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Mit Krankenhäusern taten sich Lupi schwer. Der Geruch von Blut und Krankheit ist für einen Wolf sehr erregend; die Verletzten und Kranken sind einfache Beute. Wobei die Gefahr nicht darin bestand, dass Rules Wolf sich losriss und wütete. Er hatte sich bestens in der Gewalt, und abgesehen davon, war sein Wolf kein leicht erregbarer Jugendlicher mehr, der die Risiken nicht verstand oder vergaß, dass Menschen keine Beute waren.

Aber die Gerüche sorgten dafür, dass Rules Wolf nervös war, trotz der drei gotterbärmlichsten Thunfischsandwiches, die er je in seinem Leben gegessen hatte. Und der Mann … der Mann mochte nicht gerne warten. Denn dadurch hatte er zu viel Zeit nachzudenken. Sich zu erinnern.

Als Rule das erste Mal ein Krankenhaus betreten hatte, war er nicht viel älter als sein Sohn jetzt gewesen. Vor dem ersten Wandel war ein Lupus beinahe menschlich. Wenn der Wolf noch schlief, waren die Gerüche nicht so intensiv, und sie hatten nicht dieselbe Wirkung. Er hatte in einem Raum ganz ähnlich diesem hier gewartet, mit seinem Vater, seinem Bruder und ein paar anderen Clanmitgliedern. Während Benedicts Auserwählte um ihr Leben kämpfte.

Sie hatte es nicht geschafft.

Einige Erinnerungen waren besser als andere, wenn auch nicht weniger aufwühlend. Er dachte an das eine Mal, als er und Cullen im Grenzgebiet jagen gewesen waren, nur sie beide, und dabei ein bisschen Ärger bekommen hatten. Die Erinnerung daran ließ ihn lächeln, wenn auch ein wenig wehmütig. Er dachte an die Zeit – es war noch gar nicht so lange her –, als Cullen für ihn buchstäblich durch die Hölle gegangen war – durch die Hölle und zurück.

Er erinnerte sich auch, wie Cullen, als er noch ein einsamer Wolf war, ein- oder zweimal nahe daran gewesen war, die Beherrschung zu verlieren – und es doch nicht zugelassen hatte. Er hatte so viel so lange ertragen, und jetzt – jetzt hatte er alles, was er immer gewollt hatte. Einen Clan. Einen Sohn. Eine Frau, die ihn von ganzem Herzen liebte. Merkwürdig … Rule hatte immer gewusst, dass Cullen sich danach sehnte. Aber Cullen, vermutete er, nicht.

Rule betrachtete Cynnas zerzausten blonden Haarschopf, der auf seinem Oberschenkel ruhte. Auf den Stühlen bekam sie Rückenschmerzen, deswegen hatten sie sich vor einer halben Stunde auf den Boden gesetzt. Das hatte ihnen ein paar schräge Blicke der anderen Anwesenden eingebracht, einer kleinen pakistanischen Familie. Eine Schwangerschaft war anstrengend für den Körper und Stress noch mehr. Rule hatte ihr den Rücken massiert, bis sie schließlich eingedöst war.

Das Problem war, dass er nun, da sie schlief, nicht mehr von den Bedürfnissen eines anderen abgelenkt wurde. Er war allein mit seinen Gedanken und Erinnerungen.

Er hatte Cynnas Kopf schon ein paar Mal auf seinem Kopfkissen gesehen, vor vielen Jahren. Aber das war es nicht, was ihm jetzt wieder einfiel, sondern das erste Mal, als er Cynna gesehen hatte, sehr gerade und aufrecht und wütend darüber, dass ein Mann, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt zusammen war, sie öffentlich beleidigt hatte.

Mit Vergnügen hatte Rule ihr gezeigt, dass ein echter Mann eine starke Frau zu schätzen wusste. Und später mit noch größerem Vergnügen den Mann und seine Freunde draußen gegen eine Hauswand geworfen, als sie fanden, sie müssten Cynna eine Lektion erteilen, weil sie „frech“ gewesen sei.

Natürlich hatte er sich vom ersten Moment an zu ihr hingezogen gefühlt. Sie hatte einen wunderschönen Körper, und sie roch gut. Aber darüber hinaus mochte er sie ganz einfach. Immer noch. Wie seltsam, dass zwei der Menschen, die ihm am meisten am Herzen lagen, zueinander gefunden hatten.

