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In den Bergen östlich von San Diego war es fast immer heißer als in der Stadt. Die Höhe glich die Kühle des Ozeans nicht aus. Aber jetzt war die Sonne untergegangen, und in dem kleinen Tal, in dem das Dorf des Clangutes der Nokolai lag, war die Temperatur auf angenehme fünfundzwanzig Grad gesunken.

Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber mittlerweile achtete Lily auf solche Dinge und wusste, dass der Halbmond kurz nach Mitternacht aufgehen würde. Die Wiese, auf der sich der Clan versammelt hatte, war voller Menschen, die sangen und lachten – viel mehr, als eigentlich hier wohnten. Lily war erleichtert und sehr zufrieden mit sich.

Die Babyparty war reibungslos über die Bühne gegangen, und die Kindsfeier verlief wunderbar bisher.

Lily schlängelte sich durch die Menge. Die meisten Gäste der Babyparty – der menschlichen Gäste – waren gegangen. Die Anzahl der erwachsenen auf dem Clangut lebenden Lupi variierte stets, aber gewöhnlich waren es um die fünfzig. Die meisten der anderen Gäste lebten in der Nähe des Clangutes, aber sie kannte nicht alle von ihnen.

Sie dagegen wussten alle, wer sie war – es war schon ein merkwürdiges Gefühl. Und so lächelte sie und nickte zurück, wenn ein ihr Fremder sie grüßte.

Auch Hunde und viele Kinder waren anwesend. Alle rannten sie in Schwärmen durch die Menge, wie Elritzen in einem lebendigen Strom. Toby war zweifellos Teil eines solchen Schwarms, aber seitdem er sein Essen hinuntergeschlungen und dann verkündet hatte, er und „die Jungs“ würden jetzt Fangen spielen, hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Für Lupi war Fangen ein kompliziertes Spiel mit Teams, altersgerechten Regeln, vielen „Hasen“ und Möglichkeiten, sich zu verstecken. Und es wurde viel gelaufen. Sehr viel.

Für Rules Sohn die Mutterrolle zu übernehmen, war bisher fast zu einfach gewesen. Aber den Jungen von seinem Clan loszueisen, das war schwer. Lupi vergötterten Kinder jeden Alters, und sie sahen keinen Grund, warum er nicht immer auf dem Clangut leben sollte.

Eine Person war nicht mehr auf der Party. Die Rhej, die dritte Gastgeberin, hatte mit Lily, Rule, Isen und Toby gegessen, Cullen ihr Geschenk überreicht und war dann in ihr Haus zurückgekehrt, das auf der Hälfte des Weges lag, der sich die Westseite des kleinen Tals hinaufschlängelte.

Sie möge Menschen, sagte sie. Nur nicht so viele auf einmal.

Die Erwachsenen waren vor allem Männer, und die meisten von ihnen trugen nicht sehr viel auf dem Leib. Es gab dreimal mehr männliche Clanmitglieder als weibliche, und Lupi besaßen keinerlei Schamgefühl, was ihren Körper betraf. Keiner von den Männern, die Lily sah, trug ein Hemd oder Schuhe, und alle waren zwischen Bauchnabel und Knien nur notdürftig bedeckt. Abgeschnittene Jeans waren sehr beliebt.

Lily genoss den Anblick. Warum auch nicht? Hier war selbst eine graubehaarte Brust einen zweiten Blick wert. Fette, schlaffe, untrainierte Lupi gab es nicht. Das war bekannt. Ebenso wie die Tatsache, dass der Wandel erblich und nicht ansteckend war. Und dass sie immer männlich waren. Und nie heirateten. Niemals.

Lily rieb mit dem Daumen über den Ring, den sie anlässlich der Feier angesteckt hatte. Anscheinend hatten sich alle geirrt. Sie eingeschlossen. Und eben weil sie wusste, dass es unmöglich war, hatte sie nie damit gerechnet, und doch war sie jetzt verlobt mit einem Mann, dem es nicht einmal hätte in den Sinn kommen dürfen, sie um ihre Hand zu bitten.

