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Als die Deputys eintrafen, hatte Lily bereits das niedergetrampelte Gras um die Stelle herum, wo Cullen zu Boden gegangen war, überprüft. Außerdem hatte sie sieben Zeugen befragt und wollte gerade mit Nummer acht fortfahren.

Mit Isen zu arbeiten, war anders als mit Rule. Beinahe beängstigend effizient, aber anders. Zum einen sah Lily Isen heute zum ersten Mal in Wolfsgestalt – eine Tatsache, die sie erstaunte, als sie ihr bewusst wurde. Trat er ihr aus Höflichkeit immer in der Gestalt gegenüber, die sie am besten verstand? Oder wandelte er sich nicht so oft? Wenn ja, war es eine Sache des Alters oder der Neigung, oder lag es an seinem Status als Rho?

Aber jetzt war für diese Fragen nicht die richtige Zeit.

Isen war ein wunderschöner Wolf. Kleiner als Rule, aber immer noch größer als ein normaler Wolf, sehr muskulös in Brust und Schultern. Sein Fell war rötlichbraun, fast fuchsartig, was sie sehr passend fand. Aber er war ein ganzer Wolf.

Wenn Rule Wolf war, vergaß Lily nie, wer er war, sodass seine Gestalt zweitrangig wurde. Bei Isen wusste sie jede Sekunde, dass ein großer, starker Wolf neben ihr stand. Sie hatte keine Angst. Aber sie war sich dessen bewusst.

Die Zeugen waren alle gleich höflich und entgegenkommend. Und – wie Isen es vorausgesagt hatte – sie sagten die Wahrheit.

Das, was sie für die Wahrheit hielten.

Zwei Zeugen – Mike Hemmings und Sandra Metlock – hatten beobachtet, wie Rule mit einer vergifteten Klinge auf seinen besten Freund einstach. Ein Zeuge hatte gesehen, wie Cynna das Gleiche tat. Drei andere hatte drei verschiedene Angreifer erblickt – Mike Hemmings, Piers und „einen Fremden. Den Typ habe ich noch nie zuvor gesehen.“ Und wieder ein anderer Zeuge behauptete steif und fest, das Messer sei geworfen worden, weil niemand hinter Cullen gestanden habe, als er zusammengebrochen sei.

Niemand hatte einen Asiaten in Cullens Nähe gesehen.

Das Messer war nicht aufzufinden.

Auf dem Gras und an der Stelle des Bodens, wo der Täter gestanden haben musste, spürte sie die Art von pelzigem Kribbeln, wie sie es von Lupi kannte. Normalerweise hinterließen Lupi auf Objekten keine Spuren ihrer Magie, es sei denn, sie wandelten sich, aber bei starken Gefühlen kam es vor, dass sie ein wenig davon abgaben, vielleicht weil sie dann stets versucht waren, sich zu wandeln. Und da war ein leichter Hauch des tanzenden Kitzelns, das sie mit Zauberei verband, aber es überraschte sie nicht. Cullen war schließlich ein Zauberer.

Shannon brachte die nächste Zeugin zu ihr, die nicht allein kam, sondern Hand in Hand mit einem anderen Zeugen. Lily seufzte. „Jason, ich spreche allein mit dir.“

„Ich möchte gerne, dass er bei mir bleibt“, sagte Beth mit herausfordernd gehobenem Kinn.

„Tut mir leid, das ist unmöglich – es sei denn, er ist Anwalt und du lässt dich von ihm vertreten.“

„Vielleicht will ich einen Anwalt.“

Lily sah ihre Schwester lange an, dann machte sie eine Handbewegung in Jasons Richtung. „Geh zurück und warte dort. Shannon, bitte begleite ihn.“

Jason wollte protestieren, machte aber sofort kehrt, als der große rote Wolf neben Lily ihm einen Blick zuwarf. Shannon folgte ihm.

Lily trat nahe an Beth heran und sagte leise, obwohl Isen ohnehin jedes Wort hören würde: „Also gut, was ist los?“

„Ich … ich will es nicht sagen, das ist alles.“

„Hast du gesehen, was passiert ist?“

Beth antwortete nicht, aber das Zucken um ihre Augen sagte sehr deutlich „Ja.“

Lily strich ihr leicht und beruhigend über den Arm. „Beth, du weißt, dass du es mir erzählen musst.“

Beth schluckte und wandte den Blick ab. „Es war Freddie“, flüsterte sie. „Ich habe dir ja gesagt, dass er hier war. F-Freddie hat auf Cullen eingestochen. Ich habe ihn gesehen. Ich weiß, es ergibt keinen Sinn, warum sollte er … Aber er hat es getan.“

„Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Bist du sicher? Wo hast du gestanden?“ Lily stellte Beth dieselben Fragen wie den anderen Zeugen und ließ sie alle, an die sie sich erinnerte, in dem Diagramm einzeichnen. „Gut. Das ist gut. Hör zu, Beth.“ Sie packte ihre Schwester bei der Schulter. „Du hast mir weitergeholfen. Sehr sogar. Mach dir keine Sorgen wegen Freddie. Er war nicht hier.“

„Aber ich habe ihn doch –“

„Ja, ich weiß, vertrau mir einfach, okay?“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Mist. Ich muss Ruben anrufen.“

Benedict kam zu ihnen. „Du wolltest wissen, wann die Leute vom Sheriff kommen. Sie sind gerade durchs Tor.“

Achtunddreißig Minuten. Verdammte achtunddreißig Minuten hatte es gedauert, bis sie auf einen versuchten Mord reagierten. Abgesehen davon, dass sie ihr durch ihre Abwesenheit die Arbeit erleichtert hatten. „Danke. Äh … Isen, ich muss mit den Deputys reden, bevor ich die Befragungen fortsetze, wenn du also …“ Sie zeichnete mit dem Finger einen kleinen Kreis in die Luft, wie die Lupi, wenn sie auf den Wandel anspielten.

Als sie ihr Telefon aus der Handtasche zog, stand ein splitterfasernackter Isen auf zwei Beinen neben ihr. Weniger haarig, aber nicht sehr.

Lily tat, als sei nichts. Sie drückte die Kurzwahltaste sieben.

Cynna ging sofort dran. „Wir sind noch auf dem Weg. Das Krankenhaus ist ungefähr sechs Blocks entfernt.“

„Ich höre eine Sirene.“

„Wir haben eine Polizeieskorte. Ich habe Ida angerufen, bevor wir das Clangut verließen, und sie hat es arrangiert. Sie haben uns auf dem Highway eingeholt. Rule war gar nicht begeistert, weil er langsamer fahren musste – entweder sind ihre Autos nicht so schnell wie seins, oder sie wollen nicht so schnell fahren –, aber als wir vom Highway runter waren, haben sie sich als ganz nützlich erwiesen.“

„Du hältst dich wirklich tapfer.“

„Er ist nicht tot. Ich habe Nettie das Versprechen abgenommen, dass sie mich anruft, wenn er … wenn sich sein Zustand verschlechtert. Sie hat nicht angerufen, das heißt, er ist nicht tot.“ Lily hörte Rules Stimme im Hintergrund, dann fügte Cynna leicht belustigt hinzu: „Rule sagt, Cullen müsse sich schon sehr anstrengen, wenn er jetzt noch sterben wolle.“

Wenn ein Lupus die ersten dreißig Minuten nach einer Verletzung überlebte, war damit zu rechnen, dass er durchkam – vor allem, wenn Nettie über ihn wachte. Das Problem war nur, dass Cullens Heilung durch ein unbekanntes Gift beeinträchtigt wurde. Die Dreißig-Minuten-Frist würde in diesem Fall vielleicht nicht gelten.

Lily zwang sich zu einem Lächeln, damit Cynna es in ihrer Stimme hörte. „Ich mache mir keine Sorgen. Cullen ist zu störrisch, um zu sterben.“

Ein Polizeiwagen fuhr auf den Parkplatz an der Ostseite der Festwiese. Sie bat Cynna, einen Moment zu warten, und Benedict, einen seiner Leute abzustellen, um die Beamten zu ihr zu bringen. Normalerweise wäre sie ihnen auf halbem Wege entgegengegangen, aber nicht, wenn sie sich erst nach fast vierzig Minuten bequemten zu erscheinen. Und schickten sie tatsächlich nur einen Wagen?

Sie schluckte ihren Ärger hinunter. Fürs Erste. „Cynna, die Leute des Sheriffs sind gerade gekommen, deswegen habe ich keine Zeit für lange Erklärungen, aber es sieht so aus, als könnte der Täter sein Erscheinungsbild radikal verändern. Ich weiß, es heißt, Illusionisten gebe es nicht –“

„Nicht in diesem Jahrhundert. Es sei denn, wir haben es mit einer Killerelfe zu tun. Eine, die noch eine Rechnung mit Cullen offen hat – was zugegebenermaßen möglich wäre. Die offene Rechnung, meine ich.“

„Ich weiß nicht, womit wir es hier zu tun haben. Bisher ergibt das alles keinen Sinn. Aber bis wir mehr wissen, sei bitte mehr als vorsichtig. Bleib bei Cullen und … wäre es dir möglich, jeden zu überprüfen, der in Kontakt mit ihm gerät? Kannst du deine Zaubermuster irgendwie dazu benutzen herauszufinden, ob sie wirklich das sind, was sie vorgeben?“

Cynna war die beste Finderin Nordamerikas. Finden war ihre Gabe. Doch meistens musste sie erst ein Muster dessen, was sie finden wollte, herstellen. Das tat sie mit einem Zauber.

