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An dem Toten haftete keine Magie. Weder an der Eintrittswunde noch am Herzen. So lange nach dem Tod hatte Lily eigentlich auch nicht erwartet, etwas zu finden, aber es hätte ihr erlaubt, die Verbindung zwischen diesem Mord und dem Angriff auf Cullen herzustellen. So aber mussten sie sich weiter Vermutungen überlassen.
Dennoch waren es begründete Vermutungen, und der leitende Ermittler war T.J. Er würde mit ihr zusammenarbeiten, genauso wie sie mit ihm. Das Abkommen hielt sie zwar davon ab, Ruben zu informieren, aber T.J. war kein Bundesbeamter. Er musste erfahren, womit er es möglicherweise zu tun bekam.
Dr. Davis überwachte höchstpersönlich, dass sie sich anschließend sorgfältig die Hände wusch. Als sie fertig war, gestattete er ihr großzügig, sich wieder unter die Leute zu mischen und sogar zu essen.
Etwas zu essen war eine sehr gute Idee, und sie wusste auch schon, wo. Rosa war ein einfaches mexikanisches Restaurant nur ein paar Straßen weiter. Der überfüllte Gastraum hatte eine Klimaanlage zu bieten, die für eisige Luft sorgte, superscharfe enchiladas verdes und einen Fernseher, in dem immer ein lokaler spanischer Sender lief. Dorthin lud Lily T.J. zum Mittagessen ein.
Dieser hatte im Moment zwei Fälle bei der Gerichtsmedizin, und während er sich mit Dr. Davis über eine andere Leiche unterhielt, ging Lily schon einmal zu Rosa und bestellte für sie beide. Sie wählte einen Tisch, von dem aus sie ihn sehen konnte, wenn er kam. Auf diese Weise hatte sie sogar noch den Fernseher im Blick, in dem eine mexikanische Telenovela lief.
Es war wie in alten Zeiten. T.J. hatte schon früher immer darauf bestanden, dass es eine Frage des Berufskodexes, der Höflichkeit und des Anstands sei, dass jüngere Detectives für ihre älteren Kollegen bezahlten. Jetzt hatte er behauptet, dass eine reiche FBI-Agentin es sich leisten könne, ihre unterbezahlten Kollegen von der Polizei einzuladen.
Während sie auf das Essen und auf T.J. wartete, nahm sie sich ihr Notizbuch vor. Über ihr Gespräch mit Sam hatte sie sich noch keine Notizen gemacht. Sie musste dringend ihre Gedanken ordnen – und wissen, ob sie es überhaupt noch konnte. Oder würde das Abkommen sie auch daran hindern, Informationen niederzuschreiben?
Doch zuerst würde sie ein paar Anrufe machen. Unter Rules Nummer erreichte sie nur seine Mailbox. Mit den Fingern auf dem Tresen trommelnd, hinterließ sie ihm eine Nachricht; knapp und geschäftsmäßig fragte sie, was er Cynna und Cullen erzählt habe.
Danach tat ihr der Bauch weh. Sie verstand nicht, warum. Es war nicht einmal ein besonders großer Streit gewesen. Natürlich war sie wütend gewesen, wer wäre das nicht? Er hatte sich aber auch wirklich einen ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um wegen der Hochzeit eingeschnappt zu sein. Er …
Hatte recht, verdammt. Ihr Ärger verpuffte wie die Luft aus einem Ballon. Sie hatte überreagiert. Der Bann, mit dem dieses blöde Abkommen sie belegte, versetzte sie in Wut, und die hatte sie an Rule ausgelassen. Das war nicht fair.
Und Rule hatte noch mit etwas anderem recht. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es richtig war, Rule zu heiraten, aber … Nun, manchen Leuten mochte es genügen, auf ihre innere Stimme zu hören, aber sie brauchte Gründe. Sie waren lebenslang aneinander gebunden, mit oder ohne staatliche Urkunde. Warum also heiraten?
