7

Lily blickte Rule an. Unwillkürlich, ohne nachzudenken. Er wurde einer schrecklichen, einer unmöglichen Tat beschuldigt: des Mordversuchs an seinem besten Freund. Da sah sie ihn natürlich an.

Langsam neigte er den Kopf zu einem Nicken.

Einen kurzen Moment lang war sie verwirrt, doch dann begriff sie. Er meinte: Ja, Mike sagt die Wahrheit – jedenfalls das, was Mike für die Wahrheit hielt. Nicht die echte, auf Tatsachen beruhende Wahrheit.

Mist.

In der nun folgenden Stille begriff Lily, dass sie das Geräusch eines Propellers gehörte hatte, ohne es als solches zu registrieren. Sie hob den Blick und sah, wie sich die Lichter des Hubschraubers über den schwarzen Himmel bewegten. Er war so nah.

„Okay. Mike, du sagst, du hast Rule gesehen. Hast du ihn auch gerochen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe seinen Geruch nicht wahrgenommen, aber so nah stand ich auch nicht.“

„Wer befand sich neben dir? Wen hast du außer Rule in Cullens Nähe gesehen?“

Er nannte sieben Personen, darunter auch Cynna und die Frau, die vorhin das Wort ergriffen hatte – Sandra Metlock. Sie notierte sich die Namen und blätterte dann um. „Beschreib mir, wo sie waren. Hier ist Cullen.“ Sie malte nach seinen Anweisungen sieben Kreise und schrieb dann seinen Namen auf den Kopf der Seite. „Eine Frage noch: Hast du heute Abend einen Asiaten hier gesehen?“

Mike blinzelte überrascht. „Klar. Deinen Schwager. Äh, tut mir leid, ich habe seinen Namen vergessen.“

„Bist du sicher, dass er der einzige Asiat war, den du gesehen hast?“

„Ziemlich sicher. Er hat einen ganz eigenen Geruch. Nichts für ungut.“

„Natürlich.“ Obwohl sie gerne gewusst hätte, wie Paul für einen Lupus roch. Sie schlug ihr Notizbuch zu. „Gut. Das wär’s fürs Erste.“

„Moment mal. Willst du nicht –“

„Ich werde viele Leute befragen. Shannon, begleite Mike wieder zurück, bitte. Ich möchte gerne, dass er in Isens Nähe bleibt.“ Das sollte der Anweisung, nicht zu reden, noch einmal Nachdruck verleihen. „Bring mir bitte … nein, warte. Ich komme mit. Rule, ich brauche dich jetzt als Mensch.“

Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er schüttelte den Kopf.

„Komm mir nicht mit der Clanmacht.“ Aber verdammt, er wusste, was sie vorhatte. Oder einen Teil davon. Sie ließ sich vor ihm auf ein Knie hinunter, sodass sie einander in die Augen sehen konnten, und packte ihn beim Nackenfell. „Ich weiß, dass es nicht stimmt“, sagte sie eindringlich. „Du darfst nicht denken, dass ich dich verdächtige, nicht für eine Sekunde. Aber du kannst bei der Befragung der Zeugen nicht mehr mit mir zusammenarbeiten. Nicht, wenn du selbst betroffen bist. So etwas gefährdet die Ermittlungen, und ich würde abgezogen, und dann könnte ich euch nicht mehr helfen.“

Er schüttelte wieder den Kopf.

Verdammter sturer Wolf. „Außerdem musst du bei Cullen bleiben.“ Das Geräusch der Propeller war jetzt lauter. „Im Hubschrauber wird zwar kein Platz für dich und Cynna sein, aber du kannst sie ins Krankenhaus fahren. Sie wird dich brauchen, Rule.“

Dieses Mal schüttelte er nicht den Kopf, aber er wandelte sich auch nicht.

„Ich werde Isen bitten, die Zeugen mit mir zu befragen. Er hat den Großteil der Macht, nicht wahr? Wenn du eine Lüge riechen kannst, kann er es auch.“

Rule schnaufte. Ein Wolfslachen, vielleicht aber auch schiere Ungläubigkeit.

„Er wird es tun“, sagte sie ihm. „Dafür sorge ich schon. Und jetzt komm wieder auf zwei Beine, damit ich dir ein paar Fragen stellen kann und du, so schnell es geht, ins Krankenhaus fahren kannst.“

„Ein Rho tritt nicht als Lu Nuncio auf.“ Isens Gesicht, das gewöhnlich so ausdrucksstark war, war wie aus Stein gemeißelt. „Ich befrage meine Leute nicht.“

Der Helikopter war schon weit entfernt. Sie hatten Cullen hineingetragen – der immer noch atmete – und auch Platz für Nettie gefunden. Cynna ging mit Rule zu seinem Auto. Jemand hatte ihm ein T-Shirt geliehen, das er zu seinen Jeans tragen konnte.