„Hmm. Kann sein. Es würde helfen, wenn ich etwas über den Täter wüsste – sein Alter, ob er ein Mensch ist oder nicht. Irgendetwas Konkretes, das ich prüfen kann.“

„Ich habe nichts für dich. Ich weiß noch nicht einmal, ob es wirklich ein ‚Er‘ ist. Aber …“ Lily zögerte und gab sich dann einen Ruck. „Der Täter ist möglicherweise Asiat. Hilft dir das weiter?“

„Asiat?“ Die Überraschung in Cynnas Stimme wurde mitten im Satz von Dringlichkeit abgelöst. „Ich habe nicht gesehen, dass – okay“, sagte sie, wahrscheinlich zu Rule. „Lily, wir sind jetzt da. Ich muss auflegen. Ich bleibe an Cullens Seite – na ja, nicht während der OP. Ich glaube nicht, dass sie mich da reinlassen. Aber ich muss jetzt los.“

Die Leitung war tot. Nachdenklich steckte Lily ihr Telefon weg. War die Information jetzt hilfreich gewesen, oder hatte sie alles nur noch komplizierter gemacht?

Warum war Cullen überhaupt angegriffen worden? Natürlich hatte er Feinde. Aber warum dieser Feind zu diesem Zeitpunkt? Warum inmitten von einigen hundert Lupi?

Die Deputys kamen über die Wiese zu ihr. Sie runzelte die Stirn. Sie musste die Personen befragen, mit denen Rule nach eigenen Angaben gesprochen hatte, als er Cynnas Schrei gehört hatte. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte, aber sie musste es auch bestätigen.

Aber nicht jetzt. Im Umgang mit den uniformierten Dummköpfen, die auf sie zusteuerten, war Diplomatie gefragt.

„Lily“, sagte Isen.

„Was ist denn?“, fuhr sie ihn an.

„Beiß die netten Beamten nicht.“ Jemand hatte ihm ein Paar Jeans gebracht, die er, während sie mit Cynna sprach, angezogen hatte. Jetzt zog er den Reißverschluss hoch. „Die Behörde des Sheriffs weiß, dass sie unseretwegen nicht sofort angerannt kommen muss.“

„Ihr habt eine Art Abmachung, dass sie sich Zeit lassen, wenn eine Meldung reinkommt?“

„Selbstverständlich nicht.“ Sein Gesicht zeigte keine Regung. „Das wäre falsch.“

Sie schnaubte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden Männern zu, die die Wiese überquerten.

Es war zu dunkel, um ihre Gesichter zu sehen. Aber sie erkannte, dass beide männlich waren; einer weiß, der andere schwarz. Beide sahen fit aus. Der weiße Mann war groß, vielleicht eins fünfundachtzig, und schlank; der Schwarze war kleiner und breiter. Nicht dick, keineswegs, aber stämmig, wie eine kleinere Ausgabe von Benedict. Er bewegte sich wie eine Katze, geschmeidig und leicht.

Lilys Körper begriff vor ihrem Verstand. Sie fragte sich immer noch, warum ihr der Schwarze bekannt vorkam, da stockte ihr der Atem. Eine Sekunde später wusste sie es.

Als sie drei Meter entfernt waren, konnte sie sehen, dass der größere Deputy blond und so sauber und adrett wie ein Neuling gekleidet war und ein steifes Gesicht machte, wie jemand, der hoffte, hart zu wirken. Der andere Mann hatte eine breite Nase, tief liegende Augen und trug keinen Hut. Sein Haar war raspelkurz geschnitten. Er musste nicht versuchen, hart auszusehen. Er war es wirklich … auch wenn auf seiner linken Backe ein Schmetterling tätowiert war.

Nicht auf der Backe in seinem Gesicht. Auf der, die jetzt von seiner sauberen Khakihose bedeckt war.

Lily wartete, bis sie vor ihr stehen blieben. Sie wünschte sich nicht Isen weit fort, aber – flüchtig und inbrünstig – dass ihre Schwester nicht hier wäre. „Hallo, Cody. Lange nicht gesehen.“