Statt darüber nachzudenken, hatte sie so getan, als sei seine Frage dumm. Aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht verstand, empfand sie es Rule gegenüber als illoyal, die Heirat infrage zu stellen.
Lily seufzte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, keine Fragen zu stellen.
Aber sie war nicht die Einzige, die Fehler gemacht hatte. Rules Ärger musste schon seit einer Weile vor sich hinköcheln, aber er hätte das Thema schon viel früher anschneiden oder es noch ein bisschen länger auf der Herdplatte stehen lassen sollen. Zum Beispiel bis sie nicht mehr versuchten, ein unsterbliches Wesen davon abzuhalten, die ganze Stadt zu zerstören und eine Welle illegaler Immigration auszulösen, die möglicherweise der Untergang der Zivilisation war.
Sie tippte mit ihrem Stift auf das Notizbuch. Wie viele von diesen Chimei gab es überhaupt? Wie sollte man sie aufhalten, wenn sie gar nicht Gestalt annahmen?
Am besten war es, das alles einmal zu Papier zu bringen. Zuerst schrieb sie die wesentlichen Punkte darüber auf, was Sam ihnen über die Chimei gesagt hatte. Das Abkommen hinderte sie nicht daran. Aber vielleicht würde es ihr später nicht möglich sein, ihre Notizen jemandem zu zeigen. Sie notierte sich, das später herauszufinden, und machte dann erst mit ihrem Gespräch mit Li Qin und mit Rubens Anruf weiter. Anschließend saß sie einfach da, mit dem Stift auf den Tisch tippend.
Vor dreihundert Jahren hatte ihre Großmutter den Geliebten der Chimei getötet. Ein komischer Gedanke, dass ihre Großmutter älter als die Vereinigten Staaten sein sollte – aber der Punkt war, dass man die Chimei aufhalten konnte, indem man ihren Partner tötete. Doch wäre das nur eine vorübergehende Lösung und keine, die für Lily infrage käme. Sie war ein Cop. Sie verhaftete Menschen. Sie brachte sie nicht um.
Natürlich hätte Lily die Chimei ganz legal töten können, wäre sie zu töten gewesen. Aber die Chimei war nicht menschlich. Das Gesetz war sehr schwammig in Bezug auf Nicht-Menschen, aber direkt nach der Wende, als zahlreiche Kreaturen durch die Energiewinde hierher geweht worden waren, hatte der Kongress den Mitarbeitern der Einheit einen recht großen Handlungsspielraum gegeben.
Aber sie war kein staatlicher Auftragskiller, verdammt. Ihre Auffassung von ihrer Arbeit sah anders aus.
Und außerdem war sie selbst nicht hundertprozentig menschlich.
Ihre Gedanken gerieten kurz ins Stocken – wie ein schneller geistiger Schluckauf, der sie so gründlich unterbrach wie eine Sirene.
Sie verstand, was sie daran störte. Ihr Selbstbild geriet ins Wanken. Bis zum letzten Jahr hatte sie sich selbst ja noch nicht einmal für begabt gehalten. Sensitivität wurde nicht als Gabe gesehen, denn sie wehrte Magie ab und wirkte sie nicht – war also das genaue Gegenteil.
Als sie herausgefunden hatte, dass es doch eine Begabung war, sensitiv zu sein, war sie erschüttert gewesen. Freilich nicht lange. Aber jetzt war es, als … als würde sie herausfinden, dass sie nicht ganz Frau war.
Was bedeutete es, „Drachenblut“ in sich zu haben?
Eine den Drachen eigene Fähigkeit hast du bereits angefangen auszubilden, hatte Sam gesagt. Und dass sie es nicht wahrhaben wollte.
Gedankensprache? So redete sie nur mit ihm, und ihre Gespräche mit dem schwarzen Drachen konnte sie wohl kaum nicht wahrhaben. Wie sollte es ihr möglich sein, mit anderen in Gedankensprache zu reden, wenn ihre Gabe sie daran hinderte, Magie anzuwenden? Wollte sie das überhaupt?