„Ein Rho tut das, was für seine Leute notwendig ist“, sagte Lily und bückte sich, um ihre Stiefel abzustreifen. Sie würde den Bereich untersuchen, wo der Täter gestanden haben musste, um von hinten auf Cullen einzustechen.

Es war viel dunkler jetzt; über ihnen schwebten nur ein paar vereinzelte magische Lichter. Die meisten der freundlich schimmernden kleinen Bälle stammten von Cynna und Cullen. Lupi, mit Ausnahme von Cullen, wirkten keine Magie – sie waren Magie. Aber ab und zu besaßen ihre weiblichen Nachkommen eine Gabe, und einige von ihnen hatten den Zauber erlernt, mit dem sie magische Lichter herstellen konnten.

Auf Lilys Bitte waren die hüpfenden Lichter nun über der Stelle zusammengezogen worden, wo sie jetzt stand, Rules Vater gegenüber. Mit ihren Schuhen in der Hand richtete sie sich auf. „Du wirst sie nicht befragen. Das mache ich. Du musst mir nur sagen, ob jemand lügt.“

„Du verstehst mich nicht. Der Clan erwartet, dass sein Rho als Richter handelt, nicht als Polizist. Du magst die Fragen stellen, aber wenn ich anwesend bin, werden sie glauben, dass über sie gerichtet wird.“

„Ich würde sagen, es ist an dir, das Problem zu lösen.“

„Das tue ich. Ich schicke Shannon, um meinen Lu Nuncio zu holen – der dieses Mal nicht so dumm sein wird, einfach zu gehen.“

„Nun gut. Ich werde Rule nicht mehr brauchen, und er wird niemanden mehr befragen können, weil ich nämlich gezwungen sein werde, den Fall an die hiesigen Behörden abzugeben.“

„Man könnte fast meinen, du drohst mir.“

„Ich bin ehrlich zu dir. Du willst, dass ich die Ermittlungen leite. Rule kann nicht an der Befragung der Zeugen teilnehmen, wenn einer dieser Zeugen ihn belastet. Wenn ich das zulasse, wird keine der Informationen, die ich erhalte, verwertbar sein, und ich werde von dem Fall abgezogen.“

„Dein Vorgesetzter ist Ruben Brooks. Er vertraut dir, und er ist knapp an Personal. Nur wenige könnten diese Ermittlungen übernehmen.“

„Deswegen wird der Fall auch bei der hiesigen Dienststelle landen, wenn ich nicht sage, ich will ihn. Im Moment gibt es nur einen vagen Verdacht, dass Magie im Spiel ist. Zwingende Beweise gibt es nicht.“

„Zwingend.“ Isen wiederholte dieses eine Wort und sagte dann nichts mehr. Sein Gesichtsausdruck verriet nur, dass sein Interesse geweckt war. Mehr nicht.

Lily kannte diese Taktik; sie hatte sie selbst oft genug angewendet. Wenn man in einer Vernehmung oder einer Verhandlung schwieg, beeilten sich die meisten Menschen, das Schweigen zu füllen. Vor allem, wenn man sie ansah, während man wartete.

Lily erwiderte seinen Blick.

Schließlich hoben sich Isens Mundwinkel. „Das habe ich schon einmal bei dir probiert, und auch da hat es nicht gewirkt. Na gut.“ Er hob die Stimme leicht: „Benedict.“ Dann fuhr er mit normaler Stimme fort. „Ich werde für dich riechen, doch nicht in dieser Gestalt, deshalb werde ich nicht reden können. Darum muss ich Benedict erst einige Anweisungen geben.“

Benedict befand sich am anderen Ende der Wiese. Konnte er tatsächlich aus dieser Entfernung Isens Stimme hören?

Anscheinend ja. Er setzte sich gerade in Bewegung. „Wenn ich dich ansehe“, sagte Lily, „bedeutet einmal Nicken, dass der Zeuge die Wahrheit sagt. Wenn er lügt, schüttelst du den Kopf.“

„Sie werden nicht lügen. Weißt du, dass dies die Signale sind, die ein Lu Nuncio gibt?“

Sie hatte es nicht gewusst, aber es lag nahe. Rule hatte sie vorgeschlagen. „Wenn du in Wolfsgestalt bist, übst du dann auch die Richterfunktion aus?“

„Ah. Jetzt stellst du eine bessere Frage. Nein, tue ich nicht.“

Mit anderen Worten: Wenn er Wolf war, würden seine Leute ihn nicht als Richter sehen, und er hatte sie mit dem, was er eben gesagt hatte, irreführen wollen.

