14
Um 2.38 Uhr parkte Rule den Wagen in der Tiefgarage unter dem zehnstöckigen Hochhaus, das er sein Zuhause nannte.
Aber war es das wirklich? Vielleicht war es für ihn auch nur ein Ort, an dem er wohnte. Lily beschloss ihn das irgendwann zu fragen, wenn sie nicht im Halbschlaf und gleichzeitig von Koffein und Stress überdreht war.
Vor ein paar Monaten war der Mietvertrag für Lilys Wohnung abgelaufen, und sie hatte ihn nicht verlängert. Es war einfach die vernünftigste Entscheidung gewesen. Ihre Wohnung war nicht groß genug für sie beide, und er hatte genug Platz – zwei Schlafzimmer, zwei Bäder, ein kleines Büro und einen offenen Wohnbereich mit einer grandiosen Aussicht. Es war, als hätte sich hier das Fernsehteam einer Einrichtungssendung ausgetobt, um sie für ein Fotoshooting herzurichten. Und wenn das Band der Gefährten verlangte, dass sie zusammenwohnten, einverstanden. Sie wollte es ja selbst auch.
Gut, die Entscheidung mochte vernünftig gewesen sein, aber der Start war holprig. Aber das war wahrscheinlich normal. Eines der Probleme war der Kater, der mit ihr zusammen eingezogen war. Dirty Harry mochte es nicht, eingesperrt zu sein. Er war ein Streuner gewesen, als sie ihn gefunden hatte – oder als er sie gefunden hatte –, und daran gewöhnt, draußen umherzustreifen. Außerdem mochte er Rule nicht besonders. Welche Katze schmuste schon gerne mit jemandem, der nach Wolf roch?
Das zweite Problem war natürlich das Geld. Rule hatte jede Menge. Sie nicht.
Einiges davon war sein eigenes Geld. Rule kümmerte sich um die Investitionen des Clans und bekam einen Anteil am Profit. Seitdem er die Verantwortung für diese Arbeit übernommen hatte, hatte er das Vermögen der Nokolai verdreifacht und es sogar geschafft, in der aktuellen Krise keine Verluste zu machen. Der Profit war also reichlich. Aber Lily konnte nicht einfach so tun, als gäbe es das Vermögen des Clans nicht, denn in Rules Kopf gab es keine festen Grenzen zwischen persönlichem und gemeinschaftlichem Besitz.
Da dieses Gebäude zum Beispiel den Nokolai gehörte, bezahlte Rule keine Miete. Er hatte seine Wohnung auch nicht gekauft. Und er war ernsthaft beleidigt gewesen, als sie für ihren Anteil an der Wohnung bezahlen wollte. Nach langen Diskussionen hatten sie sich schließlich darauf geeinigt, dass sie die Hälfte der Nebenkosten übernehmen würde.
Rule sah nichts Falsches darin, dass der Clan Lily genau wie ihm Wohnraum zur Verfügung stellte. Sie gehörte zum Clan. Sie war auserwählt. Aber für Lily war eine Wohnung, für die sie nichts bezahlte, kein Zuhause.
Aber es war eine tolle Wohnung, auch wenn sie immer noch das Gefühl hatte, es sei nicht ihre. Als sie im Aufzug standen, konnte sie es kaum erwarten, dort zu sein. Ihr fielen die Augen halb zu, und sie ließ es zu und nahm Rules Hand, um ihm bei seiner Klaustrophobie zu helfen, die er nur selten zugab – was ein Grund war, warum er in einem Hochhaus lebte. So musste er jeden Tag den Aufzug ertragen. Und bewies sich selbst immer wieder aufs Neue, dass er seine Angst überwinden konnte.
Dummer, sturer, willensstarker Mann.
