10

„Cullen ist über den Berg“, sagte Rule schnell, erhob sich und ging zu ihr. „Cynna wurde nur vor Erleichterung schwindelig, das ist alles.“

„Gut.“ Sie nickte bestimmt. „Das ist gut.“

Er fragte sehr leise: „Hast du ihn gefunden?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du so früh schon den Tatort verlässt, wenn du den Täter nicht identifiziert hast.“

„Zufällig kenne ich einen der Deputys, die sie geschickt haben. Er ist ein guter Polizist. Ich vertraue ihm.“

Er verstand, was sie nicht ausgesprochen hatte: Sie wollte hier sein, bei ihm, falls es schlechte Neuigkeiten gab. Rule griff nach ihrer Hand und drückte sie, dann sah er Jason an und hob fragend die Augenbrauen.

Lily beantwortete die stumme Frage. „Cullen wird einen Pfleger brauchen. Äh, Rule, wer hat dir eigentlich dieses T-Shirt gegeben?“

„Modean Webster. Sie ist eine füllige Frau, deshalb dachte sie wohl, es würde mir passen, was … Ah“, sagte er, als er ihrem Blick folgte, „das hatte ich gar nicht bemerkt.“ Auf dem T-Shirt stand klein gedruckt: „Brave Frauen machen selten Geschichte.“

„Da gehört eigentlich ein Postskriptum hin“, sagte er. „So was wie ‚Ich, Rule Turner, stimme dem zu.‘“

Sie grinste.

„Du stimmst wem zu?“, sagte Cynna. „Ach, schon gut. Es geht wieder, Nettie, wirklich.“ Sie stand auf, um es zu beweisen. „Siehst du? Niemand hört auf mich, obwohl ich recht behalten habe. Habe ich nicht recht behalten, Rule? Ich habe gesagt, er schafft es.“

Er drehte sich um. Das Lächeln fiel ihm jetzt leicht. „Ja, du hattest recht. Du bist jetzt ganz offiziell eine Rechthaberin.“

„Oh, das wird dir noch leidtun.“ Cynnas Grinsen wurde breiter. Sie streckte sich. „Ich bin froh, dass es vorbei ist. Wann kann ich zu ihm?“

„Bald“, sagte Nettie und erhob sich. „Aber –“

Lily ergriff das Wort. „Einer von uns muss bei ihm sein. Er muss bewacht werden.“

„Mist. Ja.“ Cynna legte die Stirn in Falten. „Du hast vorhin so etwas gesagt.“

„Cynna.“ Nettie nahm Cynnas Hände. „Du kannst sehr bald zu ihm, aber ich muss dir erst etwas sagen. Die Operation war erfolgreich, aber Cullens Genesung wird möglicherweise … länger dauern.“

Sorge trat in Cynnas Blick. „Was bedeutet das?“

„Ich habe es zuerst ein Gift genannt. Das ist es nicht. Ein Gift hätte ich unschädlich machen können. Ich glaube, es ist ein Zauber, den ich aber weder identifizieren noch deaktivieren konnte. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber ich habe den eindringenden Erreger gezwungen, sich selbst zu verbrauchen, bis er einen Punkt erreicht hatte, an dem Cullens Körper ihn abwehren konnte. Aber im Moment ist der Erreger immer noch da und aktiv.“

Cynnas Kehle arbeitete, als sie schluckte. „Aber es geht ihm doch besser. Er wird wieder gesund.“

„Es geht ihm jetzt gut. Auf lange Sicht wollen wir natürlich einen Weg finden, den Erreger zu eliminieren.“

„Ich muss ihn sehen. Ich muss bei ihm sein.“ Sie sah zu Lily. „Ich will auch wissen, was du herausgefunden hast, aber –“

„Später“, sagte Lily. „Ich bringe dich später auf den neusten Stand, wenn ich dich ablöse.“

„Mich ablösen? Aber du wirst doch … Du musst ihn finden. Oder sie. Den, der das getan hat. Du kannst nicht einfach nur Wache stehen.“