An den Picknicktischen am Rand der Wiese saßen immer noch einige Gäste und aßen. Andere aßen im Stehen. Lily hatte als eine der Ersten gegessen, und das hatte ihr nicht besonders gut gefallen. In ihrer Welt aßen die Gastgeber erst, wenn alle Gäste sich bedient hatten. In der Welt der Lupi aßen die Gastgeber zuerst – oder beinahe, denn zuallererst kamen die Rhej, der Rho und der Lu Nuncio an die Reihe. Rule sagte, das sei so, weil das Mahl die „Beute“ des Gastgebers repräsentierte. Für einen Wolf war es etwas Gutes, für Nahrung für den Clan zu sorgen. Aber die anderen als Erste an die eigene Beute zu lassen, wäre absurd gewesen.

Auch wenn es seltsam war, verstand Lily ihn. Trotzdem hatte sie sich unwohl gefühlt, als sie sich den Teller gefüllt hatte, deswegen hatte sie auf den Nachtisch verzichtet. Doch das würde sie jetzt nachholen.

Das Gras war weich und federte unter ihren Füßen. Die Versammlungswiese wurde immer gewissenhaft bewässert, selbst während einer Trockenheit – was eigentlich für den ganzen Sommer in Südkalifornien galt. Da es im Moment in der Nähe keine Steppenbrände gab, war der Himmel hier draußen klar und dunkel und mit zigtausend glitzernden Sternen besprenkelt, mit weit mehr, als in der Stadt zu sehen waren. Obwohl der Mond nicht leuchtete, war es hell genug: Laternen auf Pfählen fügten den magischen Lichtern über ihren Köpfen das sanfte Schimmern von Kerzenflammen hinzu.

Die Feier war nicht nur schön anzusehen, sondern auch anzuhören. Inmitten der Stimmen und des Gelächters wuchs Musik empor wie Pilze nach einem Regenguss – eine Gruppe von Sängern hier, ein Geigenspieler dort. Und war das in der Ferne nicht eine Flöte?

Der rauchige Duft des Grills hing in der Luft. Als sie bei den Tischen ankam, auf denen die Speisen standen, sah sie, dass noch ein wenig Huhn und ein paar Würste übrig waren, aber keine Rippchen und keine Rinderbrust mehr.

Leise stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus und steuerte schnurstracks die Süßspeisen an. Zwei Brownies konnte sie sich schon gönnen, entschied sie. Schließlich hatte sie hart gearbeitet.

Als sie den zweiten aussuchte, fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. „Her mit der Schokolade“, verlangte eine Frauenstimme.

Lily lächelte die Frau mit dem kurzen blonden Haar an. „Wie viele?“

„Am liebsten Tonnen.“ Cynna hielt ihr den leeren Teller hin. „Ich darf nichts trinken, also muss Schokolade dafür herhalten.“

Lily legte drei Brownies auf Cynnas Teller. „Was gibt’s Neues?“

„Wusstest du schon, dass man von mir erwartet, dass ich die Babynahrung selbst zubereite?“

Cynna war jetzt im siebten Monat und sah aus wie eine Fruchtbarkeitsgöttin – wenn diese Göttin aussah wie eine Amazone und ihre Haut gerne mit geheimnisvollen Zeichen bedeckte. Sie hatte die muskulösen Arme und Schultern einer Kriegerin, die es gewohnt war, einen Bogen zu spannen. Und dieser Amazone amputierte man keine Brust. Cynnas Brüste waren groß und wuchsen, ebenso wie ihre schwindenden Taille, noch immer, wie an dem dehnbaren roten Top deutlich zu sehen war, das sie zu einer weiten Leinenhose trug.

„So wie du aussiehst, könntest du ein halbes Dutzend Säuglinge ernähren“, sagte Lily.