„Was hast du wirklich dagegen einzuwenden?“

Er seufzte wie ein Lehrer, der von seinem Schüler enttäuscht war. „Mittlerweile müsstest du das alleine herausfinden können.“

Sie schnaubte ungeduldig. „Du willst wirklich, dass ich rate, was? Na gut. Ich glaube, es ist eine Statusfrage. Du findest, ein Rho sollte nicht die Arbeit eines Lu Nuncio tun.“

„Mit Status hat es nichts zu tun.“

„Dann Autorität. Aber du hast die Clanmacht. Die Nokolai wissen, dass du ihr Rho bist, auf eine Weise, wie ich sie mir kaum vorstellen kann.“

„Ah, aber Rule trägt auch die Macht eines Rho.“

„Nicht die Macht der Nokolai, und Rule würde niemals deine Autorität über die Nokolai infrage stellen. Nicht für eine Sekunde.“

Er nickte. „Das ist wahr. Aber er und ich werden die Nokolai nicht davon überzeugen, nur weil wir es einfach verkünden. Unsere Taten müssen es ihnen zeigen. Wenn ich seine Verantwortung übernehme, wird ihnen das kein Gefühl von Sicherheit geben.“

„Warum hast du das nicht einfach gesagt?“

Er lächelte und tätschelte ihre Wange. „Frag deine Großmutter.“

Die Berge, die das Clangut umschlossen, waren im Vergleich zu ihren größeren Brüdern im Norden und Süden kaum Berge zu nennen, aber sie waren ebenso zerklüftet wie diese. Wie von der Hand eines Riesen wütend zusammengedrückt, türmten sich Erde und Felsen in Graten, Hügeln, Zacken und Schluchten – ein raues, zerstörtes Land, durch Hitze und Dürre gehärtet.

Trotz der Trockenheit wuchsen Bäume und Sträucher – Eiche und Platane, Bärentraube, Wacholder und Kiefer. Doch der Grat, auf dem ein einzelner Mann auf und ab ging, war unbewachsen. Vielleicht blies der Wind hier zu stark, als dass Samen sich hätten festsetzen und Wurzeln schlagen können. Auch dieses Gebiet gehörte zum Clangut, aber zwischen ihm und den Lichtern der unterbrochenen Feier lag ein weiterer Gebirgskamm, der jedoch jetzt, im Dunkel der Nacht, nicht mehr zu sehen war.

Es war ruhig, aber nicht still; wenn der Wind mit den Ästen der Bäume spielte und die Gräser kitzelte, erhob sich ein Flüstern auf dem Hang. Die Sportschuhe des Mannes wirbelten kleine Staubwolken auf.

Er blieb stehen und blickte in die Nacht, als ein neues Geräusch zu hören war – das bedächtige Schlagen von Flügeln, das den Wind verstummen ließ. Sein Blick suchte, aber es war nichts zu sehen – kein Flimmern in der Dunkelheit, keine Sterne, die erloschen. Trotzdem hielt er weiter Ausschau, unruhig von einem Bein auf das andere tretend. Freudig.

Nichts landete auf dem Bergkamm – und dennoch wirbelte Staub auf wie von unsichtbaren Schwingen. Er lief los und rief auf Chinesisch: „Und? Er ist tot, ja? Er muss tot sein.“

Die Luft erzitterte. Wo eben noch nichts gewesen war, stand jetzt eine Frau.

Sie war groß, dünn und nackt. Ihre Haut war weiß – richtig weiß, nicht blassbeige. Weiß wie das Weiße des Auges. Selbst die flauschige Kappe auf ihrem Kopf war weiß, aber es war eine Kappe aus Daunen, nicht Haar. Doch ihre Scham war nackt wie die eines Kindes.

Dabei war sie kein Kind. Ihre Brüste auf dem gewölbten Brustkorb waren voll und rund, die Brustwarzen nur rosa, weil das Weiß ihrer Haut so rein war. Ihre Arme und Beine waren dünn und seltsam lang, ihr Torso im Verhältnis dazu aber kurz.

Ihr Gesicht war schön. Asiatische Züge, perfekt symmetrisch, irgendwie kindlich, tief unter einer hohen, runden Stirn. Die Augen waren das Auffälligste an ihrem Gesicht. Sie waren schwarz, von einem solch reinen Schwarz, wie ihre Haut weiß war.

