29
Das Treppenhaus war nicht klimatisiert. Oder die Lüftung war nur sehr schwach eingestellt. Lily gab auf und zog ihre Jacke aus. Umgeben von all diesen Polizeibeamten würde der Anblick ihrer Waffe niemanden stören. Und wenn doch, hatte er eben Pech gehabt.
„Tatsächlich ist das Feuer an zwei Stellen ausgebrochen“, sagte sie, als sie die Treppe hochstiegen. Rule ging hinter ihr her. „Im zweiten und im dritten Stock, beide Male in der Nähe des Treppenhauses. Er wollte verhindern, dass die Leute es als Fluchtweg benutzten, denn das war sein Weg, um rein- und rauszukommen.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass es auch im dritten Stock brannte. Dort war der Rauch längst nicht so dicht wie im zweiten Stock.“
„Hennessey glaubt, dass dieses Feuer von allein ausgegangen ist. Ich vermute, unser Täter hat es gelöscht, nachdem er die Leute vom Treppenhaus vertrieben hatte. Er musste den Flur benutzen und wollte sich ja nicht selbst verbrennen. Das Feuer im zweiten Stock kümmerte ihn nicht, denn es war ja keine Bedrohung für ihn.“ Es war eines von drei Feuern, die Opfer gefordert hatten.
„Gibt es viele Todesopfer?“, fragte Rule.
„Drei, die bestätigt wurden. Einer hing an der Beatmungsmaschine, als der Strom ausfiel. Einer wurde gerade operiert. Der Dritte hat vermutlich zu viel giftiges Zeug eingeatmet. Das ist die häufigste Todesursache bei einem Brand, weißt du – der Rauch. Wenn man zu viel davon einatmet, schließen sich die Atemwege. Und drei weitere sind in einem kritischen Zustand – einer hat schwere Verbrennungen –, und mindestens ein Dutzend weitere werden wegen Rauchvergiftung behandelt, aber ihr Zustand ist wohl nicht kritisch. Wie viele tatsächlich unter den Folgen des Stromausfalls leiden, weiß niemand genau.“
Diese Menschen hätten nicht sterben müssen. Keiner von ihnen. Wenn der Mistkerl getötet hatte, war es auch ihre Verantwortung. „Das Feuer diente der Ablenkung. Aber warum die Bombe? Warum hat er die Leute nicht einfach in Schlaf versetzt und ist dann reinmarschiert und hat Cullen getötet?“
„Er kennt uns nicht. Uns Lupi, meine ich. Er weiß nicht, was bei uns wirkt, aber mit einer fetten Explosion ging er auf Nummer sicher.“
Das ergab Sinn. „Du sagtest, du habest den Täter gesehen, als er die Bombe legte. Hast du sein Gesicht erkannt?“
„Ich habe eigentlich nicht beobachtet, wie er sie legte. Ich sah nur, wie er aus der Flurnische trat. Seine Züge konnte ich nicht erkennen – die Sicht war zu schlecht. Aber er ist klein, weder massig noch groß. Dunkles Haar. Er trug eine Krankenhausuniform.“
„Woher wusstest du, dass es der Täter war?“
„Zu diesem Zeitpunkt war es reiner Instinkt. Aber er war wach. Und er ergriff die Flucht, als er mich sah.“
Sie nickte. „Erzähl mir, was passiert ist.“
Das tat er. Als sie hörte, dass Rule sich in einem Aufzug befunden hatte, als der Strom ausgefallen war, stockte ihr der Atem. Wie schlimm musste das für ihn gewesen sein! Und trotzdem war er damit klargekommen. Er hatte die Praktikantin und sich selbst befreit – und war dann ein Aufzugkabel hochgeklettert.
Als er mit seinem Bericht zu Ende war, klebte Lily das T-Shirt am Rücken. Sie rief sich in Erinnerung, dass ihre dreihundert und noch etwas Jahre alte Großmutter eben diese Treppe in derselben Hitze erklommen hatte. Dann würde sie es wohl auch schaffen.