Cynna wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ich rede nicht von Milch. Das wäre ja einfach – das erledigt mein Körper von ganz allein.“ Sie stopfte sich einen halben Brownie in den Mund und schloss kauend die Augen. „Ah. Das tut gut. Ich meine die richtige Babynahrung.“

„Oh, ich verstehe.“ Lily nickte. „Du hast mit meiner Schwester gesprochen.“

Damit mehr Gäste kamen, hatte Lily auch einige Mitglieder ihrer Familie zu der Babyparty eingeladen. Die meisten der Geschenke waren per Post gekommen. Ihre Mutter hatte sich entschuldigt, was Lily nicht anders erwartet hatte; ihre Großmutter hatte vorgehabt zu kommen, doch dann war ihre Partnerin Li Qin krank geworden. Aber Lilys Schwestern waren beide gekommen, und zu Lilys Überraschung hatte Cynna sich auf Anhieb gut mit Susan verstanden.

„Na ja, sie ist doch Ärztin, oder nicht?“, sagte Cynna. „Sie kennt sich aus. Aber ich kann ja noch nicht einmal für mich selbst kochen! Eier. Ich kann Rühreier machen. Und Makkaroni mit Käse, nicht aus der Schachtel, und Cullens Chili schmeckt gut. Und sein Braten. Aber ein Säugling kann wohl schlecht Braten essen, was? Ich dachte, ich hätte noch Monate Zeit, um richtig kochen zu lernen, aber …“

„Susan ist Dermatologin, keine Kinderärztin. Außerdem ist sie perfekt. Niemand wird ihren Ansprüchen gerecht, nicht einmal Susan selbst.“ Es war schwierig gewesen, mit einer perfekten Schwester aufzuwachsen, aber Lily hatte erkannt, dass es noch schwieriger war, die perfekte Schwester selbst zu sein.

Cynna schnaubte. „Wer im Glashaus sitzt, Lily, …“

„Oh, komm schon. So schlimm wie sie bin ich nicht.“

„Machst du Witze? Du trägst ein weißes Kleid zu einem Barbecue und …“

„Creme. Es ist cremefarben, nicht weiß.“

„… und hast nicht einen einzigen Fleck darauf. Du ordnest deine Klamotten nach Farbe und Art. Ich habe sie in deinem Schrank gesehen“, fügte sie düster hinzu. „Du hängst deine Jacken nach der Farbpalette auf – Rot, Orange, Gelb …“

„Das ist neurotisch, nicht perfekt, und außerdem besitze ich gar keine orangefarbenen Jacken. Orange lässt mich krank aussehen. Ich will ja nur sagen, dass du nicht alles glauben sollst, was Susan erzählt.“

„Tue ich auch nicht. Aber Zusatzstoffe sind böse, nicht wahr? Bio ist gut. Frisch und Bio zusammen ist sehr gut.“

„Wir leben in Kalifornien. Hier kannst du Biobabynahrung kaufen.“ Lily war sich ziemlich sicher, dass es diese im Rest des Landes auch gab, aber hier ganz sicher. In Kalifornien konnte man schließlich sogar Bioseile kaufen.

„Ach ja?“ In Cynnas Gesicht kämpfte Erleichterung mit Zweifel. Die Erleichterung gewann. „Das könnte ich machen. Und einen Mixer kaufen. Die Rhej hat mir dieses Dampfgardings geschenkt. Für Gemüse. Man muss es nur einfüllen, Wasser unten dazugeben und dann die Zeituhr stellen, und schon wird gegart. Ganz einfach. Es wäre ja wohl kein Problem, gedämpftes Gemüse zu pürieren, wenn ich mal keine Biobabynahrung mehr habe oder so.“

„Richtig.“ Lily tätschelte den Arm ihrer Freundin. „Püriertes Gemüse und Biobabynahrung, mehr brauchst du doch nicht. Es wird schon alles gut gehen.“

„Ja.“ Cynna drehte sich um, um einen Blick auf die Menge zu werfen. Einen Moment lang aßen sie schweigend Brownies.