Und geheiratet hatten.

Rules Muskeln spannten sich an. Seine Hände ballten sich. Cynna regte sich, wachte aber nicht auf. Er schluckte und zwang seinen Körper, der sich bewegen, etwas – oder jemanden – schlagen wollte, zur Ruhe.

Cullens Operation dauerte nun schon so lange. Zu lange.

Die meisten Lupi kamen nie auf den OP-Tisch. Einen Knochen zu richten, das ging ja noch. Aber sich ihnen mit einem Messer zu nähern? Keine gute Idee. Anästhesie wirkte bei Lupi nicht – und ein wacher, schwer verletzter Lupus würde möglicherweise versuchen, denjenigen zu töten, der ihn aufschneiden wollte.

Die Nokolai hatten immerhin Nettie – Schamanin, Ärztin, Heilerin. Sie besaß sowohl die Gabe der Heilung als auch eine schamanische Ausbildung, sodass sie einen Lupuspatienten in Schlaf versetzen konnte, damit er operiert werden konnte. Bei Rule hatte sie ihre Fähigkeiten bereits zwei Mal angewandt – einmal nach einem spektakulären Motorradunfall, als er jung und dumm gewesen war. Und einmal, als ein Dämon ihn während seines Aufenthalts in der Hölle schwer verletzt hatte.

Keine der beiden Operationen hatte mehr als eine Stunde gedauert.

Rule sah auf seine Armbanduhr. Vier Stunden und einundzwanzig Minuten. Er und Cynna warteten nun schon beinahe viereinhalb Stunden. Warum dauerte das so lange?

Nettie ist eine Kämpferin, sagte er sich. Sie wird nicht aufgeben.

Warum glaubten die Leute eigentlich, der Arztberuf sei ein sanfter Beruf? Ärzte waren brutale, blutige Krieger, und ihr Schlachtfeld war der Körper des Patienten. Und sie besaßen schreckliche Waffen, mit denen sie die Leute aufschnitten und vergifteten.

Zwar nannten sie ihre Medikamente nicht Gift, aber was waren sie denn sonst? Schwaches Gift gewöhnlich, in kleinen Dosen verabreicht, damit der Körper es vertrug, während es die Bakterien oder Krebszellen tötete oder den Patienten in ein Koma versetzte, damit die Chirurgen ihn aufschneiden konnten.

Medikamente wirkten bei Lupi nicht, aber irgendetwas musste doch Cullen vergiftet haben. Wer immer Cullen die Stichwunde zugefügt hatte, wusste genug über Lupi, um eines der wenigen Gifte ausfindig zu machen, die einem Lupus etwas anhaben konnten. Wolfswurz? Gado?

Wer immer auf Cullen eingestochen hatte …

Er schob den Gedanken ganz bewusst zur Seite. Er konnte es sich nicht leisten, Vermutungen darüber anzustellen, nicht, wenn er während dieser verdammten, unendlichen Wartezeit die Fassung nicht verlieren wollte.

Cynna gab einen leisen Laut von sich und zuckte zusammen. Sie riss die Augen auf.

Er legte die Hand auf ihre Schulter. „Albträume?“

„Hm hm.“ Sie setzte sich auf. „Ich sehe ihn immer wieder fallen. Er ist einfach in sich zusammengesackt, weißt du? Ohne Vorwarnung. Ich wünschte, ich könnte das, was ihr, Lily und du, könnt. Ihr wisst immer, ob es dem anderen gut geht.“

Nein, das wussten sie nicht. Nur, dass der andere nicht tot war. Das war es, was sie meinte, und im Moment würde auch Rule „gut gehen“ als „nicht tot“ definieren. Er musterte Cynnas Gesicht. Sie tat so stark – sie war auch stark –, aber um die Augen hatte sie einen verletzlichen Zug, der ihm Sorgen bereitete. Er massierte leicht ihre Schulter. „Vielleicht solltest du etwas essen.“

Sie warf ihm einen schiefen Blick zu. „Cullen versucht auch immer, mich zu füttern. Ich versichere dir, dass das in diesem Fall nichts helfen wird.“