Deswegen hattest du nichts dagegen, zu warten, dachte sie, an Sam gerichtet. Du wusstest, dass Großmutter hierher kommen würde. Du hast auf sie gewartet.
Sam antwortete nicht, aber sie spürte einen Hauch, der dem Schnauben ihrer Großmutter sehr ähnelte, wenn man so dumm war, etwas sehr Offensichtliches auszusprechen.
Er befahl ihr nicht, laut zu sprechen. Sollte das heißen, dass sie jetzt klarer dachte? Oder hatte sie etwas getan, das der echten Gedankensprache nahekam? Woran aber konnte sie so etwas merken? Halb erwartete sie eine spitze Bemerkung von Sam – etwas wie: „Wenn du die Gedankensprache richtig lernen würdest …“
„Sam will, dass ich die Gedankensprache lerne“, sagte sie unvermittelt.
Hinter ihr fragte Rule: „Möchtest du das denn?“
„Ich weiß nicht. Es sieht so aus, als müsste ich es. Gedankensprache könnte in manchen Situationen ganz nützlich sein, aber wo ist der Haken? Es gibt immer einen Haken. Und wie lange würde ich dafür brauchen? Ich habe nicht viel Zeit. Wahrscheinlich weiß ich einfach noch nicht genug darüber. Bevor ich mich entscheide, muss ich ihm noch ein paar Fragen stellen.“ Sie hob den Blick, sah die steil aufsteigenden Stufen vor ihr und zog eine Grimasse. „Wenn ich Gedankensprache könnte, könnte ich eine Unterhaltung selbst dann führen, wenn ich außer Atem bin.“
„Nur noch eine Treppe. Ich könnte dich tragen.“
Sie hörte, wie er grinste. Sie musste sich nicht einmal umdrehen, um sich zu vergewissern. „Mit dem verletzten Arm? Nein, halt einfach den Mund, damit ich mich nicht ärgere. Die Hitze macht mich grantig.“
Er erwiderte nichts. Trat nur wortlos neben sie und nahm sie bei der Hand. Und das half. Ein wenig von der Anspannung und Gereiztheit fiel von ihr ab.
Trotzdem war sie erleichtert, als sie den dritten Stock erreicht hatten, die Tür öffneten und in die kühlere Luft hineintraten. Es roch noch nach Verbranntem, aber sonst … „Sieht alles ganz ruhig aus“, stellte sie fest.
„Ruhiger als das letzte Mal, als ich hier war“, sagte er trocken. „Die Todesopfer … Weißt du, ob eine Frau darunter ist, die Maria heißt?“
Sie sah ihn neugierig an. „Nein, tut mir leid. Die Namen kenne ich nicht. Willst du, dass ich mich erkundige?“
„Nein, nicht so wichtig.“
Sie war sich sicher, dass es doch wichtig war, drängte ihn aber nicht. Wer Maria war, würde sie später herausfinden.
„Du hast einen Blick, als läge dir ein Dutzend Fragen auf der Zunge.“
„Oh, Fragen habe ich.“ Viele davon hatte sie in ihrem Notizbuch notiert, das aber leider in T.J.s Wagen lag. „Und viele fangen mit einem Warum an. Warum ist der Zauberer so darauf aus, Cullen zu töten? Warum ist Großmutter aus ihrem Versteck gekommen? Warum ist die Chimei jetzt erschienen und nicht letztes Jahr oder vor zehn Jahren oder erst im nächsten Jahr?“
„Zum letzten Punkt habe ich eine Vermutung. Die Wende.“
Sie nickte. Darauf war sie auch gekommen, aber eine echte Erklärung war es nicht. Die Wende hatte letzten Dezember stattgefunden. Warum hatte die Chimei sich erst Monate später gezeigt? War sie in China gewesen? Vielleicht hatte es etwas gedauert, ihren Geliebten aus dem Land zu bekommen, auch wenn sie mit ihren magischen Kräften nachhelfen konnte. Oder war sie aus irgendeinem Grund bis jetzt nicht bereit gewesen? Und wenn ja, konnten sie irgendetwas tun, um sie wieder zurück in diesen Zustand zu versetzen?