Es war schön, Cynna so zu sehen – wenn sie sich Sorgen um Kleinigkeiten machte, wenn sie wieder sie selbst war. Die Aneignung einiger früher Erinnerungen von der Rhej hatte sie sehr mitgenommen, aber heute Abend schien sie etwas Abstand davon gewonnen zu haben.

Lily hatte als Erste aufgegessen – sie hatte sich dann doch nur einen Brownie genommen – und befühlte den kleinen Gegenstand in ihrer Tasche. Sie musste Cullen finden und ihn ihm geben. Noch in anderer Hinsicht unterschieden sich die Feiern der Lupi von denen der Menschen: Niemand packte sein Geschenk ein – typisch Mann … –, und es gab keinen festen Zeitpunkt, zu dem es übergeben wurde.

Und auch die Geschenke selbst waren anders. Lupi empfanden es als nicht richtig, ein Geschenk für ein Baby zu kaufen. Es musste entweder selbst gemacht oder geerbt oder „für das Babyglas“ bestimmt sein – also Geld. Die meisten schenkten Geld. Was Lily gut verstehen konnte. Auch in China waren Geldgeschenke Sitte, wenn auch nicht bei Babypartys, und dort wurde das Geld in rote Umschläge gesteckt, nicht in große Gläser.

Doch von den engen Freunden des werdenden Vaters wurde erwartet, dass sie entweder ein Geschenk selbst herstellten oder etwas schenkten, das eine Geschichte hatte. Die Geschichte derjenigen, die früher in dieser Wiege geschlafen, an diesen Würfeln gekaut hatten und von dieser Decke gewärmt worden waren, war Teil des Geschenks.

Dies war eine der wenigen Sitten der Lupi, die man ihr nicht hatte erklären müssen. Mit den geerbten und selbst gemachten Dingen sagte der Clan: Dieses Kind gehört zu uns. Die Gegenstände waren von Clanmitgliedern gemacht und von Clanmitgliedern benutzt worden, und sie waren mit der Geschichte des Clans verwoben. Sie kamen nicht aus der Welt da draußen, aus der Welt der Menschen – was es ihr schwer gemacht hatte, ein Geschenk zu finden, denn sie kam aus der Welt da draußen, der Welt der Menschen. Und handwerklich war sie nur so geschickt, dass sie einem Verhafteten die Handschellen richtig anlegen konnte.

Zufrieden seufzend aß Cynna den letzten Bissen Brownie. „Das hat gutgetan, aber jetzt brauche ich Flüssigkeit. Kein Wasser, keine Milch – ich will es mal krachen lassen.“

„Dr. Pepper?“ Lily lächelte über Cynnas derzeitige Vorstellung von „es krachen zu lassen“.

„Richtig. Wenn noch etwas übrig ist. Himmel, ich habe den Eindruck, es sind mehr als tausend Gäste gekommen. Komm.“

Lily folgte ihr lächelnd. Bevor sie zum FBI gekommen war, hatte Cynna nicht wie Lily die konventionelle Polizeilaufbahn durchlaufen und es deshalb auch nie gelernt, die Größe einer Menschenmenge richtig einzuschätzen. „Ungefähr halb so viele, wenn man die Kinder mitzählt.“

„Das sind aber immer noch viele. Und das bedeutet: viele Geschenke.“ Cynna klopfte leicht auf ihren runden Bauch. „Aber auch viel Arbeit für dich.“

„Nein, wirklich nicht.“ Sie waren bei den mit Eis und Getränken gefüllten Wannen angekommen. Lily nahm eine Dose Dr. Pepper für Cynna und eine Diät-Cola für sich heraus. „Es waren vor allem Rule und die Rhej, die sich um die Kindsfeier gekümmert haben.“

„Ja, aber du hast auch die Babyparty organisiert und gleichzeitig noch die ganzen Anrufe von diesen Spinnern bekommen.“