„Im Moment habe ich keinen anderen, den ich als Wache einsetzen kann. Äh …“ Sie wandte sich an Nettie. „Ich habe schon mit der Krankenhausverwaltung gesprochen. Cullen bekommt keinen Besuch, und normales Pflegepersonal ist in seinem Zimmer nicht zugelassen; das gilt natürlich nicht für dich.“

Nettie guckte skeptisch. „Cullen braucht ständige Pflege. Professionelle Pflege. Deswegen sind wir ja in einem Krankenhaus und nicht auf dem Clangut.“

„Aus diesem Grund habe ich Jason mitgebracht. Er gehört nicht zum Personal, aber er hat die richtige Ausbildung. Wir werden mehr als einen brauchen, aber fürs Erste wird es reichen.“

Ärger blitzte in Netties Augen auf und blieb – ein seltener Anblick. „Vorübergehend könnte das klappen. Jason ist noch nicht examiniert, aber er hat schon Erfahrung. Er kann vorerst Cullens Pflege übernehmen.“

„Gut. Wo ist Cullen? Cynna muss zu ihm.“

„Er ist im Aufwachraum. Dort sind keine Besucher erlaubt. Hast du dafür gesorgt, dass auch das geändert wurde?“

Nettie hatte ihre Bemerkung sarkastisch gemeint, doch Lily antwortete geradeheraus. „Cynna gehört offiziell zur Sicherheitsmannschaft. Ja, das ist geregelt. Jason, weißt du, wo die Aufwachräume sind?“ Als er nickte, wandte sie sich an Cynna. „Nimm Jasons und Netties Muster, damit du überprüfen kannst, wer sie sind. Meins und Rules auch, wenn du sie noch nicht hast.“

„Ich nehme Jasons, aber den Rest brauche ich nicht. Wenn es sich um jemanden handelt, den ich gut kenne, ist kein Muster notwendig.“

„Gut. Lass niemanden in Cullens Zimmer, wenn du nicht sicher bist, wer er ist. Hast du eine Waffe?“

Cynna nickte grimmig.

„Okay. Geht jetzt. Ich komme so bald wie möglich zu euch.“

Cynna und Jason gingen. Lily drehte sich zu Nettie um. „Ich wollte nicht, dass Cullen unter seinem Namen aufgenommen wird. Du musst nach Adrian Fisher fragen, einem Patienten, der seit Dienstag hier ist.“

„Du bist sehr gründlich.“

„Und du bist sauer. Ich habe mich in deine Zuständigkeiten eingemischt.“

Nach einem Moment seufzte Nettie. „Und da soll mir noch einer sagen, dass nur Lupi in dieser Hinsicht so empfindlich sind. Ja, das hast du, und ich habe nicht sehr souverän darauf reagiert.“

Rule begab sich zu Nettie. Von Nahem roch er den schwachen, säuerlichen Geruch ihrer Erschöpfung. Er legte ihr die Hand in den Nacken, um mit den Fingern ein wenig von ihrer Spannung zu lösen. „Vielleicht weil du erschöpft, ausgelaugt und verängstigt bist. Cullen ist in keiner guten Verfassung, nicht wahr?“

Nettie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. „Mach eine Stunde weiter so, bitte. Nein, ist er nicht. Er hat eine große Herzoperation hinter sich, und dieser – dieser Erreger ist immer noch da und macht ihm zu schaffen. Nicht so stark wie vorher, der Mutter sei Dank, sonst wäre er jetzt tot, aber ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen wird.“

Lily sprach mit ruhiger Eindringlichkeit. „Könnte es so etwas wie das Dämonengift sein, das Rules Bein daran gehindert hat, zu heilen? Ist es so etwas?“

Gott, er hoffte nicht. Rule massierte weiter Netties Nacken, aber nun spannten sich auch seine eigenen Muskeln an. Sein Körper war in der Lage gewesen, es abzuwehren, aber wenn sich solch ein Gift in Cullens Herz befand …

„Das glaube ich nicht.“ Nettie runzelte die Stirn und öffnete die Augen. „Ich habe Rule nicht untersucht, als er infiziert war, deshalb kann ich die beiden Fälle nicht richtig vergleichen. Aber es war zuerst nur lokal, nicht wahr? Das ist bei Cullen wohl auch so, aber die Heilung wird nicht vollständig verhindert.“ Sie zögerte. „Es erinnert mich an einen Voodoo-Fluch.“