Unwillkürlich begann Lily diese Fragen aufzuschreiben. Bei „Wie sollte“ hielt sie inne.
Ihr Notizbuch konnte dem Gericht als Beweismittel vorgelegt werden. Und über Gedankensprache und Drachenblut wollte sie nur sehr ungern in einem Kreuzverhör befragt werden.
Also wandte sie sich wieder der ursprünglichen Frage zu. Was konnte sie gegen die Chimei ausrichten?
Aus dem, was Li Qin gesagt hatte, schloss sie, dass von dem Band zwischen der Chimei und ihrem Geliebten die Körperlichkeit der Chimei abhing oder ihre Fähigkeit, die Sinne anderer zu manipulieren. Oder beides. Darüber musste Lily mehr erfahren.
Großmutter, schrieb sie. Und unterstrich es. Und setzte Cullens Namen daneben. Entweder die Chimei oder ihr Geliebter sahen ihn als echte Bedrohung. Vielleicht hatte er eine Idee, wie die Verbindung zwischen den beiden unterbrochen werden konnte, ohne es zu einem Mord kommen zu lassen.
Okay – einmal angenommen, sie fand den Zauberer. Ein paar Dinge wusste sie bereits über ihn, und dank Dr. Davis hatte sie auch einen ersten Anhaltspunkt. Angenommen, es würde ihr gelingen, das Band zwischen ihm und der Chimei zu durchtrennen – Vielleicht verstieg sie sich jetzt zu sehr, aber konnte es sein, dass dieses Band so ähnlich wie das war, was sie kannte und von dem sie doch so wenig wusste? Das Band der Gefährten, das sie mit Rule verband?
Wenn ja, musste die Chimei sich dann auch immer in der Nähe ihres Geliebten aufhalten?
Sie unterstrich diese Frage. Wie praktisch, wenn die Antwort darauf „Ja“ lauten würde. Dann mussten sie die beiden nur noch trennen, um sie zu schwächen oder vielleicht sogar handlungsunfähig zu machen.
Aber wenn man alle Vermutungen einmal beiseiteließ, blieb immer noch die Frage: Wie sollte sie den Zauberer verhaften? Seine Magie konnte Lily nichts anhaben, aber wenn er ein Feuer entfachte, würde es sie verbrennen wie jeden anderen auch. Und wenn er wusste, wie man magisches Feuer rief … Ihre Hände wurden feucht, als sie sich an den Schmerz erinnerte.
Letztes Jahr hatte Cullen magisches Feuer benutzt, um einen alten, machtvollen Stab zu zerstören. Bis heute wussten sie nicht sicher, ob die Narbe auf Lilys Bauch von dem magischen Feuer selbst herrührte oder von der enormen Hitze, die es ausgestrahlt hatte. Angeblich war sie immun gegen magisches Feuer, aber das Feuer, das Magier riefen, war anders. Schwarzes Feuer wurde es auch genannt. Cullen behauptete, es sei in der Lage, alles zu verbrennen.
Außerdem war seine Hitze auf seltsame Weise örtlich begrenzt. Cullen glaubte, dass das schwarze Feuer die meiste Hitze, die es produzierte, auch selbst konsumierte. Aber der Stab hatte sie berührt, als Cullen ihn zerstört hatte, sodass auch seine extrem lokalisierte Hitze ihr die Brandwunde hätte zufügen können.
Beiden Thesen nachgehen, um zu sehen, welche zutraf, konnte sie ja schlecht. Abgesehen von der Gefahr – schwarzes Feuer war sehr schwer unter Kontrolle zu halten –, hatte Lily nicht die Absicht, sich von Cullen noch einmal einen Körperteil grillen zu lassen.
Genug jetzt. Wusste dieser Zauberer, wie man magisches Feuer rief? Eigentlich handelte es sich um eine uralte, längst vergessene Kunst, aber Cullen hatte sie sozusagen neu erfunden. Wenn er es konnte, dann sicher auch andere. Sie notierte sich, Cullen danach zu fragen, und außerdem, welche anderen Tricks der Zauberer vielleicht beherrschte.
