17

Lily und Rule ließen den Wagen dort stehen, wo er war. Li Qin trat unter dem gestreiften Baldachin hervor und verbeugte sich leicht, als sie näher kamen. Sie war eine stämmig gebaute Frau mit einem eckigen, reizlosen Gesicht und einer auf unbeschreibliche Art reinen und lieblichen Stimme.

„Ich freue mich, euch beide zu sehen“, sagte sie in ihrem präzisen Englisch mit leichtem Akzent. „Ich wollte gerade Tee trinken, als Sam mir sagte, dass ihr bald eintreffen würdet. Möchtet ihr mir die Ehre geben und mir Gesellschaft leisten?“

„Selbstverständlich“, erwiderte Lily, weil es unmöglich war, anders als höflich mit Li Qin zu reden. Sie sah das Teeservice auf einem niedrigen Tisch stehen und fluchte insgeheim. Li Qin hatte vor, den Tee richtig zuzubereiten, als Gongfu-Cha-Zeremonie.

Mit anderen Worten: langsam. „Danke. Es ist uns eine Ehre. Li Qin, ist Großmutter auch hier?“

„Ah.“ Die milden Gesichtszüge drückten Bedauern aus. „Ich habe nicht nachgedacht. Natürlich hofftest du, sie hier zu finden. Es tut mir leid, aber sie ist nicht hier. Rule, du magst, glaube ich, deinen Tee im englischen Stil, aber ich fürchte, ich habe weder Zucker noch Milch.“

„Deine Stimme süßt ihn genug für mich.“

Sie lächelte. „Du bist zu freundlich.“

Li Qins Lächeln machte ihr Gesicht nicht weniger reizlos, und doch wurde Lily nie müde, sie lächeln zu sehen. Deswegen fiel es ihr auch schwer, offen zu sprechen. „Li Qin –“

„Du hast viele Fragen. Ich verstehe. Ich werde dir ein paar Dinge sagen, während ich den Tee zubereite. Sam wird …“ Sie warf einen Blick auf den gewölbten Eingang zu Sams Höhle, der in fünfzehn Metern Entfernung ungefähr drei Meter über der Erde lag. Eine Spur von Übermut blitzte in ihren Augen auf. „Ich habe mit Sam gewettet und gewonnen. Er dachte, ihr würdet erst in ein paar Tagen kommen. Jetzt schmollt er, aber er wird sicher nachher herunterkommen.“

Lily folgte ihrem Blick. Die Wölbung war hoch und breit und ganz offensichtlich künstlichen und nicht natürlichen Ursprungs. Dahinter wurde aus den Schatten schnell Finsternis. Sie fragte sich, wie tief es dort hineinging. Sams Höhle in Dis hatte ebenerdig gelegen, nicht drei Meter hoch wie diese hier, und sie war Teil eines ausgedehnten Höhlensystems gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie Rule, der Wolf, sich überwunden hatte, es zu erkunden, trotz seiner …

Ein plötzlicher Schauder schüttelte die Erinnerung ab.

Rule fing ihren Blick auf und hob die Brauen zu einer stummen Frage. Lily zuckte nur leicht mit den Achseln. Es waren nicht ihre eigenen Erinnerungen gewesen. Nicht diese.

„Nehmt bitte Platz“, sagte Li Qin. Sie begab sich zu einem leuchtend blauen Kissen am anderen Ende des Tisches.

Der Tisch war quadratisch und schwarz lackiert – und kam Lily bekannt vor. Genauso wie die Gegenstände, die gewissenhaft auf seiner schimmernden Oberfläche angeordnet waren – die henkellosen Tassen auf dem Tablett, die kleine Teekanne aus Ton und ein cha pan, der hölzerne Teelöffel und der Kessel. Der Teppich war neu, ein preiswerter Sisal. Der Rest stammte aus den Schätzen ihrer Großmutter.

Warum waren diese Dinge hier? Warum war Li Qin hier, aber ihre Großmutter nicht?

Und wenn sie schon einmal dabei war: Wie beabsichtigte Li Qin hier Tee zuzubereiten? Lily setzte sich auf ein rosafarbenes Kissen, Rule ließ sich auf einem grünen neben ihr nieder. Ein Kessel war da, aber kein Feuer oder irgendetwas anderes, mit dem sie Wasser erhitzen konnte, soweit Lily sehen konnte.