„Inwiefern?“

Nettie hob vage die Hand. „Es fühlt sich so an. Bei einem Voodoo-Fluch benutzt man etwas vom Körper des Opfers – Fingernägel, Haar oder Blut –, um seine bösen Wünsche darauf zu konzentrieren. Dies hier hat dieselbe Haptik. Nicht identisch, aber ähnlich. Der Zauber oder der Erreger bringt Cullens Körper dazu, sich gegen die Heilkraft seiner Magie zu wehren.“ Sie seufzte. „Bis ich das verstanden hatte, hatte ich ihn schon fast umgebracht. Ich versuchte immer weiter seinen Körper zu heilen, aber indem ich ihm Energie gab, fütterte ich quasi auch die kranke Magie. Ich musste erst dazu übergehen, seine natürliche Magie zu stärken.“

Rule drückte Netties Nacken sanft. „Du hast dich sicher ganz verausgabt. Du brauchst Ruhe.“

„Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Ich habe vor, einen der Assistenzärzte aus dem Bett zu werfen.“

„Willst du nicht stattdessen in meine Wohnung fahren? Oder in ein Hotel? Hier in der Nähe ist ein Sheraton.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss in seiner Nähe bleiben. Im Moment gewinnt Cullens Magie den Kampf, aber … es ist noch nicht entschieden.“

„Bevor du gehst“, sagte Lily, „könntest du kurz die Wunde beschreiben? Ich muss die Dimensionen der Klinge wissen, an welcher Stelle sie eingedrungen ist und in welchem Winkel.“

„Dünne Klinge“, sagte Nettie sofort. „Vielleicht einen Zentimeter breit und sehr dünn. Sie wurde zwischen der fünften und der sechsten Rippe eingeführt und ist dann in die linke Herzkammer eingedrungen –“

„Warte, warte, zeig es mir.“ Lily packte Rule und drehte ihn mit dem Rücken zu Nettie. „Zeig mir, wo sie eingedrungen ist und über welchen Winkel wir hier sprechen.“

Er zog die Augenbrauen hoch, fügte sich aber. Mit dem Rücken zu Nettie hatte er eine gute Sicht auf die Parwanis, die schweigend und beunruhigt zusahen, wie Nettie seinen Rücken links von der Wirbelsäule untersuchte.

„Hier“, sagte sie. „Die Klinge ist zwischen diesen beiden Rippen eingedrungen. In ungefähr diesem Winkel.“

Er sah über seine Schulter, als sie einen Stoß nachmachte.

„Das sieht irgendwie komisch aus“, sagte Lily. „Vielleicht war der Täter kleiner als du, im Verhältnis zu Rule.“ Sie stellte sich hinter Rule und machte dieselbe stoßende Bewegung mit ihrer Faust. „Aber nicht so viel kleiner. Ich bekomme nicht den richtigen Winkel. Rule, bück dich mal ein bisschen.“

Gehorsam beugte er die Knie. Die Parwanis gerieten in Aufruhr. Der junge Mann sagte etwas zu der alten Frau. Rule hörte es, konnte es aber nicht übersetzen – Urdu war keine der Sprachen, die er beherrschte. „Der Angreifer muss kleiner als Cullen gewesen sein“, sagte er. „Nettie, bist du sicher, dass die Klinge nur einen Zentimeter breit war?“

„Vielleicht auch weniger. Nicht mehr.“

Lily sagte: „Nettie, versuch mal, denselben Eintrittspunkt in demselben Winkel zu treffen.“

Wieder tat Nettie so, als würde sie auf seinen Rücken einstechen.

„Das sieht immer noch nicht flüssig aus“, stellte Lily fest. „Geh noch ein bisschen tiefer, Rule. Dann versuchen wir es noch mal.“

Er bückte sich. Nettie schlug wieder auf seinen Rücken.