„Wenigstens waren diese Fälle schnell abgeschlossen. Ansonsten ist es recht ruhig da draußen.“

„Du weißt, dass du so etwas nicht sagen darfst.“

Lily prustete. „Bist du abergläubisch?“

„Selbstverständlich nicht, aber man darf nie sagen, dass es ruhig ist. Dann flattern einem nämlich sofort drei dringende Fälle auf den Tisch oder eine Leistungsbeurteilung, oder man wird krank oder –“

Lachend erhob Lily Einspruch. „Schon gut, schon gut. Ich nehme es zurück. Es ist viel los, und ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht, und du hast recht, die Feier hat viel Arbeit gemacht. Und sie war es wert.“

„Na prima, jetzt hast du’s geschafft. Ich heule ja in letzter Zeit schon bei Fernsehwerbungen.“ Cynna schniefte, grinste und fügte hinzu: „Das war wohl eine gute Übung für deine Hochzeit. Habt ihr schon das Datum festgelegt?“

„Noch nicht.“ Sie setzte die Dose an die Lippen und trank.

„Du weichst mir aus.“

„Nein, ich habe Durst.“ Lily sah sich um. „Ich suche Cullen. Ich habe ihm noch nicht sein Geschenk überreicht.“

„Jetzt wechselst du das Thema.“ Cynna war geradezu schadenfroh. „Du fürchtest dich.“

„Ich fürchte mich gar nicht.“ Sie liebte Rule. Sie wollte nicht nur den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen, sie musste sogar. Das Band der Gefährten ließ ihnen keine Wahl, aber damit hatte sie sich ausgesöhnt. Die Heirat würde dem, was ohnehin schon eine Tatsache war, nur noch einen legalen Anstrich geben. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten, der lästige Kloß in ihrem Hals war keine Angst, eher … Irritation.

„Ich habe keine Furcht“, wiederholte sie. „Aber ich liebäugele mit Las Vegas. Meine Mutter ist wahnsinnig geworden.“

„Von welcher Art Wahnsinn sprechen wir hier?“

Lily schwenkte ihre Coladose. „Von jeder nur erdenklichen Art, die mit einer Hochzeit zu tun hat. Das Kleid. Das Datum. Blumen. Die Brautjungfern. Tauben.“

„Tauben? Die großen grauen Vögel?“

„Nein, weiße. Sie möchte Dutzende von weißen Tauben fliegen lassen, wenn Rule und ich uns das Eheversprechen geben. Das ist nicht gerade die richtige Botschaft, wenn der Bräutigam sich hin und wieder in einen Wolf verwandelt, oder?“

Cynna kicherte. „Das stimmt. Einige eurer Gäste dürften diese feinsinnige Botschaft wohl nicht verstehen. Sie halten die Tauben bestimmt für ein Partyspiel. Fliegende Appetizer.“

Lily stellte sich vor, wie all die gut gekleideten männlichen Hochzeitsgäste die Tauben sahen, sich wandelten und ihnen hechelnd hinterherjagten. Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. „Vielleicht sollte ich sie einfach machen lassen. Ihr Gesicht, wenn es dann passiert, wär’s vielleicht wert. Aber nein.“ Widerstrebend kehrte sie zurück zur Realität. „Das würden sie nicht tun. Außerdem weiß ich gar nicht, ob überhaupt ein Lupus zu unserer Hochzeitsfeier kommt.“

Cynna drückte aufmunternd ihren Arm. „Cullen kommt auf jeden Fall. Und ich wette, noch mehr, wenn sie sich erst einmal an die Idee gewöhnt haben.“

„Vielleicht.“ Sie wollte nicht darüber nachdenken, was die Heirat für Rules Status in seinem Volk bedeuten konnte, und wandte sich wieder dem zu, was in ihrer Macht stand. „Ich will bei meiner Hochzeit nicht von Vögeln vollgekackt werden.“