„Ich hoffe, ihr entschuldigt mich“, sagte Li Qin, während sie begann, mit dem hölzernen Löffel Teeblätter in die Kanne abzumessen, „wenn ich gleich mit der Geschichte beginne, statt erst eine eher traditionelle Unterhaltung zu führen, während ich den Tee zubereite. Ich habe den Eindruck, ihr habt es eilig, nicht wahr?“

„Ja“, murmelte Lily erleichtert. Pedanten wie ihre Großmutter oder Li Qin würden sich jetzt normalerweise erst freundlich nach der Gesundheit aller Anwesenden erkundigen und weitere ähnlich spannende Themen anschneiden. Harmlose Konversation mit anderen Worten, zur Entspannung.

Nicht dass Li Qin Hilfe beim Entspannen nötig gehabt hätte. Ihre Stimme und ihre Miene waren definitiv entspannt, als sie jetzt zu sprechen begann. „Vor zwei Tagen bat mich deine Großmutter, mich aus Gründen der Sicherheit zu Sam zu begeben. Sie müsse sich um eine alte Feindin kümmern, die in diese Stadt gekommen sei.“ Sie stellte die Teekanne in den cha pan, eine große Schale, und hob den Kessel hoch. „Würdest du bitte, Sam?“ Sie lächelte Lily an, dann Rule. „Ich trete als Gastgeberin auf, aber ihr seid Sams Gäste. Er nimmt an der Zubereitung des Tees teil. Ah, fertig? Danke.“

Anscheinend war Sam das Feuer. Das Wasser dampfte, als Li Qin es in die Teekanne goss und leicht überlaufen ließ. Dafür war die Schale da, um das absichtlich verschüttete Wasser aufzufangen. Geschickt fischte sie größere Stückchen und Schaum heraus, legte dann den Deckel auf die Kanne und goss schnell das Wasser in die Tassen. „Diese Feindin ist eine Chimei. Kennst du das Wort?“

Lily schüttelte den Kopf.

Nachdem die Tassen gefüllt waren, leerte Li Qin sie. Der erste Aufguss galt als minderwertig und wurde nur dazu benutzt, die Tassen anzuwärmen. „In China glaubt man, dass es viele Arten von Geistwesen gibt.“ Sie nahm den Kessel und wartete darauf, dass Sam das Wasser erneut erhitzte. „Manche werden gui genannt. Das ist der Teil der Seele, der beim Tod von der höheren Seele getrennt wird. Ob das auf Geistwesen zutrifft, weiß ich nicht, aber auf eine Chimei trifft es nicht zu. Ich habe gehört, das englische Wort für ein solches Wesen sei Dämon, aber das ist eine unzureichende Übersetzung.“

„Dämon wird alles genannt“, bestätigte Lily. „Und der Begriff ist irreführend, wie du sagst. Soweit wir wissen, hat es in China nie solche Dämonen gegeben, wie wir sie im Westen kennen – wie die aus Dis. Großmutter hat mir gesagt, dass viele der chinesischen Volksmärchen über Dämonen auf verschiedenen Wesen aus anderen Welten basieren, nicht auf Geistern.“

„So ist es.“ Wieder füllte Li Qin die Teekanne. Nachdem sie den Deckel geschlossen hatte, fuhr sie dieses Mal fort, indem sie das kochende Wasser über die Außenseite der Kanne goss. „Dis ist nicht besonders mit China verbunden. Aber andere Welten. Oder zumindest früher einmal. Die Chimei ist nicht aus unserer Welt.“

Lily rutschte unruhig hin und her. Ihr gefiel die Wendung nicht, die die Geschichte nahm. „Und diese Chimei ist Großmutters Feindin. Warum?“

„Vor vielen Jahren, damals in China, hat deine Großmutter den Liebhaber der Chimei getötet.“ Li Qin hielt einen Finger in die Höhe, einen konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht. Sehr rasch goss sie den Tee ein.