Und weiter: Wie machte man einen Zauberer unschädlich? Damals, während der sogenannten Säuberung, hatten sie es sich einfach gemacht, indem sie Hände abgehackt und Zungen herausgeschnitten hatten. Das war jedoch nichts, was heutzutage für den Bundesstrafvollzug in Betracht gekommen wäre.
Offenbar war sie nach Sams Geschichte völlig durcheinander gewesen, wenn sie vergessen hatte, ihm solche wichtigen Fragen zu stellen. Wenn Sam sie nicht beantworten konnte oder wollte, blieb immer noch Li Qin. Oder ihre Großmutter.
Wo war sie? Lily unterstrich Großmutter ein zweites Mal. Diese eine Frage würde sie vielleicht beantworten können … mit der Hilfe einer Freundin. Cynna war eine sehr gute Finderin. Die beste.
Und was, in Gottes Namen, führte Sam im Schilde?
Er manipulierte sie. Dessen war sie sich sicher. Vielleicht zwang ihn die geis dazu. Vielleicht hatte er, wie Li Qin sagte, ein lohnendes Ziel. Aber sie hatte ein ungutes Gefühl dabei.
„Bist du so vertieft in deine Kritzeleien, dass du mich nicht siehst?“, beschwerte sich T.J. „Wenn ich gewollt hätte, hätte ich dich einfach umlegen können.“
„Ich habe dich gesehen“, sagte Lily, ohne aufzusehen, während sie zu Ende schrieb. „Und selbst wenn nicht – da kommt gerade die Kellnerin mit unseren Tellern, und das heißt, dass du in der Nähe bist.“
Er grinste und zog sich einen Stuhl heran. „Ich habe eben ein Gespür für richtiges Timing. Das behauptet Camille jedenfalls immer, und sie muss es ja wissen.“ Er wackelte mit den Augenbrauen.
„Wie kommst du darauf, dass ich an deinem Liebesleben interessiert bin?“
„Ich habe gesehen, wie du meinen Hintern taxiert hast. Was hast du mir bestellt … Ah, da ist es ja. Mit extra Jalapeños. Danke, Süße.“
T.J. weigerte sich hartnäckig zu glauben, dass Kellnerinnen nicht gerne „Süße“ genannt wurden. Lily nahm ihren Teller mit einem Nicken entgegen, blätterte zu einer leeren Seite um und sagte: „Reden wir über die Xings. Was weißt du über sie?“
Rule beendete seinen Bericht über das, was er und Lily erfahren hatten. Es folgte ein langes Schweigen.
Er hatte drei Zuhörer: Cullen, Cynna und Max. Jason war auch anwesend, schlief aber tief und fest. Nettie kümmerte sich um Cullens Entlassung und den Krankentransport. Noch heute Nachmittag würde er in Sams Höhle gebracht werden, begleitet von ein paar medizinischen Geräten, Nettie und Jason. Nettie würde bald wieder gehen, Jason aber bleiben.
Und Cynna selbstverständlich. Rule fragte sich, ob Sam mit so vielen Gästen gerechnet hatte, als er Cullens Aufnahme zugestimmt hatte.
Schließlich brach Cynna das Schweigen. „Also haben wir es mit zwei Gegnern zu tun, und einer von ihnen ist ein Zauberer. Weil Lily ihn gesehen hat, wissen wir ungefähr, wie er aussieht, was uns aber nicht viel weiterhilft, denn er kann alle außer Lily glauben machen, dass er jemand anders ist. Der andere Gegner ist irgendeine Art von außerweltlichem Wesen, das einige Hundert oder Tausend Jahre alt ist. Ein magisches Schwergewicht, das sich von Angst ernährt und nicht getötet werden kann.“
„Außer von Drachen anscheinend“, bestätigte Rule.