„So sieht es richtig aus.“

Die Parwanis hatten genug. Die Matriarchin gab mit strenger Stimme Anweisungen, woraufhin alle ihre Sachen zusammenrafften und aus dem Raum hasteten.

„Was ist denn mit denen los?“, fragte Lily.

„Ich glaube, das war ein Missverständnis.“ Er fragte sich, ob sie den Wachdienst rufen würden. „Lily, ein Killer, der so groß wie sein Opfer ist oder größer, hätte den Stich anders geführt, von ungefähr hier oben herunter …“ Er benutzte Nettie, um es zu demonstrieren. „Er würde von oben in das Herz stechen, um die Arterie zu durchtrennen und gleichzeitig das Herz zu durchstechen. Das ist eine schnelle Art des Tötens.“

„Hmm.“ Lily klopfte nachdenklich mit den Fingern auf ihren Oberschenkel. „Nettie, wie groß bist du, eins dreiundsiebzig, eins vierundsiebzig?“

„Eins vierundsiebzig in Strümpfen.“

„Also elf Zentimeter kleiner als Rule, der fünf Zentimeter größer als Cullen ist.“ Lily nickte. „Wenn wir annehmen, dass der Größenunterschied zwischen Angreifer und Opfer fünfzehn Zentimeter ist, muss der Täter eins fünfundsechzig sein. Ich vermute, dass der Unterschied sogar noch ein wenig größer ist.“

„Vielleicht habe ich den Winkel nicht ganz exakt geschätzt“, gab Nettie zu bedenken.

„Trotzdem haben wir jetzt eine Bemessensgrundlage. Sagen wir ein Meter siebenundfünfzig bis ein Meter zweiundsiebzig. Das hilft uns weiter. Wann wird Cullen aufwachen?“

„Bald wahrscheinlich, obwohl ich ihn nicht lange wach sein lassen werde. Du willst mit ihm sprechen?“

„Wenn ich kann. Es ist wichtig. Und ich muss ihn auch berühren.“

Nettie lächelte schief. „Ach, jetzt fragst du also um meine Erlaubnis. Schon gut, ich komme schon drüber hinweg. Bevor ich schlafen gehe, muss ich nach ihm sehen. Das werde ich jetzt tun – vorausgesetzt, Cynna lässt mich in sein Zimmer – und rufe dich dann, wenn ich weiß, wie es ihm geht.“

„Okay. Danke.“

Rule fragte: „Soll ich da sein, wenn er aufwacht?“

„Das wäre mir lieb. Ich rufe an.“ Und damit ging sie.

Sie waren allein. Er hatte so viele Fragen, aber bevor er sich für eine entscheiden konnte, stellte Lily ihm eine. „Warum möchte Nettie, dass du dabei bist, wenn Cullen aufwacht?“

„Er ist möglicherweise unruhig. Sie kann ihn beruhigen, aber sie ist ausgelaugt. Ich bin sein Lu Nuncio. Selbst wenn er verwirrt ist, wird er es akzeptieren, wenn ich ihm sage, dass er nicht in Gefahr ist und sich ruhig verhalten soll. Lily, ich verstehe deine Sicherheitsmaßnahmen nicht. Ich nehme an, dass mein Vater Jason von jedem Verdacht der Mittäterschaft entlastet hat, aber es gibt noch weitere, die ebenfalls entlastet wurden, die Wache stehen können.“

Lily sah ihn mit einem seltsamen Blick an. „Weder Jason noch einer der anderen ist in der Lage festzustellen, ob jemand das ist, was er scheint.“

„Geruch“, sagte er ungeduldig. „Egal, wie er sein Erscheinungsbild ändert, ein Lupus erkennt ihn am Geruch.“

„Da gibt es zwei Probleme. Erstens, du gehst davon aus, dass der Täter ein Lupus ist. Zweitens –“

„Es ist auf dem Clangut geschehen.“ Wut und Kränkung schnürten Rule beinahe die Kehle zu. „Umgeben von Lupi. Kein Mensch wäre dort unbemerkt geblieben. Kein Mensch hätte so etwas auch nur versucht.“