Lily wusste nicht genug. Das war der Grund, warum sie jetzt Cullens Zimmer ansteuerte, statt die Ermittlungen zu organisieren. Dort hielt sich ihre Großmutter auf, und Sam war ganz in der Nähe, und von ihnen würde sie sicher Antworten auf ihre Fragen bekommen.
Sie kamen bei der Nische an, die zu den Quarantäneräumen führte. Lily sah, dass Fingerabdrücke abgenommen wurden. Gut. Der Zauberer war vermutlich zu professionell, um diesen Fehler zu machen, aber andererseits hatte er erwartet, dass hier alles in die Luft ging. Vielleicht war er unvorsichtig gewesen.
Vor der Tür zu Cullens Zimmer hatte sich Max aufgebaut, die Arme verschränkt und sie böse anfunkelnd. „Hast du eine Ahnung, wie langweilig das ist?“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Du müsstest doch für heute genug Aufregung gehabt haben.“
„Wenn man es verschläft, zählt das nicht.“
Ah, das war es also. Er war wütend, weil er den ganzen Spaß verpasst hatte – oder er fühlte sich schuldig, weil er versagt hatte. Gegen den Schlafzauber hätte er nichts ausrichten können, aber Schuld hat nicht immer vernünftige Gründe. Wenn Lily jetzt Mitgefühl zeigte, käme es nicht gut an, dessen war sie sich fast sicher. Aber sie wusste auch nicht, was ihm helfen konnte.
Rule schüttelte den Kopf. „Dein kurzes Schläfchen scheint dich aber nicht sehr erfrischt zu haben.“
„Wenn du glaubst, dass ich etwas dagegen hätte machen können –“
„Nein, das glaube ich nicht. Du etwa?“
Max machte ein finsteres Gesicht. Dann brummte er: „Klugscheißer“, drehte sich um und öffnete ihnen die Tür. „Das dynamische Duo ist hier, dann können wir ja jetzt wohl gehen.“
„Gehen?“, fragte Lily.
Nettie trat zu Max an die Tür. „Ich muss die letzten Vorkehrungen für Cullens Transport treffen. Das ist gar nicht so einfach zum jetzigen Zeitpunkt, weil so viele Patienten in andere Krankenhäuser verlegt werden müssen, aber Cynna hat die Verwaltung überreden können, dass Cullen Priorität hat. Max begleitet mich, um auszuschließen, dass ich mit den falschen Leuten spreche.“
Das klang vernünftig. Der Zauberer war vermutlich nicht mehr hier, aber sich auf Vermutungen zu verlassen, konnte gefährlich sein. „Gut. Max, denk daran, dieser Typ kann Verbündete haben, die zwar keine magischen Kräfte besitzen, dafür aber Schusswaffen. Wir wissen nicht viel über ihn.“
„Wir wissen, dass er mächtig ist“, sagte Rule. „Max ist ziemlich resistent gegen Magie. Es wäre schon ein ganzes Kraftwerk von Zauberei nötig, um ihn umzuhauen.“
Lily unterdrückte ein Lächeln. Er hatte so laut gesprochen, dass Max seine Worte nicht überhören konnte.
Der Anblick, der sich ihnen in Cullens Zimmer bot, ähnelte dem von gestern Abend sehr. Cynna stand an Cullens Bett, der wieder wach, aber blass war. Jason befand sich auf der anderen Seite und machte sich am Tropf zu schaffen. Doch dieses Mal war ihre Großmutter ebenfalls anwesend und saß auf dem einzigen Stuhl im Zimmer.
Lily warf ihre Jacke auf das leere Bett und trat zu Cynna. „Alles in Ordnung? Solltest du dich nicht lieber setzen?“
„Das habe ich ihr auch gesagt“, verkündete ihre Großmutter. „Sie ist frech. Und schwanger, deswegen sehe ich darüber hinweg.“
„Ich habe die ganze Zeit gesessen“, sagte Cynna. „Außer, als ich gezwungenermaßen ein Schläfchen auf dem Fußboden machte. Ich bin es leid. Warum sollen sich schwangere Frauen eigentlich ständig hinsetzen?“
„Zusätzliches Gewicht, dicke Füße, Rückenschmerzen …“
„Mit geht es blendend“, sagte Cynna mit Nachdruck. Ein schneller Blick zu Cullen machte klar, wem ihre Sorge galt.
