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Luan, Provinz Shanxim, China – neunzehnter Tag des elften Monats im vierundvierzigsten Jahr der Qing-Dynastie

Vier Personen warteten draußen vor Chen Wu Yins Haus, dem Mann, der die Genehmigung besaß, die Fäkalien in dem Bezirk zu sammeln, in dem der Zauberer seinen Wohnsitz hatte: zwei hungrige, verzweifelte Frauen, ein Mann mittleren Alters und Li Lei.

Sie hatte geplant, vor den Frauen, die jeden Tag kamen, hier zu sein. Mit dem Mann hatte sie nicht gerechnet.

Aus seiner Nase wuchsen lange Haare, die Li Lei mit Abscheu betrachtete. Wie war ihm zu Ohren gekommen, dass der Sammler heute eine Aushilfskraft brauchte? Nach all dem, was Li Lei auf sich genommen hatte, war es eine schreiende Ungerechtigkeit, dass der Mann ebenfalls hier war.

Sie hatte einen jungen Angestellten finden müssen, einen, der keine eigene Familie hatte, die er hungernd zurücklassen würde. Wen auch immer der Zauberer bestochen oder erpresst hatte und mit welchen Mitteln, um dieses Haus zu bekommen, er hatte erreicht, was er wollte. Der Zauberer beherrschte die Stadt und ihre Tore. Eine einzelne Person durch das Tor zu schmuggeln, war nicht so schwer, aber eine ganze Familie, ohne die notwendigen Papiere, war unmöglich.

Dann hatte sie den jungen Diener davon überzeugen müssen, die Stadt zu verlassen. Genug Münzen hatte sie, die sehr überzeugend wirken konnten, aber bis dahin war sie nicht mehr in der Lage gewesen, mit Sam zu sprechen … oder mit irgendjemandem sonst. Schließlich hatte sie einen der drei Steine benutzen müssen, die er ihr als Teil ihrer Ausbildung gegeben hatte.

Wenn er fand, dass sie dumm war, weil sie sein Geschenk dafür verschleuderte, wenn sie den Mann doch einfach hätte töten können, nun, dann konnte Sam sie später immer noch auslachen. Wenn es ein Später geben sollte. Wenn nicht, würde er vielleicht trotzdem lachen. Aber sie hoffte, dass er außerdem noch einige Sachen niederbrennen würde – nicht nur einige, sondern viele.

Oh, sie hatte schon daran gedacht, den Mann zu töten. Sie war nicht zimperlich, obwohl Sam es behauptete. Sie hätte sich einreden können, dass der Mann im Dienst für seine Stadt gestorben wäre oder sogar für ganz China. Sam glaubte, der Zauberer würde sich niemals nur mit einer Stadt begnügen, dass seine Macht noch wachsen würde … wie die seines unersättlichen Lieblings. Und irgendwann würde der Zauberer seinen Blick auch auf den prächtigsten Glanz richten, den Hof des Kaisers.

Dort konnte er großen Schaden anrichten. Und seine Geliebte sogar noch mehr.

Aber Li Lei war nicht hier, um China zu retten, den Kaiser oder die Stadt. Noch war sie hier, um Sam bei seinen Plänen und Vorhaben zu helfen. Sie hatte sich nie etwas vorgemacht. Er hatte gesagt, dass er sie zu einem bestimmten Zweck brauche, und ihr das Versprechen abgenommen, diesen zu erfüllen, wenn die Zeit gekommen sei.

Sie nannte ihn Sam. Ein kleiner Scherz zwischen ihnen, aus einem der Wortspiele hervorgegangen, wie er sie so liebte. Für andere war er Sun Mzao, der Sagenumwobene und selten Gesehene. Die Bauern erzählten sich, dass er seit tausend Jahren in den Bergen nahe Luan lebte. Die Gelehrten behaupteten, er sei vor vielen Jahren in der Schlacht von Shanhaiguan getötet worden, als er gegen die mongolischen Eindringlinge gekämpft habe.

Manchmal waren die Gelehrten dumm und die Bauern klug.