„Mit wem hast du im Krankenhaus telefoniert?“, fragte der sture Mann. „Mit dem Deputy?“
„Hm? Oh, das war Cody. Deputy Beck, muss ich wohl sagen. Warum?“
„Da war etwas in deiner Stimme, als du mit ihm gesprochen hast.“
Das hätte nicht passieren dürfen. Sie hatte gedacht, sie hätte sich ganz geschäftsmäßig verhalten. Lily runzelte die Stirn und öffnete wieder die Augen. „Unbehagen vielleicht. Wir, äh, waren vor ein paar Jahren zusammen, als er beim SDPD war. Ist nicht schön zu Ende gegangen.“
Er sagte nichts.
„Das ist aber ein lautes Schweigen“, stellte sie fest, jetzt hellwach.
„Da war etwas in deiner Stimme“, wiederholte er. „Etwas, das ich bisher noch nie gehört habe, wenn du mit anderen Männern gesprochen hast.“
War es möglich, dass er eifersüchtig war? Nein, sagte sie sich. Jetzt dachte sie wie ein Mensch. Er war vielleicht neugierig oder besorgt, aber er war nicht eifersüchtig. Dieses Gefühl wurde Lupi entweder abgewöhnt, oder sie besaßen einfach das entsprechende Gen nicht.
Und trotzdem war sie kurz davor, ihn, mochte es auch noch so dumm sein, danach zu fragen, als sich die Aufzugtüren öffneten.
Dann konnte sie ihn nicht mehr fragen, denn sie waren nicht mehr allein.
Acht Wohnungen lagen auf diesem Stock – fünf kleine östlich des Aufzugs und drei größere westlich. Rule wohnte in der Eckwohnung auf der Nordseite. Zwei Männer standen beiderseits der Tür. Einer war eins dreiundsiebzig groß, weiß, blauäugig, braunhaarig und schlank. Der andere war eins neunzig groß, hundertfünf Kilo schwer und hatte die dunklen Augen und den cremigen Karamellteint einer gemischten Herkunft.
„Hallo Eric“, sagte Rule mit einem Nicken. „LeBron – alles ruhig?“
Eric und LeBron waren Rules Bodyguards. Zwei von ihnen zumindest. Der Lu Nuncio der Leidolf hatte sie Rule bei ihrer Rückkehr nach San Diego mehr oder weniger aufgedrängt – diese beiden und noch vier andere. Jedes Zweierteam arbeitete in einer Acht-Stunden-Schicht, sodass Rule mit einigen wenigen Ausnahmen rund um die Uhr geschützt wurde – eigentlich waren die Ausnahmen eher zahlreich. Rule sagte, er sähe es lieber, wenn sie mehr seine Wohnung statt ihn selbst bewachten.
Seufzend hatte Rule sich in die Notwendigkeit gefügt. „Ein Rho muss Wächter haben“, sagte er. „Es ist mehr eine Frage des Rangs als der Sicherheit, aber die Leidolf müssen wissen, dass ich geschützt bin.“
Die Bodyguards waren das neueste Problem in ihrem Zusammenleben, und Lilys größtes. An den Verlust ihrer Privatsphäre konnte sie sich einfach nicht gewöhnen.
„Abgesehen von dem Kater“, sagte Eric. „Wir haben nach ihm gesehen, als er anfing zu miauen, aber er war nur gelangweilt und sauer.“
„Hat er dich erwischt?“, fragte Lily und suchte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel.
LeBron zuckte die Achseln. „Der Kratzer ist nicht tief. Und schon fast wieder verheilt.“
„Die Lage hat sich verändert“, sagte Rule und begann, wie sie erwartet hatte, ihnen von dem Angriff auf Cullen zu berichten.
Was nur vernünftig war, anders als ihr plötzlicher Anflug von Unmut. Sie wünschte wirklich, sie würde endlich darüber hinwegkommen.
Lily sperrte die Wohnungstür auf. Das laute Tapsen eines großen Tieres begrüßte sie. Eilig schloss sie die Tür – und der rote Kater, der auf sie zukam, blieb wie angewurzelt stehen und funkelte sie böse an.