„Mir geht es nicht blendend“, sagte er böse, „aber ich stehe auch nicht mit einem Bein im Grab. Fangen wir an.“
„Die, die nicht schwanger und frech sind, setzen sich auf den Boden“, informierte die Großmutter sie. „Ich möchte mir nicht den Hals verrenken müssen.“
Lily hatte nicht vor, sich wie eine Schülerin zu Füßen ihrer Großmutter niederzulassen. „Großmutter, ich muss wissen, warum du gerade jetzt dein Versteck verlassen hast. Was –“
Rule legte ihr die Hand auf die Schulter. „Lily, ich möchte einen Vorschlag machen. Dies ist dein Fachgebiet, und unter euch sind welche, die mir an Wissen, Jahren und Weisheit überlegen sind. Aber vielleicht ist es doch am besten, wenn ich die Leitung der Diskussion übernehme. Einige unter euch unterliegen Einschränkungen, die mich nicht betreffen. Ich muss nicht darauf achten, was ich sage – oder was ich nicht sagen kann.“
Das Abkommen. Er meinte die vermaledeite geis.
Gut, dass jemand hier vernünftig ist, sagte eine vertraute, kühle mentale Stimme.
Die alte Dame nickte hoheitsvoll. Lilys Nicken kam widerstrebend. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Rule die Leitung übernahm. Na ja, es war nicht nur das. Der Grund dafür machte ihr zu schaffen.
„Gut. Sam, kannst du … Ja, das wird klappen. Danke. Jason.“ Er wandte sich an den großen blonden Pfleger. „Ich muss dich bitten, jetzt den Raum zu verlassen. Sam lässt dich wissen, wenn du gebraucht wirst. Er ist in der Lage, Cullens Zustand zu überwachen.“
Jason widersprach nicht. Das taten die wenigsten Lupi, wenn ihr Lu Nuncio ihnen etwas befahl. Sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, wandte Rule sich an Lily. „Ich habe Cynna und Cullen bereits von der Chimei und ihrem Zauberer berichtet. Also sind alle Anwesenden auf dem Laufenden. Vielleicht ist es dir möglich, unter diesen Bedingungen davon zu sprechen.“
„Das wird sich ja herausstellen.“ Sie sah ihre Großmutter an, richtete sich aber gleichzeitig im Geist an Sam. „Während des Mittagessens konnte ich T.J. gegenüber weder die Chimei noch den Zauberer erwähnen. Und dann auf einmal habe ich über den Zauberer geredet, aber nicht über die Chimei. Etwas muss sich geändert haben. Doch was?“
Der Zauberer hat auf eigene Faust gehandelt, ohne das Wissen seiner Namensgefährtin oder deren Einverständnis.
„Ah“, sagte Rule. „Ja, das hatte ich vermutet. Bedeutet das, dass das Abkommen ihn nicht schützt?“
Die Großmutter schüttelte den Kopf. „So eindeutig ist das Abkommen selten. Der Zauberer verliert nur seinen Schutz, soweit seine heutigen Handlungen betroffen sind. Das heißt, Sam und mir ist es nun möglich, von ihm zu sprechen, aber nur innerhalb dieser Grenzen. Aber das Abkommen achtet auf die Absicht. Als Lily mit Mr James gesprochen hat, wollte sie nicht den Tod des Zauberers. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte es sie zum Schweigen gezwungen.“
„Moment mal“, sagte Lily. „Jetzt bin ich verwirrt. Ich verstehe nicht, warum der Zauberer überhaupt von dem verdammten Ding geschützt wird.“ Mit gerunzelter Stirn sah sie Rule an. „Du bist es doch auch nicht. Warum dann der Geliebte der Chimei?“
Der Blick der Großmutter schoss in die Höhe, als wollte sie den Himmel um Beistand bitten. Aber wahrscheinlich war es wohl Sam. Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, die Frage kann ich beantworten“, sagte Cullen.