Sun Mzao hatte gewusst, dass der Zauberer und die Chimei kommen würden, lange bevor sie selbst es wussten. Er hatte Li Lei das erste Mal gerufen, als sie fünfzehn war, weil er wusste, dass sie eines Tages zu ihm kommen würde – und weil sie das Werkzeug war, das er gegen die Chimei brauchen würde. Davon hatte er ihr aber erst erzählt, als er fand, dass der richtige Zeitpunkt gekommen sei.

Aber er hatte nicht gewusst, dass Li Leis Familie getötet werden würde. Sie warf es ihm nicht vor. Er war, was er war.

Trotzdem war sie nicht seinetwegen hier oder des Versprechens wegen, das sie ihm gegeben hatte, als er sie zur Schülerin genommen hatte. Sie war hier, weil der Zauberer und seine Geliebte ihr die Ihren genommen hatten.

„Jungchen, sieh dich lieber woanders um“, sagte der Mann mit den Haaren in der Nase. „Ich werde ja doch statt deiner oder dieser armen Frauen dort genommen.“

Er hatte sicher recht, aber Li Lei hatte keine Lust, ihm zuzustimmen. Sie senkte den Kopf, um ihren zornigen Blick zu verbergen – manchmal fiel es ihr schwer, angemessen unterwürfig zu erscheinen –, und schüttelte ihn entschieden.

„Man hat dir wohl gesagt, du sollst hierher kommen, was? Nun, dann wirst du wohl gehorchen müssen, aber du verschwendest nur deine Zeit.“

Li Lei fragte sich, warum ein gesunder Mann von dreißig Jahren eine Arbeit annahm, die darin bestand, Fäkalien einzusammeln. Er sah weder ausgehungert aus, noch hustete er, noch hatte er Anzeichen von Pocken, aber irgendetwas konnte mit ihm nicht stimmen. Nun, er trug keinen Zopf, was töricht war. Doch es gab immer noch einige, die sich dem Erlass des Mandschukaisers für seine Hanuntertanen widersetzten. Li Lei selbst fand ihn recht praktisch. Mit ihrem teilweise geschorenen Kopf, den Rest der Haare zu einem langen Zopf geflochten, sahen die Leute einen Jungen von ungefähr vierzehn Jahren in ihr. Nie wären sie auf die Idee gekommen, sie könnte eine Frau sein.

Der Mann zuckte die Achseln und wandte sich ab. „Jedenfalls darfst du nicht empfindlich sein.“

Vielleicht war sie nicht die Einzige, die sich durch diese niedere Arbeit Zutritt zu dem Haus des Zauberers erhoffte. Ein beunruhigender Gedanke. Er könnte ein Dieb sein.

Gehörte er etwa zu einem tong, einer Bande? Wenn dem so war, hätte er sie sicher bedroht … Aber nein, er glaubte ja, dass sie ihm die Arbeit nicht würde wegnehmen können. Wie konnte sie ihn loswerden? Sie wollte den Mann ungern töten, trotz seiner abscheulichen Nasenhaare.

Die ziemlich mitgenommene Tür zu Chen Wu Yins Haus öffnete sich. Seine Frau trat heraus und musterte sie alle vier. Chen Wu Yins Frau war sehr fett und sehr gewitzt, aber Li Lei hatte erfahren, dass sie in aller Heimlichkeit auch großherzig sein konnte.

„Ihr wollt also Arbeit, was?“ Sie musterte den Bauern mit sichelmondförmigen Augen über den größeren Monden ihrer Wangen. „Oh, seid still“, sagte sie zu den beiden Frauen, die mit weinerlicher Stimme vortrugen, wie dringend sie eine Arbeit brauchten. „Ihr wisst, dass ich keine Frauen mit Wu Yin mitschicke. Mein ehrenhafter Mann kann nicht mit Frauen umgehen. Ich begreife nicht, warum ihr immer wieder herkommt.“

Li Lei wusste, warum sie kamen. Chen Wu Yin war ein lüsterner alter Bock, und deswegen nahm seine Gattin keine Frauen. Aber wenn niemand anders es sehen konnte, fand sie oft eine Kleinigkeit für diese Frauen zu tun und bezahlte sie mit einer Schale Reis. Li Lei fand, dass es klug von ihr war, ihre Freundlichkeit nicht zur Schau zu stellen. Denn sonst würden viel zu viele vor ihrer Tür stehen und um Almosen und kleine Arbeiten bitten. Sie konnte schließlich nicht alle Armen der Stadt durchfüttern.