„Gut, dass ich hier bald fort bin“, sagte Cullen. „Der braucht sicher nicht lange, um mich zu finden.“
Rule sah seinen Freund an. Cullens Haut war wächsern, und seine Atmung ging flach. Von der Bettkante baumelte eine Sauerstoffmaske, die er nur widerwillig aufsetzte. Nach einigen Diskussionen hatte Nettie ihm erlaubt, sie dann und wann für kurze Zeit abzusetzen. In seiner Lesart – immer wenn er wach war.
Seine Genesung schritt nicht voran. Nach Netties Befund ging es ihm nicht schlechter, aber er heilte nicht. „Lily hat jede ihr mögliche Vorkehrung getroffen, damit dein Aufenthaltsort nicht publik wird. Du bist hier unter einem anderen Namen, du wirst nicht vom Krankenhauspersonal gepflegt, das über dich tratschen könnte und –“
„Und der Killer ist ein Zauberer.“ Cullen schnaubte matt. „Glaubst du, er ist nicht in der Lage, seinen eigenen Zauber wiederzufinden, der zufällig in meiner Brust steckt?“
„Mist!“, sagte Cynna plötzlich. „Ich bin eine Finderin. Ich hätte daran denken müssen. Warum habe ich nicht daran gedacht?“
Cullen lächelte schwach. „Du bist nicht daran gewöhnt, dass jemand dasselbe kann wie du. Und du bist vielleicht ein bisschen abgelenkt.“
Cynna umklammerte seine Hand und schenkte ihm einen langen, eindringlichen Blick, in dem all die Dinge lagen, die Liebende sich auch schweigend sagen können. Rule sah Sorge in diesem Blick und ein Versprechen. Ohne Zweifel sah Cullen noch viel mehr.
Leise sagte sie: „Es wäre sinnlos, wenn ich jetzt den Schutzbann verstärken würde. Das kannst du viel besser als ich. In der Zeit, in der ich irgendetwas zustande gebracht hätte, was auch nur andeutungsweise einen Findezauber ablenkt, faulenzt du schon längst in der Drachenhöhle.“
Cullens Lider begannen schwer zu werden. „Wo Sams Banne alle abhalten werden, die er nicht dort haben möchte. Obwohl ich nichts dagegen hätte, wenn er den Mistkerl als Mittagssnack verspeisen würde.“
„Sam hat Banne?“, fragte Rule überrascht. „Ich wusste nicht, dass Drachen dazu in der Lage sind.“
„Die jungen, wie Micah, nicht. Ich glaube, das können sie gar nicht. Die Fähigkeit, Magie zu wirken … scheint … erst mit dem Alter zu kommen. Sams Banne … sind sehr elegant. Ich kann es kaum erwarten …“
„Sauerstoff“, sagte Cynna entschieden und nahm die Maske.
Cullen machte ein Gesicht. „Ich will …“
„… kein Baby sein“, beendete sie den Satz für ihn und drückte ihm die Maske aufs Gesicht.
Rule grinste. Er beobachtete gern, wie die beiden miteinander umgingen.
Cullen holte ein paar Mal langsam und tief Luft, dann entfernte er die Maske wieder. „Essen.“
Rule warf Cynna einen Blick zu. „Was sagt Nettie dazu?“
„Er kann eigentlich essen, was er will“, sagte sie. „Damit ihm niemand das Essen auf dem Tablett vergiftet, sollen wir es selbst aus der Cafeteria von unten holen.“
„Nicht wir“, sagte Max. „Er.“ Er deutete mit dem Daumen auf Rule. „Er ist hier am wenigsten von Nutzen.“
Rule zog die Augenbrauen hoch.