„Hmm.“ Regelmäßige Mahlzeiten waren gut für Menschen, wenn auch nicht so wichtig wie für Lupi, aber er wollte ihr nicht widersprechen. „Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber ich rufe mir immer wieder in Erinnerung, dass man uns benachrichtigt hätte, wenn er gestorben wäre. Warten ist schwer, aber schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.“

„Das ist wahr. Und er wird sich wieder erholen. Das sagt mir meine innere Stimme. Aber mein Kopf weiß noch so viele andere Dinge – wie zum Beispiel, dass es nicht so lange dauern dürfte. Ich weiß nicht viel über das Heilen, aber ich weiß, dass es nicht so lange dauert. Das bedeutet, was immer Nettie tut, wirkt nicht richtig.“

Es war schwer, ihr zu widersprechen, wenn sie recht hatte. Er versuchte es trotzdem. „Ihre Heilkräfte wirken vielleicht nicht wie sonst gegen dieses Gift, aber dass er nicht tot ist, ist der Beweis, dass sie wenigstens wirken.“

„Stimmt.“ Sie nickte knapp, zog eine kleine Grimasse und sagte: „Hilfst du mir mal auf, ja? Ich bin ganz steif.“

Er erhob sich und zog sie hoch, obwohl er bezweifelte, dass sie wirklich Hilfe gebraucht hätte. Ihr Schwerpunkt hatte sich ein bisschen verschoben, aber ansonsten war sie sehr fit.

Als sie stand, fuhr sie sich mit beiden Händen durch das Haar, warf einen Blick auf die anderen Wartenden und sagte leise: „Schuld verstärkt andere Gefühle immer, findest du nicht?“

Überrascht sagte er: „Es gibt nichts, weswegen du dich schuldig fühlen müsstest.“

„Doch, natürlich. Ich sage ja nicht, dass das Schuldbewusstsein berechtigt ist, nur dass ich so fühle. Dies hier wäre nicht passiert, wenn wir nicht geheiratet hätten. Meine Entscheidungen haben dazu geführt, dass er angegriffen wurde. Seine Entscheidungen auch“, fügte sie hinzu, „ganz zu schweigen von dem Mistkerl mit dem Messer. Aber deswegen fühle ich mich nicht weniger schuldig.“

Jetzt wusste er überhaupt nicht mehr, was er antworten sollte.

Sie nickte, als hätte er etwas gesagt. „Ja, ich will auch gar nicht daran denken, aber wer sonst könnte ihn auf dem Clangut angegriffen haben als ein Mitglied des Clans? Und aus welchem Grund? Cullen legt sich zwar ständig mit irgendjemandem an, aber dass ihm jemand auf seiner Kindsfeier ein Messer in die Rippen rammen würde …?“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist die Heirat. Da ist jemand durchgedreht.“

„Das wissen wir nicht. Aber wenn es ein Nokolai war, wird mein Vater ihn finden. Er hat den Angriff zum Vergehen gegen den Clan erklärt.“

Ihre Stirn legte sich in Falten. „Ach ja? Oh ja, das habe ich mit halbem Ohr mitbekommen, aber nicht weiter drüber nachgedacht. Das ist … Mist, bedeutet das womöglich Krieg zwischen den Clans? Ich meine, wenn der Täter kein Nokolai war?“

Eigentlich hatte er sie damit beruhigen wollen. Ihn selbst beruhigte es tatsächlich, denn es bedeutete, dass sein Vater nicht an dem Angriff beteiligt war, auch nicht indirekt. „Nein. Du denkst an die Clan-Kriege aus dem 17. Jahrhundert.“ Er wusste, dass die Rhej Cynna in der Geschichte der Clans unterrichtete. „Dies ist nicht dieselbe Situation. Äh … ohne ins Detail zu gehen: Damals waren einige der Clans gleich mächtig, was zu Übergriffen führte. Heute sind die Leidolf der einzige Clan, der so mächtig wie der Clan der Nokolai ist.“ Wenn einige der anderen sich zusammentäten, wären sie mächtig genug, um zu einem Problem zu werden; aber er beschloss, darauf nicht weiter einzugehen.