Woher Li Lei das wusste? Nun, es war Winter, und Li Lei hatte als Sun Mzaos Schülerin viel gelernt. Chen Wu Yins Frau mochte es gern warm. In ihrem Haus brannte immer ein kleines Feuer, und durch dieses Feuer konnte Li Lei hören, was im Haus passierte. Damit nutzte sie Magie, ja, und ging ein Risiko ein, aber der Zauberer konnte die Stadt nicht vollständig von aller Magie säubern. Wenn man eine Feuergabe hatte, so wie sie, brauchte das Hören mittels Feuer nur sehr wenig Energie. Leicht hätte die Magie von einem Talisman herrühren können, den sich die Frau angeschafft hatte, wenn sie überhaupt bemerkt worden wäre.

„Herrin“, sagte der Bauer mit leiser Stimme, den Blick, wie es sich gehörte, auf den Boden gerichtet. „Ich hoffe, du hast eine Arbeit für mich. Ich bin ein guter Arbeiter – stark und gesund –, und ich habe eine Frau und zwei kleine Söhne. Ich brauche Arbeit.“

„Hmm.“

Auf einmal hatte Li Lei eine Eingebung. Hinter dem Rücken des Mannes zeigte sie auf ihn und machte das Zeichen für tong. Möglicherweise kannte die Frau es nicht, aber wenn doch …

„Du siehst stark aus“, sagte sie widerwillig, „aber ich habe versprochen, heute den Sohn der Frau meines Vetters zu fragen, ob er die Arbeit übernehmen kann. Die Familie kommt zuerst, das verstehst du sicher. Wenn er nicht ordentlich arbeitet, rede ich wieder mit dir.“ Zum ersten Mal richtete sie nun den Blick auf Li Lei. „Nun, Junge? Willst du mich ewig warten lassen? Komm rein, komm rein.“

Das Haus, in dem der Fäkaliensammler mit seiner Frau lebte, war selbstverständlich bei Weitem nicht so fein wie das Haus, in dem Li Lei gewohnt hatte. In dem kleinen Gesellschaftsraum, den sie nun betrat, war es sehr eng, und er war nicht sehr sauber. Aber im Kamin brannte ein fröhliches Feuer, dessen Wärme Li Lei guttat.

„Der Mann gehörte also einem tong an, ja?“, wollte Chen Wu Yins Frau wissen.

Li Lei zögerte, zuckte dann die Achseln, tippte sich gegen den Kopf und nickte. Ich glaube.

„Was, bist du etwa stumm?“

Li Lei öffnete den Mund und zeigte der fetten Frau, warum sie nicht sprach. Dann zog sie das schmutzige und mehrfach gefaltete Blatt Papier heraus, das sie vorbereitet hatte und auf dem ihr angebliches Vorleben beschrieben wurde. Denn wer würde einen stummen Jungen anstellen, der niemanden hatte, der für ihn sprach?

Wie es schien, eine heimlich weichherzige Frau, die von dem Einsammeln von Exkrementen lebte. Denn obwohl die Frau nicht lesen konnte, stieß sie einen erschrockenen Ausruf aus, als sie in Li Leis Mund sah, und murmelte etwas von Dummköpfen und Verrücktheiten – und dass ihr Ehemann nicht zu denen gehöre, die stumme Diener verlangten, überhaupt nicht, und warum die Menschen solche Idioten seien! Und während sie vor sich hin murmelte, holte sie für Li Lei eine kleine Schale mit Sojaquark und erklärte ihr dann, wo sie schlafen und arbeiten würde.