Lilys Kopf fuhr herum. „Du?“
„Zuerst habe ich die Verbindung nicht hergestellt.“ Cullens Stimme war schwächer als sonst, aber fest. „Aber als Sam ‚Namensgefährtin‘ sagte, fiel bei mir der Groschen.“
„Wovon redest du?“
Rule antwortete als Erster. „Deine Großmutter hat mit Cullen um einen Zauber gehandelt. Als Gegenleistung hat sie ihm von der Chimei erzählt. Ich nehme an“, sagte er an Madame Yu gewandt, „dass Ihre Absichten, äh …, rein waren? Weil Sie nicht wollten, dass Cullen den Zauberer oder die Chimei tötet, hat das Abkommen Ihnen erlaubt davon zu reden?“
Sie hob die Hand und neigte sie einmal nach links, dann nach rechts. „Die Absicht ist wichtig. Mr Seabournes Absichten waren rein – er war nur auf Wissen aus. Meine … waren nicht ganz so rein, deswegen konnte ich ihm nur wenig sagen. Auch der Zeitpunkt ist wichtig. Damals hielt sich die Chimei nicht in diesem Land auf und war damit auch keine Bedrohung. Vielleicht hatte sie noch keinen passenden Geliebten gefunden. Vielleicht hätte es noch viele Jahre gedauert, bis sie einen gefunden hätte, und ich wäre schon lange tot gewesen. In dem Maße, wie ich daran glaubte, konnte ich davon sprechen.“
„Viel hat sie mir nicht verraten“, sagte Cullen. Seine Augen glitzerten aufgeregt. Selbst halb tot konnte der Mann sich noch für Magie begeistern. „Nicht einmal einen Namen. Nicht genug, dass mir aufgefallen wäre, dass Rules Chimei das Wesen war, von dem sie mir erzählt hatte. Erst als Sam diesen Ausdruck verwendet hat – ‚Namensgefährtin‘.“
Unwillkürlich sah Lily nach oben, als könne sie durch die Stockwerke hindurch das Dach sehen. Es war das erste Mal, dass Sam diesen Ausdruck benutzt hatte. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass es gerade jetzt geschehen war.
Cullen hatte eine Pause eingelegt, um zu Atem zu kommen. „Darüber hat Madame Yu nämlich mit mir gesprochen. Wir haben uns über wahre Namen unterhalten. Ich war über einen Text gestolpert, in dem angeblich ein Ritual beschrieben wurde, wie man sich selbst einen wahren Namen geben könne, und wollte von ihr wissen, ob so etwas möglich wäre. Es gibt Meister, von denen sagt man, sie … Na, nicht so wichtig. Der Punkt ist, sie erzählte mir von einem Wesen aus einer anderen Welt, das etwas Ähnliches tat. Dieses Wesen war sehr alt und hatte die Gewohnheit, sich menschliche Geliebte zu nehmen, die sie am Leben erhielt, indem sie ihren wahren Namen mit ihnen teilte. Auf diese Weise zeichnete sie sie sozusagen.“
Lily trommelte mit den Fingern auf ihren Oberschenkel. „Das bedeutet also, das Abkommen gilt auch für den Zauberer, weil er den Namen der Chimei trägt?“
„Einen Teil ihres Namens, und es ist nur eine Vermutung meinerseits. Aber es liegt nahe. Ein wahrer Name …“ Cullens Stimme wurde schwächer. Er holte vorsichtig Luft.
Ich werde euch helfen, sagte Sam. Mein eigenes Wissen zu diesem Thema kann ich nicht mit euch teilen, aber wenn Cullen Seabourne, so klar wie er kann, an das denkt, was er weiß … ja. Cullen Seabourne vermutet, dass es zwei Arten gibt, einen echten Namen zu bekommen. Zum einen, wenn man ein tiefes Verständnis von seinem eigenen Wesen hat, das durch alle Zeiten, unter allen Bedingungen wahr bleiben wird. Er glaubt, dass dies bei mir der Fall ist. Er vermutet, dass Meister dieses Wissen von sich selbst haben, dass es tatsächlich notwendig ist, um ein Meister zu werden.