„Es ist doch klar, dass die Leidolf so etwas nicht offiziell unternehmen würden, schließlich bist du ihr Rho. Aber wäre es denn nicht möglich, dass einer von ihnen … na, du weißt schon … eigenmächtig gehandelt hat?“

„Wenn das der Fall wäre …“ Eine der Mächte regte sich in Rule, und ein kühler Ort öffnete sich in seinem Inneren. Er senkte die Stimme. „Wenn jemand das getan hat, werden die Leidolf die Nokolai in aller Form um Entschuldigung bitten.“

„Du machst den Parwanis Angst.“

„Den wem?“

„Denen da.“ Sie deutete auf die andere Seite des Raumes. Die pakistanische Familie – eine ältere Frau, ein jüngeres Paar und ein Kleinkind – starrte sie an. Das Kind kicherte. Die anderen guckten, wie Cynna gesagt hatte, ängstlich. „Ich bin nicht hungrig“, knurrte er verärgert. „Sehe ich etwa hungrig aus?“

„Du siehst sauer aus. Du siehst aus, als wäre dir eine Leiche lieber als eine Entschuldigung.“

Das war genau das, was er gemeint hatte, aber nicht hatte sagen wollen, weil er weiterhin fest entschlossen war, sie nicht zu beunruhigen, und es dieses Mal besser machen wollte. „In mancherlei Hinsicht wäre es bequem, wenn es tatsächlich ein Killer der Leidolf gewesen wäre, der auf eigene Faust unterwegs war, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie so jemand zu einem solchen Zeitpunkt unbemerkt bei uns hätte eindringen können. Vorausgesetzt, er wäre überhaupt an Benedicts Wachen vorbeigekommen und von niemandem in der Menge erkannt worden, hätte er immer noch nach Leidolf gerochen.“

Sie runzelte die Stirn. „Lily sagte, es könnte eventuell ein Asiat sein. Ich kann nicht … Was ist?“

Er hatte sich von ihr ab- und der Tür zugewandt. Schritte im Flur … auf weichen Sohlen, wie Dutzende, die vorher vorbeigegangen waren, inmitten all der anderen Geräusche selbst für ihn kaum hörbar. Er wusste nicht, warum gerade diese Schritte ihn hatten aufhorchen lassen, aber –

Eine große Frau in einer grünen Uniform blieb im Türrahmen stehen. Sie lächelte.

„Es geht ihm gut“, sagte Cynna und wippte auf den Zehen. Sie machte zwei schnelle Schritte auf Nettie zu, drehte sich um und lächelte Rule zu. „Habe ich es dir nicht gesagt? Ich habe dir gesagt, er würde es schaffen. Meine innere Stimme hatte recht.“

„Das stimmt.“ Er ging zu ihr und legte den Arm um sie, dort, wo früher ihre Taille gewesen war. „Du weinst ja.“

Sie wischte sich hastig über das Gesicht. Ein Lächeln schimmerte durch ihre Tränen. „Natürlich weine ich. Jetzt darf ich ja auch weinen. Kann ich ihn sehen? Lily sagte, ich solle auf ihn aufpassen. Der Täter könnte es noch einmal versuchen. Ich muss …“

Plötzlich schwankte sie. Rule fasste sie fester. „Du musst dich hinsetzen.“

„Komisch. Ich werde nicht … Ich falle nie in Ohnmacht.“

„Natürlich nicht, aber du setzt dich jetzt hin.“ Rule trug sie fast zu dem nächsten Stuhl – ein paar Plätze entfernt von einer jungen Teenagerin, die die ganze Zeit über SMS getippt hatte. Verblüfft hob das Mädchen den Kopf. Vielleicht bemerkte sie erst jetzt, dass außer ihr noch andere im Raum waren. Er setzte Cynna vorsichtig ab und kniete sich vor sie. „Kopf runter.“

„Ich falle nie in Ohnmacht“, wiederholte sie, wehrte sich aber nicht, als er ihren Kopf so weit nach vorn drückte, wie es ihr runder Bauch zuließ.

Nettie setzte sich auf den Stuhl neben Cynna und rieb ihr über den Rücken.

„Mir geht es gut“, informierte Cynna ihre Füße.

„Natürlich“, stimmte Nettie ihr zu. „Aber lass trotzdem noch einen Moment den Kopf unten. Dann fühlen wir anderen uns besser.“

Als er einen leisen Atemzug vernahm, blickte Rule auf. Lily stand in der Tür, Jason direkt hinter ihr. Wie vom Donner gerührt starrte sie Cynna an.