telefon weg. „Saul hat von all meinen Leuten die beste Nase. Er wandelt sich, und du zeigst ihm, wo du den Mann gesehen hast. Nachdem so viele Leute hier herumgelaufen sind, wird er vielleicht keine Spur mehr finden, aber dort sollten wir anfangen.“

„Gut. Warum hast du heute Abend an dem Tanz teilgenommen?“

„Um die Jungen zu beeindrucken, damit sie sich mehr anstrengen.“

„Das ist nicht der einzige Grund. Rule hat auch mitgetanzt. Das tut normalerweise keiner von euch beiden.“

Seine Mundwinkel hoben sich ganz leicht. „Du bist sehr aufmerksam. Das ist manchmal lästig. Nun gut. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass ich zwar nicht mit meinem Bruder spreche, aber mein Lu Nuncio meine volle Unterstützung hat. Das sollte jeder wissen.“

Also war sein Problem mit Rule ein persönliches und hatte nichts mit dem „Wohl des Clans“ zu tun. „Glaubst du, mit einem Tanz konntest du das klarstellen?“

Seine Augenbrauen hoben sich einen Millimeter. „Selbstverständlich.“

Hmm. „Nun, zumindest war es eine fantastische Show. Aber wie um alles in der Welt war es möglich, Cullen mit einer Hand anzuhalten, ohne ihm oder dir ein paar Knochen zu brechen?“

„Für jemanden, der nie eine Kampfausbildung erfahren hat, ist Seabourne ein –“

Die Hälfte der über ihren Köpfen hüpfenden magischen Lichter erlosch.

Benedict riss den Kopf hoch. Ohne eine Geste oder ein Wort oder wenigstens einen kleinen Hinweis darauf, was los war, begann er zu rennen.

Wenn Benedict kam, machten ihm alle Platz. Schnell. Sie konnte nicht annähernd mit ihm mithalten, aber indem sie so schnell sprintete, wie sie nur konnte, gelang es ihr wenigstens, den Durchlass zu nutzen, den die Menge für ihn geschaffen hatte.

Rufe ertönten. Die Musik verstummte. Irgendwann war sie doch zu langsam und stand vor einer Wand aus nackten Rücken. Sie beschloss, sich durchzudrängeln. Ihre Polizeimarke würde hier niemanden interessieren, und sie musste weiter.

Da vorne war Rule. Sie fühlte ihn. Irgendetwas war geschehen, etwas Schlimmes …

„Nokolai!“, bellte Isens tiefe Stimme. „Wer keine Wache ist, setzt sich! Sofort!“

Auf der ganzen Wiese ließen sich die Leute auf den Boden nieder. Männer genauso wie Frauen, selbst Kinder – sie alle setzten sich ins Gras, wie ihr Rho es ihnen befohlen hatte. Ohne zu fragen, ohne zu zögern.

Außer Lily. Sie war eine Nokolai und keine Wache, aber es kam ihr gar nicht in den Sinn, sich zu setzen. Nicht, wenn sie plötzlich freie Sicht hatte. Nicht, wenn sie jetzt über die Köpfe der Lupi vor ihr hinwegsehen konnte.

Einige wenige hatten sich nicht auf den Boden niedergelassen. Die Wachen. Und natürlich saß auch Benedict nicht. Er stand neben Isen, die Glock in der Hand. Sein Blick flog hin und her. Aber es gab nichts, worauf er hätte schießen können.

Und Rule. Er stand nicht, sondern kniete. Kniete neben einem Mann, der ausgestreckt im Gras lag. Zuerst sah sie nur dessen Beine, die nackt waren wie die der meisten Anwesenden. Der Rest von ihm wurde von Cynnas Oberkörper verdeckt, die sich über ihn beugte, und von der Frau, die neben Cynna kniete. Lily erkannte sie an ihrem Haar – lang, schmutzig-grau mit ein wenig Braun. Eine krause, dichte Mähne, die ihr bis zur Taille reichte.

Nettie, die Heilerin des Clans.

Lilys Füße trugen sie noch zwei Schritte vorwärts, dann sah sie auch den Rest. Sah Cullen Seabournes Körper friedlich im Gras liegen. Das Gesicht reglos, starrte er mit leerem Blick hoch zum sternenübersäten Himmel.