Erschrocken stellte Li Lei fest, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie aß den Sojaquark und verbeugte sich dankend. Ihre dummen Augen waren immer noch feucht. In diesem Moment wusste sie, was sie mit der Münze machen würde, die in einer Schärpe unter ihrer Kleidung eingenäht war. Sie würde sie hier lassen, bei dieser Frau, die einem schmutzigen, stummen Jungen half, obwohl sie es gar nicht musste. Sie selbst würde die Münze ja doch nicht brauchen.

Danach arbeitete sie tatsächlich sehr hart, und als sie sich auf dem Stroh in dem kleinen Verschlag zusammenrollte, in den man sie zum Schlafen geschickt hatte, taten ihr die Muskeln weh, und sie roch fürchterlich. Aber sie wusste, wie der erste Teil ihres Plans aussehen würde.

Der einzige Schwachpunkt ihrer Verkleidung war ihre Stimme. Auch wenn Li Lei sich noch so sehr anstrengte, sie würde sich immer wie eine junge Frau anhören. Deshalb musste sie stumm sein – und hatte eine gute Erklärung dafür gefunden. Der Fäkaliensammler brauchte tatsächlich keine stummen Diener, aber der Zauberer. Einige verarmte, aber findige Familien hatten bereits versucht, ihre überzähligen Söhne oder Töchter in seinen Dienst zu geben, indem sie ihnen die Zunge herausschnitten. Chens Frau hatte angenommen, dass Li Lei eines von diesen Kindern sei.

Fürs Erste würde Li Lei nun Fäkalien einsammeln – und das bedeutete, dass sie auf das Gelände des Zauberers gelassen würde. Wenn sie erst einmal wusste, wie es dort zuging, konnte sie ihre Verkleidung ein wenig ändern. Dort musste sie nicht lange für einen Diener durchgehen.

Lange lag Li Lei zusammengerollt auf dem stinkenden Stroh in der Dunkelheit wach. Sie sehnte sich nach dem Schlaf wie nach einem Geliebten, aber er wollte nicht kommen.

Genauso wie die Geister nicht kamen. Nicht letzte Nacht oder die Nacht davor oder die Nacht vor dieser. Oder sie waren gekommen, und Li Lei hatte sie nicht sehen oder hören können.

Ihre dumme, fruchtbare Stiefmutter war tot. Ihre Tanten waren tot – die jüngere Schwester ihrer Mutter, die ältere Schwester ihres Vaters und deren Tante. Und dann die Diener, selbst die harmlose kleine Shosu, die mit Li Lei herumgealbert hatte, wenn sie eigentlich hätte arbeiten sollen, und die zerstreute alte Zi Jeng, die schon für den Vater ihres Vaters gearbeitet hatte.

Ihr Vater war tot. Die kleinen Kinder … Oh, Jing wäre empört darüber, dass sie ihn in Gedanken ein kleines Kind nannte! Aber das würde er nie erfahren, denn er und die beiden Mädchen waren tot. Keinen von ihnen würde sie je wieder sehen oder sprechen. Sie wusste nicht einmal, wo sie begraben waren, damit sie ihnen Opfer hätte darbringen können.

Sun Mzao behauptete, dass sie diese Opfer im Totenreich gar nicht bekämen, doch er wusste zwar viel über den Tod, gab aber zu, dass er keine Verbindung zu den Toten hatte. Li Lei ebenfalls nicht. Ihr Wissen über den Tod stammte gänzlich von dieser Seite des Vorhangs – aber abgesehen von dieser Einschränkung war es umfangreich.

Die Chimei hatte ihre gesamte Familie getötet, indem sie die Hand eines ihrer Lieben ergriffen hatte, um den anderen den Tod zu bringen. Die Dämonin konnte nicht selbst getötet werden, auch wenn Li Lei nichts lieber getan hätte, als sie durch den dunklen Vorhang zu schicken – aber sie konnte verletzt werden, geschwächt, aufgehalten.

Und der Zauberer konnte sterben.

Und das würde er. Das hatte Li Lei bei ihrem richtigen Namen geschworen – kurz bevor sie sich die Zunge herausgeschnitten hatte.