„Tut mir leid, Harry.“ Sie hob ihn hoch. „Kein Ausflug heute Nacht.“ Sie rieb sein Kinn.
Sofort stellte er den Motor an. Lily war die Einzige, der Harry diese Vertraulichkeit gestattete. Andere durften ihn eventuell und nur nach Aufforderung streicheln, aber nur sie durfte ihn auf den Arm nehmen, und absurderweise fühlte sie sich dadurch geehrt. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, weil er das besonders mochte. An einem seiner Ohren fehlte ein Stück. Er war ziemlich übel zugerichtet gewesen, als sie ihn gefunden hatte.
Oder als er sie gefunden hatte. „Gibt es irgendetwas zu berichten?“, fragte sie den Kater. „Nein? Lass mich kurz meine Tasche aufhängen, dann gebe ich dir etwas zu fressen.“ Sie machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer am anderen Ende der Wohnung.
Sie hatten nur eine Lampe angelassen, doch das wäre gar nicht nötig gewesen, denn auch so war es hell genug im Zimmer, um sich gut zurechtzufinden. Die große Außenwand war ganz aus Glas, und heute Nacht war die Luft klar. Durch das riesige Fenster glitzerten die Lichter der Stadt – Rules Belohnung, dachte sie, wenn er den engen Aufzug geschafft hatte. Die Vorhänge schloss Rule nie, und sie hatte gelernt, damit zu leben, dass alles so offen war, auch in der Nacht. Hier oben hatten sie genug Privatsphäre.
Das hatte sie bereits getestet.
Als sie an der Küche vorbeikam, packte Harry ihre Hand mit den Zähnen. Nicht um zu beißen, sondern um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Du weißt doch, wie es läuft“, erklärte sie ihm. Selbst Harry bekam nicht immer seinen Willen. In ihrer Handtasche befand sich ihre Waffe. Wachen hin oder her, sie wollte sie in ihrer Nähe haben, wenn sie ins Bett ging.
Außerdem mochte sie es, wenn die Dinge an ihrem Platz waren.
Als die Tasche im Schlafzimmer war, wo sie hingehörte, und die Waffe auf dem Nachttisch neben ihrem Bett lag, ging sie in die Küche, den zehn Kilo schweren, von einigen Schlägereien mit Narben gezeichneten Kater auf dem Arm. „Rule und ich wären auch ohne die Wächter nicht unter uns“, sagte sie, als sie Harry auf dem glänzenden Schieferboden absetzte. „Du bist ja immer hier. Wenigstens kratzen und beißen die Lupuswachen mich nicht oder beschimpfen mich.“
Kompromisse machen. Darum ging es im Zusammenleben. Sie hatte eine Katze, Rule hatte Bodyguards.
Und auch jetzt war Kompromissbereitschaft gefragt, wenn auch nicht zwischen Rule und ihr. Sie öffnete den Kühlschrank und holte eine Tüte mit Schinkenabfällen aus dem Feinkostladen heraus. Harry setzte sich neben seine Schale und guckte erwartungsvoll zu ihr hoch.
Rules Bruder Benedict hatte lange auf Rule eingeredet, er brauche Bodyguards. Nachdem Rule nun die Wächter der Leidolfs akzeptiert hatte, hatte Benedict sofort die gleiche Anzahl geschickt. In den darauf folgenden Verhandlungen war ausgemacht worden, dass die Nokolai am Wochenende Dienst taten und die Leidolf während der Woche.
Rule vermutete, dass dies die Lösung war, die Benedict von Anfang an angestrebt hatte. Lily vermutete, dass er recht hatte.
Sie riss eine Scheibe Schinken in zwei Hälften und legte sie in Harrys Schale, der sich schnell, wie ausgehungert (was er nicht war), darüber hermachte. Harry liebte Schinken.