Wenn man dieses Wissen erlangt hat … Seine Gedanken werden wirr. Er begreift, dass Worte eine magische Bedeutung haben, doch er weiß nicht, wie dies auf den Besitz eines wahren Namens Anwendung findet. Er glaubt, dass es ihm an Auffassungsgabe mangelt, und das stimmt.
Er sagt: „Das ist jetzt nicht so wichtig.“ Er vermutet, dass es möglich ist, einem Menschen Silben zu verleihen, die … Sein Denken wird wieder wirr. Er weiß nicht, wie wahre Namen und Klang in Verbindung stehen. Er vermutet, dass es einen Weg gibt, einem Geschöpf einen Namen oder … er nennt es das Wesen … aufzuzwingen. Ein Wesen, dessen Namen unbekannt ist. Dies ist die andere Art, wie man einen wahren Namen erlangen kann, statt seinen eigenen persönlichen Namen. Er kennt Geschichten, die davon berichten, wie Meister so verfahren sind, und überträgt dies auf das Abkommen. Er fragt sich, ob es ein Artefakt mit einem Namen ist, das zu denen, die den gleichen Namen haben, spricht und mit ihrem Wesen verknüpft ist.
Das ist nicht ganz richtig, aber für unser jetziges Problem nicht von Belang. Er – ah, ich merke gerade, dass er zusätzlichen Sauerstoff benötigt. Ich glaube, ihr habt da so ein Gerät, das … Ja, sagte Sam, als Cynna Cullen die Maske aufsetzte. Das wird ihm helfen. Ich habe die Heilerin angewiesen zurückzukommen. Cullen Seabourne möchte nicht wieder in Schlaf versetzt werden, aber es wird bald nötig sein.
Cynnas Gesicht legte sich erneut in besorgte Falten. „Er muss sich jetzt ausruhen.“
Ich überwache seine Körperfunktionen, Cynna Weaver. Er ist müde, aber sein Zustand verschlechtert sich nicht.
Ich sehe, dass er seine Gedanken wieder auf die Chimei richtet. Er glaubt, dass die Chimei einen Teil ihres Namens ihrem Geliebten gegeben hat oder ihren Namen auf irgendeine Weise mit ihm teilt oder ihn ihm möglicherweise auch aufgezwungen hat. Er erinnert sich daran, dass Li Lei ihm erzählt hat, dass die Chimei ihre Geliebten zeichnet. Er sieht den Unterschied zwischen beiden Varianten, glaubt aber, dass beide ein Band zwischen der Chimei und ihren Geliebten knüpfen, das es dem Zauberer erlaubt, einige ihrer Kräfte zu nutzen. Er glaubt zudem, dass auch die Chimei umgekehrt die Kräfte des Zauberers benötigt oder begehrt. Er mutmaßt, dass die Chimei ihre Kräfte vor allem instinktiv nutzt und ohne dieses Band keine Zauber wirken kann.
Er überlegt, warum der Zauberer seinen Tod will. Er glaubt, dass der Zauberer fürchtet, ein anderer Zauberer könnte den Namen herausfinden, der ihn und die Chimei aneinander bindet. Cullen Seabourne hält es für unwahrscheinlich, dass jemand anders als ein Zauberer – oder möglicherweise ein Drache, fügt er hinzu – in der Lage sein könnte, einen wahren Namen richtig zu nutzen. Er irrt sich.
Cullens Augen funkelten böse, und er setzte die Maske ab. „Besser … erklären.“ Cynna funkelte böse zurück und setzte ihm die Maske wieder auf.