„Das ist ein starkes Argument dagegen. Ich nehme an, du hast bereits auf das Vogelkackeproblem hingewiesen?“

„Ja, und ich muss zugeben, dass sie die Idee hat fallen lassen. Aber dafür ist ihr gleich etwas anderes eingefallen.“ Etwas Großes, Auffallendes und Teures. Dabei hatte Lily sich vor ein paar Wochen noch Sorgen gemacht, dass ihre Mutter womöglich mit der Heirat nicht einverstanden sein könnte. Sie schüttelte den Kopf. „Aber nun genug von meiner Mutter. Heute geht es nur um dich.“

„Eigentlich geht es um den kleinen Reiter. Aber da er seine Geschenke noch nicht zu schätzen weiß, muss ich ihm helfen.“

„Habt ihr euch immer noch nicht für einen Namen entschieden?“

„Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, einen Namen zu finden, mit dem keiner der Elternteile etwas Schlechtes verbindet! Cullen mag altmodische Namen. Und magisch gesehen, sind die alten Namen stärker, also –“

„Ist das denn wichtig?“, fragte Lily überrascht. „Ist es nicht nur ein Märchen, dass Namen Macht über einen haben?“

„Oh ja, das ist Unsinn – was uns betrifft, zumindest. Nicht für die, die, wie Micah es nennt, einen wahren Namen haben, aber die meisten Menschen haben keinen oder kennen ihn nicht. Für uns besitzen Namen zwar keine Macht, aber sie wirken auf Macht. Wir verstehen zwar nicht, wie, aber … na ja, du musst dir ja nur dein Volk ansehen.“ Sie machte eine weit ausholende Geste und schlug gegen den Handrücken eines blonden Mannes, der sich mit zwei Männern mit nacktem Oberkörper unterhielt. „Oh. Entschuldigung“, sagte sie mit einer kleinen Grimasse, als er sich umdrehte und sie mit einer hochgezogenen, sandfarbenen Augenbraue ansah.

Lily wusste, dass in der chinesischen Kultur mit Namen viel Aberglauben verbunden war, aber richtig beschäftigt hatte sie sich damit nie. Sie hatte immer angenommen, es sei eines jener Relikte aus der Vergangenheit, an denen die Älteren festhielten. „Hi, Jason“, sagte sie zu dem blonden Lupus, der Cynna anerkennend beäugte. „Du kannst später flirten“, sagte sie zu Cynna, sie am Ellbogen weiterziehend. „Wir bringen dich lieber zu Cullen. Jetzt muss es bald Zeit fürs Tanzen sein.“

Bei einer Lupusfeier wurde immer zuerst gegessen. Es war besser, wenn keiner der Wölfe hungrig war.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem, was Cynna gesagt hatte. „Du meinst das ganze Zeug über, äh …“ Zahlen. Irgendetwas darüber, wie sich ein Name errechnete. „Du meinst die Bedeutung der Anzahl der Striche, die nötig sind, um einen Namen zu schreiben?“

„Hm … du könntest einwenden, dass einige Bestandteile des chinesischen Namensystems angezweifelt werden. Aber für alle Völker der Erde haben Namen, und wie sie vergeben werden, eine besondere Bedeutung.“

„Ich beginne zu verstehen, warum es so schwierig ist, sich für einen Namen zu entscheiden.“

„Im Ernst?“ Sie seufzte tief. „Ich hatte Isaac vorgeschlagen, aber wenn Cullen Isaac hört, denkt er an einen kleinen Mann mit Brille, der einmal auf ihn geschossen hat. Er ist für Andrew, aber dann werden wir ihn Andy nennen, und der Andy, den ich kenne, ist ein Typ mit haarigem Rücken und ohne Humor.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und viel Klasse im Bett hatte er auch nicht. Also auch nicht Andrew. Ich neige zu Micah. Den Namen mögen wir beide und assoziieren Gutes damit. Was hältst du davon?“

„Micah ist ein guter Name.“ Wenn man sein Kind nach einem Drachen nennen wollte. Was aber sowohl Cullen als auch Cynna sicher genau passend vorkam.