Max kicherte. „Das hörst du wohl nicht gern, was? Klar, du hättest dich schneller als wir auf jemanden gestürzt – wenn du sehen könntest, auf wen. Du kannst es nicht, ich aber. So einfach ist das. Und was die anderen betrifft: Cynna merkt es, wenn ihre Banne durchbrochen werden, und Jason kann sich, wenn nötig, um die medizinischen Probleme kümmern. Du wirst hier nicht gebraucht.“ Er grinste boshaft. „Ich nehme einen Cheeseburger und Fritten mit allem.“
Max war unausstehlich, aber er hatte recht. Rule nahm die Bestellungen der anderen auf, auch von Jason, der mittlerweile aufgewacht war, obwohl er erst davon überzeugt werden musste, dass es in Ordnung war, dass sein Lu Nuncio ihm Essen brachte. „Das wirst du nicht alles essen können“, sagte Rule zu Cullen, als dieser um drei doppelte Cheeseburger mit Fritten bat. „Du wirst eingeschlafen sein, bevor du fertig bist.“
„Dann rieche ich es eben nur. Worüber habt ihr, du und Lily, euch gestritten?“
„Das ist es also“, rief Cynna. „Ich habe mich schon gewundert.“
Kalt sagte Rule: „Ich habe keine Ahnung, wovon ihr sprecht.“
„Ihr habt euch gestritten“, stellte Cullen fest. „Erstens: Du bist ohne sie hier. Zweitens: Du bist sauer. Auf alle. Und auf so gut wie alles. Du wurdest sogar sauer, als Max dich geärgert hat, und das wirst du sonst nie. Warum auch, es hat doch keinen Sinn. Drittens –“
„Du kannst einem schrecklich auf die Nerven gehen.“
Cullen brachte ein Grinsen zustande. „Siehst du? Du bist sauer.“
Rule beschloss, nicht weiter auf das Thema einzugehen. „Ich glaube, ich habe jetzt alle Bestellungen. Ich bin zurück, so schnell es geht. Seid vorsichtig. Wenn dieser Zauberer Cullen ausfindig gemacht hat –“
Max prustete. „Da will das Küken klüger sein als die Henne.“
„Ich komme mit und helfe dir tragen“, bot Cynna an.
„Das ist nicht nötig. Wie Max schon sagte, du wirst hier gebraucht, um den Bann zu überwachen.“
„Den muss ich sowieso wieder neu errichten, wenn du durch die Tür bist. Dann kann ich dich genauso gut noch bis zur Treppe bringen.“
Vielleicht sollte er sie fesseln, um dem Gespräch zu entgehen, das sie offenbar unbedingt mit ihm führen wollte. Da er das aber nicht tun wollte, kapitulierte er. „Ich nehme den Aufzug.“
„Na gut. Aber die Cafeteria ist im Untergeschoss.“
„Vier Stockwerke werde ich schon überleben.“ Auf keinen Fall würde er seine Phobie noch füttern, indem er sich wieder drückte. Einmal war ja noch zu entschuldigen. Aber zweimal war der erste Schritt zur Gewohnheit.
Cullen ergriff wieder das Wort, als Rule schon an der Tür war. „Rule?“
Er blieb stehen und sah zu seinem Freund zurück.
„Der Mistkerl hat es auf mich abgesehen, weil er weiß, dass ich ihn sehen kann. Vielleicht weiß er von meinen Schilden, vielleicht auch nicht – aber er weiß, dass ich die Magie sehe, die er benutzt, und dass er ein Zauberer ist. Auch Lily kann ihn sehen, wie er wirklich ist.“
„Laut Sam könnte Lily durch das Abkommen gegen einen direkten Anschlag geschützt sein.“
„Vor der Chimei.“
Er erschauderte, als er begriff. Sie waren davon ausgegangen – oder besser gesagt, Sam hatte sie glauben lassen –, dass Lily nicht angegriffen werden würde. Sam glaubte, dass die Chimei die möglichen Konsequenzen verstand und das Abkommen respektierte. Aber galt das genauso für ihren Geliebten?
Das wussten sie nicht. Sie hatten keinen blassen Schimmer, und weil er sich von seinem Ärger hatte hinreißen lassen, war Rule jetzt nicht bei ihr. Er nickte Cullen einmal kurz grimmig zu und machte sich auf den Weg, um das Mittagessen zu holen.