Jetzt wohnten die Wachen der Leidolf in zwei der kleineren Wohnungen in diesem Gebäude. Auch bei der Frage, wer für ihre Unterkunft aufkommen sollte, war Kompromissbereitschaft gefragt gewesen. Nokolai war ein wohlhabender Clan und konnte es sich leisten, sie zu unterhalten, aber anfangs hatte Isen darauf bestanden, dass die Leidolf Miete bezahlten. Als Rho der Leidolf hatte Rule abgelehnt. Die Nokolai profitierten schließlich davon, dass ihr Lu Nuncio geschützt wurde.
Natürlich hätte Rule in der Frage der Miete machen können, was er wollte, denn er war es ja, der die finanziellen Angelegenheiten der Nokolai regelte. Aber das wäre – in seinen Augen – eine klare Verletzung seiner Pflichten gegenüber den Nokolai gewesen. Deshalb hatte er seinem Vater angeboten, darüber zu verhandeln. Nur Isen konnte auf offizieller Ebene mit einem anderen Clan reden – selbst wenn dieser Clan durch seinen Thronfolger repräsentiert wurde.
Es war also alles schrecklich kompliziert. Lily erinnerte sich nicht mehr an alle Einzelheiten, aber sie meinte zu wissen, dass am Ende die Leidolf die Nebenkosten der beiden Wohnungen übernahmen plus einer symbolischen Miete.
Ein bisschen wie sie. Sie seufzte und schloss den Kühlschrank. Dann lehnte sie sich für einen Augenblick dagegen. So müde war sie, dass sie nicht wusste, was sie als Nächstes tun sollte. Ihre Lider schlossen sich … und sie sah wieder Cullen mit leerem Blick reglos auf dem Boden liegen.
Lily schauderte. Als sie die Eingangstür hörte, kam wieder Leben in sie.
Rule stand in dem kleinen Entree und leerte seine Taschen. Anders als sie ließ er gern einfach alles fallen, sobald er über die Schwelle trat, deshalb hatte sie auf einen Konsolentisch eine Schale für seine Schlüssel und das Wechselgeld gestellt.
Sein Haar war in Unordnung. Nur selten sah es so zerrauft aus. Seine Augen waren müde, abgelenkt. Und er trug dieses dumme T-Shirt.
Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. „Hallo“, sagte sie, ging zu ihm und schlang die Arme um seine Taille.
„Hi.“ Er strich über ihre Arme und umfing ihre Taille. „Warum bist du nicht im Bett?“
„Harry“, erklärte sie. Seine Wärme beruhigte sie, und wenn ihr jetzt an einigen Stellen wärmer wurde als an anderen, war auch das angenehm. „Dann habe ich angefangen nachzudenken … Rule, war Cullen tot? Bevor Nettie zu ihm kam, meine ich.“
„Das hängt davon ab, wie du ‚tot‘ definierst.“
„Definier es für mich.“
Er seufzte und richtete sich auf. „Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, aber unsere Magie hält uns einige Zeit auch ohne Herzschlag am Leben.“ Er hielt inne. „Aber es war knapp. Verdammt knapp.“
„Ich habe gehört, knapp daneben ist auch vorbei. Wenn es darum geht, ob man lebt oder nicht, gibt es nur ein Ja oder ein Nein. Dann hieß es heute Abend also Ja.“
„So ist es.“ Er drückte die Lippen auf ihr Haar. Seufzte. Sie spürte, wie ein wenig von der Anspannung von ihm abfiel.