„Ach, Rule.“ Sie strich ihm über beide Arme und nahm seine Hände in die ihren. „Du glaubst, es war einer von euch. Ein Nokolai. Als ich ankam, hattest du Angst, ich würde dir mitteilen, dass ich einen von euch verhaftet habe.“

„Es war nicht die Verhaftung, die ich fürchtete.“

„Wenn du dachtest, ich würde deinen Vater einen Mord begehen lassen –“

„Lily.“ Er drückte ihre Hände. „Isen kann jeden aus dem Clan zu einem Wandel zwingen, wenn er es will.“ Und einen Lupus in Wolfsgestalt zu töten, war vor den Augen des Gesetzes kein Mord.

„Ist das der Grund, warum du gegangen bist? Warum du nicht widersprochen hast“, korrigierte sie sich, „als ich dir sagte, du solltest gehen? Du hast erwartet, dass dein Vater den Täter findet und ihn tötet.“

„Es ist unwahrscheinlich, dass er es selbst tun würde – aber das war nicht der eigentliche Grund. Ich bin gegangen, damit ich ihn nicht töte.“ Nicht ohne den Befehl seines Vaters wenigstens, und er war sich nicht sicher gewesen, dass er die Entscheidung eines anderen hätte abwarten können. Auch nicht die seines Rho.

„Ich habe an die Möglichkeit gedacht, dass der Täter ein Nokolai ist, aber das ist sehr unwahrscheinlich.“

„Wenn du dabei an das denkst, was Nettie einen Erreger nennt, dann spricht es wirklich nicht dafür. Aber es ist nicht unmöglich. Jemand hätte sich eine verzauberte Klinge beschaffen können.“

Sie nickte. „Benedict, zum Beispiel. Wenn einer der Nokolai außer Cullen wüsste, wie man an so etwas kommt, dann Benedict. Aber er könnte sein Aussehen nicht magisch verändern. Er ist nicht zwischen eins siebenundfünfzig und eins zweiundsiebzig. Außerdem würde er nicht ohne die Zustimmung deines Vaters handeln, und Isen ist stinksauer.“

„Damit wäre Benedict vom Haken. Aber es gibt auch kleine Nokolai.“

„Die Magie nutzen? Ich nehme an, es wäre möglich, dass Cullen nicht der Einzige ist, aber wie wahrscheinlich ist es, dass du davon nichts weißt? Außerdem glaube ich, dass ich den Täter gesehen habe.“

Er erstarrte.

„Ich sah einen asiatischen Mann auf dem Fest, der sonst anscheinend niemandem aufgefallen ist. Deshalb vermute ich, dass er seine Erscheinung irgendwie magisch verändert – was aber bei mir natürlich nicht funktioniert hat. Und da ich nicht annehme, dass zwei verschiedene magisch unkenntlich gemachte Personen auf dem Clangut herumliefen, die dort eigentlich nichts zu suchen hatten, muss der Asiat unser Täter gewesen sein.“

„Du glaubst, er hat mein Erscheinungsbild angenommen?“

„Nicht ganz. Zwei Zeugen haben gesehen, wie du auf Cullen eingestochen hast, aber der Rest hat jemand anderen – oder mehrere andere – gesehen, außer einem, der schwört, dass Cullen von ganz allein gefallen ist. Der Täter scheint in der Lage zu sein, die Sinne zu verwirren, und ich sage ganz bewusst ‚Sinne‘, im Plural. Die meisten meiner Zeugen sind Lupi. Sie haben nicht einfach unterschiedliche Angreifer gesehen, sondern sie auch gerochen.“

Dies war ganz eindeutig keine besondere Fähigkeit der Lupi. Und ihr war auch nicht bekannt, dass jemand anders oder etwas anderes sie besäße. „Du hast sicher an der Stelle nach Magie gesucht.“

„Ich habe viel gefunden, aber nur Lupusmagie, abgesehen von einem winzigen bisschen, das vermutlich von Cullen stammt. Es könnte bedeuten, dass wir es mit einem menschlichen Täter mit einer uns unbekannten Gabe zu tun haben, irgendeiner Art von illusionistischen Künsten. Oder es gibt einen zweiten Cullen. Darauf würde ich im Moment setzen, weil wir damit ein Motiv hätten.“