„He! He, Lily!“

Sie drehte sich um und erblickte eine Frau, die genauso groß war wie sie, aber jünger, mit einem runderen Gesicht, kürzerem – und modischer geschnittenem – Haar und sehr vielen Ohrringen.

Die Ohrringe und die Frisur waren neu. Beth versuchte immer etwas Neues. Lily wartete, während sich ihre kleine Schwester mit der munteren Entschlossenheit eines jungen Hundes durch die Menge drängte.

„Hallo, Cynna“, sagte Beth, als sie bei ihnen war. „Mensch, bist du schwanger. Du siehst gewaltig aus. Wenn ich dich so sehe, würde ich mich am liebsten selbst gleich schwängern lassen, aber so flatterhaft bin ich dann doch nicht. Wann zählst du die Knete in dem Glas?“

Cynna lächelte erfreut. „Das Sammelglas kommt als Letztes, nach dem Tanzen. Es ist ganz schön voll, was?“

„Und wie. Da wir gerade vom Tanzen sprechen, du hast doch nichts dagegen, wenn ich mit deinem appetitlichen Ehemann tanze, oder?“

„Warum sollte ich? Das werden alle anderen auch wollen. Cullen ist ein fantastischer Tänzer.“ Cynna grinste. „Selbst wenn er die Klamotten anbehält.“

„Meinst du, das tut er?“ Beth bekam einen sehnsüchtigen Blick. „Ich habe ihn nie im Club Hell gesehen, und Lily sagt, er arbeitet dort nicht mehr. Ich würde ihn gerne mal …“

„Beth“, sagte Lily warnend.

„… in einem Tanga sehen. Das ist nur die Lust der Unschuld“, versicherte ihr Beth, „und eine gewisse künstlerische Neugier.“

„Schon gut“, sagte Cynna, aber sie machte ein komisches Gesicht. Sie sah Lily mit leicht schräg geneigtem Kopf an. „Fühlst du dich so, wenn ich mit Rule flirte? Irgendwie selbstzufrieden und verlegen, obwohl du keine Ahnung hast, warum du verlegen sein solltest?“

„Lily ist vermutlich nur selbstzufrieden“, sagte Beth. „Sie ist niemals verlegen. Wie kommt es, dass ich keine halbwüchsigen Jungen sehe? Babys, ja. Kleinere Jungen und Mädchen. Und weibliche Teenager. Aber keine Jungen.“

Lily wechselte einen Blick mit Cynna. „Wenn Lupusjungen in die Pubertät kommen, leben sie bis zum Alter von siebzehn oder achtzehn getrennt von den anderen.“

„Echt? Puh. Das nenne ich mal eine vernünftige Lösung.“

Lily lächelte, weil sie wusste, was Beth meinte. Aber die Jungen wurden nicht isoliert, weil männliche Teenager unausstehlich sein konnten, sondern damit sie niemanden auffraßen.

Von der anderen Seite der Wiese war auf einmal ein Chor tiefer Stimmen zu hören. „He, das ist dieses russische Lied. ‚Kalinka‘.“

„Ja!“ Cynna packte Beth am Arm. „Komm. Das musst du sehen.“

„Na gut, aber –“

„Sie werden jetzt tanzen. Einige zumindest. Das ist einer der Tänze, bei denen sie trainieren, deswegen ist es halb Tanz, halb Akrobatik. Cullen sagt, heute Abend zeigen sie etwas Besonderes.“

„Okay“, sagte Beth und ließ sich mitziehen, „aber ich muss erst mit Lily reden.“

Cynna zog die Augenbrauen hoch. „Wollt ihr unter euch sein? Soll ich verschwinden?“

„Es geht um Großmutter.“

„Ich sehe mir die Tänzer an“, sagte Cynna entschlossen. Und ging.