„Ich habe eine Frage.“
„Warum überrascht mich das nicht?“
„Wie lange kannst du es ohne Herzschlag aushalten?“
„Wenn du mich persönlich meinst, dann freue ich mich, dir mitteilen zu können, dass ich es noch nicht ausprobiert habe“, sagte er trocken. „Das ist von einem Lupus zum anderen unterschiedlich und hängt auch von der Schwere der Verletzungen ab.“
„Dann nenn mir einen ungefähren Durchschnitt.“
„Das wäre dann wirklich nur ungefähr, aber ich schätze, ungefähr doppelt so lange wie ein Mensch. Zehn Minuten oder so. Ich kenne einen Lupus, der wesentlich länger durchgehalten hat, aber das ist die große Ausnahme.“
„Wer?“
„Mein Vater.“
„Oh. Klar. Eure Fähigkeit, ohne Herzschlag auszukommen, ist kein Geheimnis, aber allgemein bekannt ist es auch nicht gerade, nicht wahr?“ Darüber dachte sie mit gerunzelter Stirn nach. „Und doch fand dieser Täter, ein Stich ins Herz sei nicht ausreichend, und hat die Klinge noch zusätzlich mit einem Zauber belegt.“
„Oder die Täterin.“
„Ich bin es leid, immer er oder sie zu sagen. Der Täter ist ein Mann. Ich habe ihn gesehen.“
Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Du bist nur müde.“
Das stimmte. „Ich glaube, der Täter wusste von dem Fest. Ein Profi hätte es gewusst, und ich gehe davon aus, dass er einer ist. Er beherrscht die Tricks eines Profis. Wenn das Timing also ganz bewusst gewählt war – aus welchem Grund? Was für einen Sinn kann es haben, Cullen inmitten all der Leute zu töten?“
„Er – oder wer immer ihn angeheuert hat, wenn es wirklich ein Auftragskiller war – wollte vielleicht eine öffentliche Erklärung abgeben.“
„Möglicherweise.“ War Rule immer noch fixiert auf die Heirat als Motiv? „Oder vielleicht mag er einfach die Menge. Manche Profis gehen ihre Zielpersonen gern auf der Straße oder bei einem Sportereignis an, weil sie sich ihnen im Schutz der Menge leichter nähern können. Und dieser Täter hätte keine Probleme damit gehabt, nicht aufzufallen, oder?“
„Nicht, wenn er die Leute dazu bringen kann, ihn für jemand anders zu halten.“ Er schwieg eine Weile. „Cullen hätte die Gabe des Täters gesehen, wenn er ihn nicht von hinten angegriffen hätte.“
„Ja, das stimmt.“ Lily straffte den Rücken. „Daran hätte ich denken müssen. Ich hätte Cullen fragen sollen … Vielleicht weiß es Cynna. Ist es eher ein Zauber oder eine Gabe? Gaben sind verlässlicher. Das bestätigt mir jeder, und Max sagt, für diesen Zauber braucht man sehr viel Energie. Wenn es also eine Gabe ist, ist es dann eine mentale wie Telepathie oder Charisma? Max glaubt, ja. In diesem Fall –“
„Hätte Cullens Schutzschild sie abgewehrt. Ja, ich glaube, du hast recht. Der Täter musste von hinten zuschlagen.“
„Wenn er von Cullens Schilden wusste. Vielleicht ist der Stich in den Rücken auch sein übliches Tatmuster. Ich muss herausfinden, ob –“
Auf einmal lag sein Mund auf ihrem. Sanft, nicht fest und mit der Sicherheit eines Liebhabers und dem leichten Kosen seiner Zunge. Wärme breitete sich in ihren unteren Gefilden aus. Ihre Finger schlossen sich fester um ihn. „Wofür war das denn?“
„Für dich.“ Er drückte einen weiteren Kuss auf ihre Lippen und wanderte dann weiter zu ihrem Hals. „Du musst dringend ins Bett.“
„Wahrscheinlich, aber nicht, um zu … Ah.“ Er hatte sie mit den Fingern im Nacken gestreichelt, auf eine Weise, die sie immer erschaudern ließ. „Schlaf“, sagte sie und versuchte zu klingen, als würde sie es auch meinen. „Kein Sex. Ich brauche Schlaf.“
„Du musst deinen Verstand abschalten.“ Er malte mit der Zunge eine Rune auf ihr Schlüsselbein. „Sonst wirst du nicht schlafen können.“ Jetzt suchte seine Hand nach einer ihrer beider Lieblingsstellen … ihren Po. „Damit kann ich dir helfen.“
Ein Kichern entschlüpfte ihr. „Du denkst immer an andere.“
„Natürlich. Ich denke zum Beispiel, dass dir zu warm ist.“ Seine Hände verließen ihren Posten und wanderten zum Reißverschluss im Rücken ihres Kleides. Langsam zog er ihn herunter, sie in einem Kuss ertränkend, tiefer dieser und reicher.