„Was meinst du mit: einen zweiten Cullen?“

„Einen Zauberer. Jemand, der die Konkurrenz aus dem Weg räumen will, vielleicht.“ Ihr Telefon summte. Sie holte es aus ihrer Handtasche. „Ja?“

Rule hörte mit halbem Ohr zu, während Lily mit Nettie sprach, und dachte über das eben Gehörte nach. Lily war überzeugt, dass Cullens Angreifer kein Lupus war. Dann war er auch kein Nokolai, und das war eine große Erleichterung. Und durch die offensichtliche Nutzung von Magie stand ihre Zuständigkeit für diesen Fall nicht mehr infrage – das war gut.

Eigentlich müsste er froh sein, aber … wenn der Killer kein Lupus war, was war er dann?

Jemand, der die Augen und Nasen von Hunderten von Lupi irreführen konnte. Jemand, der einen Tötungszauber herstellen konnte und ihn auf der Spitze eines Messers, umgeben von Zeugen, übertragen konnte. Jemand, der besser war als alle Zauberer, die Rule kannte, einschließlich Cullen.

Rule rieb sich mit beiden Händen fest über das Gesicht. Er musste hellwach bleiben, er musste denken können. Die Richtung, die seine Gedanken nahmen, gefiel ihm nicht.

Lily beendete das Gespräch. „Nettie will, dass wir in den –“

„Ich habe es gehört.“ Er nahm sie bei der Hand und wandte sich zur Tür. „Weißt du, wo Cullens Zimmer ist?“

„Im dritten Stock. Rule, ich brauche meine Hand. Ich nehme zwar nicht an, dass ich hier meine Waffe ziehen muss, aber bitte lass meine Hand los.“

„Natürlich.“ Normalerweise achtete er darauf, in der Öffentlichkeit nicht ihre Schusshand zu ergreifen. Er war abgelenkt. Das war gefährlich.

Lily ging schnell zu dem roten EXIT-Schild am Ende des Flurs – zum Treppenhaus, mit anderen Worten, nicht zum Aufzug. Rule beschloss, ihr nicht zu widersprechen. Gewöhnlich zwang er sich dazu, in die verdammte winzige Kiste zu steigen, um seine Angst nicht noch weiter zu nähren, indem er sich einen Sieg gönnte.

Nur heute Nacht, sagte er sich. So viel durfte er sich wohl zugestehen.

Er ging vor, um die Tür zum Treppenhaus als Erster zu erreichen, und blieb kurz stehen, um zu lauschen. Zu riechen. Niemand auf der anderen Seite. Er öffnete die Tür. „Können wir denn mit Sicherheit wissen, dass dieser Illusionist oder Zauberer nicht auch Cynnas Muster ändern kann?“

„Mit Sicherheit weiß ich gar nichts.“ Was sie ganz offensichtlich ärgerte. „Es sieht so aus, als würde er irgendeine Art von mentaler Magie anwenden, indem er die Leute dazu bringt, jemand anderen zu sehen und zu riechen. Denn sie sehen nicht alle dasselbe. Wer weiß, ob er Cynna nicht so täuschen kann, dass sie glaubt, ihr Muster würde auf ihn passen? Deshalb bin ich auf dem Weg hierher bei meiner Großmutter vorbeigefahren.“

Er verspürte Erleichterung. Natürlich. Eine kleine alte Dame als Bodyguard – das mochte seltsam anmuten, aber Lilys Großmutter war … Nun ja, er wusste nicht, ob es überhaupt ein Wort für sie gab, aber Madame Li Lei Yu konnte sich bemerkenswert gut gegen Magie verteidigen. Sie konnte sich überhaupt bemerkenswert gut verteidigen, Punkt. Und sie mochte Cullen. Cynna würde einverstanden sein. „Wann kommt sie?“

„Es gibt nur ein Problem“, sagte Lily.

Rule hob überrascht die Augenbrauen. „Sie weigert sich?“

„Sie war nicht dort. Und Li Qin auch nicht.“