„Er lebt.“

Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern und doch so klar und lieblich, dass die Worte mehr ein luftiges Streicheln waren als zu Sprache geformte Laute. Ihre Worte hatten eine tiefe Wirkung auf den Mann, der laut aufschrie. Er warf sich auf die Erde zu ihren Füßen. „Ich habe versagt! Oh meine Schöne, meine Liebste, strafe mich. Tu mir weh. Er ist eine Gefahr für dich, und ich habe versagt.“

Sie strich ihm über den Rücken. „Ach, mein kleiner Mann, mach dir keine Vorwürfe. Du hast nicht versagt. Dein Messer hat sein Ziel nicht verfehlt, vielleicht stirbt er noch. Doch diese Wolfsdämonen haben mehr Magie, als wir gedacht haben.“

Langsam setzte sich der Mann auf und erhob sich dann. Er ergriff ihre Hand. „Es ist großmütig von dir, mir zu vergeben, aber ich vergebe mir selbst nicht. Ich werde nicht noch einmal versagen. Der Zauberer wird sterben, aber ich weiß, wie schmerzhaft es für dich ist, auf deine Rache warten zu müssen, wenn –“

Sie schlug ganz beiläufig zu. Ihre Hand traf seine Wange, dass er ins Taumeln geriet und hinfiel. Ihre Stimme war ruhig, ihre Miene weich und zärtlich. „Du weißt nichts. In einhundert Jahren oder auch zweihundert wirst du vielleicht anfangen zu verstehen, aber nicht jetzt. So ein kümmerliches Wort: Rache. Ein Wort der Menschen, schwach wie der menschliche Körper. Du weißt nicht, was ich meine, wenn ich Rache sage, genauso wenig, wie ich dein Lachen verstehe, wenn etwas zerbricht.“

Darüber musste er kichern. „Nein, Humor verstehst du nicht. Du bist so weise, aber lachen, das kannst du nicht, nicht wahr?“ Er stand wieder auf und klopfte sich die Kleider ab. „Selbst wenn ich es nicht ganz verstehe, ich weiß, dass Rache für dich wie Blut ist. Notwendig. Dass du warten musst –“

„Ich warte nicht.“

„Aber der Zauberer –“

„Stirbt vielleicht, und wenn nicht …“ Sie zuckte die Achseln. „Er wird eine Weile mit seiner Heilung beschäftigt sein. Mach einen neuen Versuch, ihn zu töten, aber nur, wenn es sicher ist. Bring dich nicht durch Hast in Gefahr.“

„Ach, dank deiner Güte bin ich sehr schwer zu töten, ja, selbst zu verletzen.“

„Ich möchte kein Risiko eingehen. Du sagst, du machst dir Sorgen um mich. Ich glaube, du magst keine Konkurrenz.“

Er lächelte beschwichtigend. „Wenn ich mir Sorgen um mich selbst mache, nun … ich bin ein Mensch. Aber diese Sorge ist nichts im Vergleich zu meinen Gefühlen für dich. Wenn du einen sofortigen Angriff auf den Zauberer nicht gutheißt, was ist dann mit der Sensitiven? Sie ist eine geringere Bedrohung, aber dennoch –“

„Du kennst meine Pläne.“

„Wenn du sie nur ein bisschen ändern könntest …“ Er ging zu ihr und nahm ihre Hand in seine. „Meine Schöne, meine Liebste, du tust, was du tun musst, aber wenn du deine Rachepläne nur in diesem einen Punkt ein bisschen beschleunigen könntest …?“

Sie stieß einen leisen Seufzer aus, einen sehr menschlich klingenden Seufzer, und schlang ihre langen, dünnen Arme um ihn. Ein wenig größer als er, konnte sie ihr Kinn auf seinen Kopf legen. Als er ihren Rücken streichelte, wurden ihre Augen schmal und schlossen sich beinahe, wie die einer schnurrenden Katze.

„Ich mache mir Sorgen“, sagte er leise. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

„Wie könnten sie mir schaden? Du wirst den Zauberer töten, wenn es ohne Gefahr für dich möglich ist, und ich werde über eine leichte Änderung meiner Pläne nachdenken, um dich zufriedenzustellen. Aber es wird keine bedeutende Änderung sein, nicht, wenn du mir keinen Grund nennen kannst außer deiner Angst um mich. Dies ist ein reicher Ort, es gibt so viel Nahrung für mich, und das Vieh ist so unvorsichtig. Ich werde die Angst meines Feindes essen, in aller Ruhe. Und du, Liebster …“ Sie lächelte auf ihn herab und umfing sein Gesicht mit beiden Händen. „Du wirst deine Stadt bekommen. So, wie ich es dir versprochen habe.“