Kurz darauf fiel ihr Kleid zu Boden, und seine Hände fanden neue Stellen, die sie berühren konnten, während sein Mund sich einem Punkt an ihrem Hals widmete, den er besonders liebte.
„He.“ Etwas rührte sich in ihr, angenehm, vertraut und neu. Immer wieder neu. „Ich habe eine Frage, die mich schon den ganzen Abend beschäftigt.“ Sie ließ die Hände zu seinem Hintern in den Jeans gleiten. „Trägst du etwas darunter?“
„Mmm. Ich kann mich nicht erinnern. Du musst es wohl selbst herausfinden.“
Das tat sie. Sie zog an seinen Shorts und entdeckte, dass er tatsächlich nichts darunter trug.
Er ergriff ihre Hand und umfing ihre Taille und brachte ein paar Zentimeter Abstand zwischen sie. „Wir haben gar nicht miteinander getanzt“, murmelte er und begann zu summen.
Also tanzte sie in BH und Slip mit ihrem wunderschönen, nackten Rule vor den glitzernden Lichtern der Stadt. Er tanzte mit ihr durch das Wohnzimmer, ein Lied aus den 30er-Jahren summend, eines, das schon altmodisch gewesen war, als er geboren wurde.
Lily tanzte nicht mit ihm, weil er recht hatte, auch wenn es so war. Es stimmte, sie musste ihren Verstand abschalten. Aber eine schnelle heiße Runde zwischen den Laken – oder auf ihnen, im Flur oder wo immer – hätte schon dafür gesorgt. Um drei Uhr morgens durch das Wohnzimmer zu walzen, war jetzt nicht das, was sie brauchte.
Er aber. Er brauchte eine Ruhepause, Geborgenheit, Sex und Schlaf.
Der Sex war einfach. Schlaf? Den konnte sie nicht garantieren, aber Sex würde sicherlich dabei helfen. Und Geborgenheit konnte sie ihm auch bieten, dank des Bandes der Gefährten. Was die Ruhepause anging … dafür sollte dieser Tanz wohl sorgen. Ruhepause bedeutete, dass etwas zu einem Ende kam, und er wollte diesen langen, schwierigen Tag auf seine eigene sture Art zu einem Ende bringen: Blut und Gewalt waren vielleicht Teil ihres Lebens, aber sie sollten es nicht ganz bestimmen.
Ein Spiel konnte ebenso wirklich sein. Denn was war Romantik anderes als ein schönes Spiel zwischen Mann und Frau?
Alberner, sturer, unglaublich romantischer Mann. Er streichelte sie weiter, aber so, wie er es auch auf einer Tanzfläche hätte tun können.
Noch nicht.
Er hielt in der Bewegung inne, um sich zu bücken und die Lampe, die sie brennen gelassen hatten, auszuknipsen. Leise lachte sie über die plötzliche Dunkelheit, die Lichter der Stadt und sich selbst.
Mit den Händen auf ihren Hüften fuhr er fort, zu seiner eigenen Musik zu tanzen, aber die Melodie änderte sich und hatte nun einen härteren, bestimmten Takt. „Was ist denn so lustig?“
„Ich.“ Sie schlang die Arme um seinen Hals und wiegte sich mit ihm, in sein Summen einstimmend. Wie selbstlos von ihr, für einen Mann ein wenig Schlaf zu opfern, der so fest entschlossen war, dafür zu sorgen, dass es kein Opfer für sie sein würde. Wie konnte eine Frau einem Mann geben, wenn dieser es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr zu geben?