Es war nicht Sam, der die Erklärung gab, sondern Madame Yu. „Er irrt sich in zweierlei Hinsicht. Erstens sind es nicht Zauberer, die wahre Namen am besten nutzen. Sondern die, die selbst einen haben.“
Schweigen senkte sich über die Anwesenden. Lily runzelte die Stirn. „Dann wird es schwierig. Ich glaube nicht, dass einer von uns einen wahren Namen hat. Außer Sam, nehme ich an, aber der kann nichts gegen den Zauberer oder die Chimei unternehmen. Moment mal. Vielleicht Max –“
Namen haben bei Gnomen eine andere Wirkung, und der, den du Max nennst, ist in seiner Natur gespalten. Weder Cynna Weaver noch Cullen Seabourne haben ihre Namen. Li Lei hat ihn selbstverständlich. Sie erfuhr ihn mit siebzehn, aber sie ist genauso eingeschränkt wie ich. Lily Yu, deine Seele wurde geteilt. Du wirst deinen Namen erst erfahren, wenn sie wieder eins ist. Rule Turner dagegen lebt mit zwei Namen. Sie gehören ihm nicht allein, aber sie sind wahr.
Rules Nasenlöcher blähten sich, als habe er etwas gerochen. Dann nickte er.
Lily brauchte etwas länger, um zu begreifen. Sam sprach von den Clanmächten – von denen er eigentlich gar nichts wissen konnte. Sie warf Rule einen bedeutungsvollen Blick zu.
Er neigte den Kopf in einer Weise, die weder ein Nicken noch ein Schütteln war. Sie verstand es so, dass er sagen wollte: Sam ist ein Drache. Wer ahnt schon, was er alles weiß?
Es ist möglich, dass diese beiden Namen Rule Schutz gegen die mentale Magie der Chimei verleihen. Ich werde mit ihm allein darüber sprechen.
Lily sah Rule erstaunt an, der abweisend die Stirn runzelte, vielleicht hörte er Sam gerade zu. „Gut zu wissen. Mal sehen, ob ich bis hierhin folgen konnte. Wenn wir diesen geheimen Namen herausfinden, den sie beide tragen, könnte Rule sie damit … ja, was? Einen oder beide unter seine Kontrolle bekommen?“
Ich bin nicht in der Lage, auf deine Frage zu antworten. Cullen Seabourne stellt Vermutungen an, aber durch seinen Mangel an Wissen ist das Ergebnis ungewiss.
Von dem Bett kam ein unterdrücktes Schnauben. Cullen hob die Hand, um sich die Maske herunterzureißen – und Cynna drückte sie ihm auf das Gesicht und sah ihn mit einem sehr energischen Blick an. Er seufzte und ließ seine Hand sinken.
Lily verstand, wie frustriert er war. Sie war es ebenfalls. Die Sache mit den Namen war offenbar wichtig, sonst hätte Sam nicht so viel Zeit darauf verwendet. Aber sie wussten nicht, warum, wie man einen wahren Namen erfuhr oder wie man ihn nutzte, wenn man ihn einmal wusste.
Lily öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, aber Rule war schneller. „Madame Yu, ich habe Sie unterbrochen, als Lily Sie fragte, warum Sie Ihr Versteck verlassen haben. Ich hoffe, dass Sie ihr nun antworten werden. Ich frage mich auch, warum Sie es überhaupt für nötig befunden haben, sich zu verstecken. Es passt so gar nicht zu Ihnen.“
„Sie sind ein sehr aufmerksamer Beobachter.“ Mehr sagte die alte Dame nicht, dann verfiel sie in Schweigen und setzte eine in sich gekehrte Miene auf. Beriet sie sich mit Sam? Überprüfte sie, was das Abkommen ihr erlaubte zu sagen?
„Ich werde antworten“, sagte sie endlich. „Sich zu verstecken hat keinen Sinn mehr. Der Zauberer hat die … Hm, wie heißt das Wort? Parameter. Er hat die Parameter des verfluchten Abkommens geändert und sich selbst damit in Gefahr gebracht. Doch das weiß er nicht. Die Chimei aber durchaus. Sie plant Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Geliebten zu beschützen. Und das wird sie – schnell und mit all ihrer Macht.“