Sie wollte sich anstrengen. Lily lächelte in das Dämmerlicht und schob sich näher an ihn heran. Jetzt berührte sie ihn bei jeder Bewegung leicht.
Das gefiel ihm. Er grollte tief auf eine Art, die sie niemals ein Schnurren nennen würde – selbst wenn es sie an Dirty Harry erinnerte. Seine Hände fassten ihre Hüften fester. Eine begann weiterzuwandern … fasste sie an, hier und da, ganz sanft, aber nie an der Stelle, die sich so nach ihm sehnte. Sie drückte sich näher an ihn.
„Oh, oh.“ Die Hand auf ihrer Hüfte zog sie zu ihm, wahrte aber noch einen kleinen Abstand zwischen ihnen. Plötzlich wirbelte er sie herum – einmal, dann wieder –, und sie musste trotz ihrer Frustration lachen. Vor dem dunklen Tunnel des Flurs kamen sie schließlich zum Stehen. Wieder wurde er langsamer.
Noch zweimal drehte er sie summend im Flur, dann fiel ihr BH zu Boden.
An der Tür zum Schlafzimmer glitt ihr Slip an ihren Beinen hinunter.
Als sie das Bett erreicht hatten, schoben sich seine Finger zwischen ihre Beine. Ein leichtes Streicheln, ein sanftes Reiben, dann schneller – und sie kam.
Für einen kurzen Moment dachte sie an nichts mehr, vergaß alles, sogar, dass sie Beine hatte und stehen konnte. Glücklicherweise fing er sie auf und glitt in sie, während die Wellen sie immer noch durchliefen.
Offenbar hatte er genug gespielt, denn er kam sofort mit einem einzigen harten Stoß, der sie, deren Körper ohnehin noch hochempfindlich war, zu einem zweiten Höhepunkt brachte.
Als Nächstes spürte sie, wie er auf sie sank und hörte seinen schweren, schnellen Atem neben ihrem Kopf. Matt hob sie die Hand und strich ihm über das Kinn. „Mmm. Prickelnd.“
„Prickelnd?“ Er klang amüsiert, schläfrig.
Sie nickte mit geschlossenen Augen. „Wie ein Fruchtbonbon, ein Ganzkörper-SweeTART. Das zweite Mal, meine ich, nicht das erste Mal. Der Erste war …“ Ihr benommenes Hirn fand kein passend explosives Nahrungsmittel für einen Vergleich. Sie entschied sich für: „Wow.“
„Ah.“ Er rollte sich von ihr herunter. „Finde ich auch. Wow. Komm hier herüber. Ich hole die Decke.“
Sie rückte zu ihm, half ihm bei der Decke und kroch darunter. Auf der Tagesdecke war eine feuchte Stelle – der einzige Nachteil, wenn man mit einem Lupus schlief. Weil sie keine Geschlechtskrankheiten bekamen und sie auch nicht weitergaben, brauchten sie keine Kondome zu tragen. Und keine Kondome, das hieß feuchte Stellen, es sei denn, man traf Vorsichtsmaßnahmen. Was sie vergessen hatten – wieder einmal.
Aber das war nicht schlimm. Die Tagesdecke würde sie einfach morgen früh waschen.
Rule legte den Arm über sie. Lily kuschelte sich an ihn, schloss die Augen und genoss die Wärme des Bettes, seinen Körper an ihrem, das Gefühl der Entspannung, den betäubenden Sog des Schlafes.
Von irgendwoher kam ein Gedanke.
Rule hatte sie nicht geliebt wie ein eifersüchtiger Mann, oder? Nicht besitzergreifend, nicht fordernd. Zu keinem Zeitpunkt, als er mit ihr getanzt hatte. War sie jetzt erleichtert oder enttäuscht?
Sie wusste es nicht. Und es war auch nicht wichtig. Lily seufzte und ließ den Gedanken weiterziehen.