„Sie –“ Lily atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Der Tee war eingegossen. Jetzt wurde von ihr erwartet, dass sie ihn genoss, und nicht, dass sie unwichtige Fragen über Tod oder Leben stellte. Alles andere wäre eine schwere Beleidigung gewesen, und sie brachte es einfach nicht übers Herz, Li Qin zu beleidigen.

Sie warf Rule einen Blick zu, der ihm dies verständlich machen sollte. Entweder fing er ihren Blick aus den Augenwinkeln auf, oder er erinnerte sich an ihre Belehrungen, als Madame Yu ihn zum ersten Mal zum Tee eingeladen hatte. Er wartete, scheinbar genauso gelassen wie Li Qin.

Es war wohl der Blick aus den Augenwinkeln, denn in dem Moment, als Lily nach ihrer Tasse griff, streckte er die Hand nach seiner aus. Lily zwang sich, die sanft dampfende Tasse nah an ihr Gesicht zu halten, um wenigstens den Anschein zu erwecken, sie würde sich an dem Aroma erfreuen – welches selbstverständlich wohltuend war. Aber glaubte Li Qin wirklich, dass Lily ihre Aufmerksamkeit eher einem Duft widmen würde als der Tatsache, dass irgendein unbekannter Dämon ihre Großmutter bedrohte?

Rule war offenbar dazu in der Lage. „Wunderbar“, murmelte er, die Augen schwelgerisch halb geschlossen. „Wie kommt es, dass ein Duft zugleich anregen und entspannen kann?“

Li Qins Lächeln drückte Freude und eine Spur von Überraschung aus. „Das ist der Sinn der Teezeremonie. Indem wir Abstand von der Hektik und dem Lärm nehmen, werden wir wach, ruhig und können uns konzentrieren. Habt ihr auch solch eine Sitte?“

„Mein Wolf hilft mir dabei.“ Sein Blick glitt zu Lily, Belustigung legte seine Augenwinkel in Fältchen. „Lily hat solch eine Hilfe nicht.“

„Lily ähnelt sehr ihrer Großmutter.“ Li Qin nahm einen Schluck Tee.

Das stimmte ganz offensichtlich nicht. Oh, sie hatte ein paar Dinge gemein mit ihr, aber sonst waren sie völlig verschieden. Lily hatte es nie interessant oder in irgendeiner Form bewusstseinsverändernd gefunden, Tee zu schnüffeln oder zu trinken, aber ihre Großmutter schon. Jedes Mal ging sie ganz in der Zeremonie auf. Sie wälzte sich praktisch in all der Ruhe, der wachen Konzentration.

Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zu widersprechen. Lily nippte an ihrem Tee.

Rule schien Spaß an der Sache zu haben. „Ich habe mich manchmal gefragt, ob Madame Yu Lily noch mehr glich, als sie jünger war.“

Li Qin nickte. „Ich glaube ja, obwohl ich sie noch nicht gekannt habe, als sie in Lilys Alter war. Heute ist sie sehr viel sanfter.“

Lily hätte sich beinahe verschluckt.

Rule zog eine Braue hoch. „Ach?“

„Oh ja. Sie war eine sehr leidenschaftliche junge Frau. Lily ganz ähnlich.“ Sie schenkte Lily ein freundliches Lächeln. „Aber herrischer, glaube ich, doch nur, weil sie in eine Gesellschaft hineingeboren wurde, in der Frauen nicht viel wert waren. In dieser Wertlosigkeit erkannte sie sich nicht wieder und schloss daraus, dass sie eine Ausnahme war. Die Umstände haben sie nie von diesem Glauben abgebracht.“

„Verständlich“, sagte Rule, während Lily staunte, weil jemand das Wesen ihrer Großmutter so kurz und knapp auf den Punkt gebracht hatte. „Schließlich ist sie ja tatsächlich außergewöhnlich.“ Er lächelte Lily an. „Genau wie ihre Enkelin.“

Lily lächelte zurück, weil er es so meinte. Ihre Großmutter war wirklich außergewöhnlich. Sie nicht, aber Rule sah sie so.

„Li Qin“, sagte Rule und setzte vorsichtig seine leere Tasse ab. „Ich bedaure, dass ich dieses Thema ansprechen muss, aber wir sind nicht nur hier, weil wir auf der Suche nach Lilys Großmutter sind. Wir suchen einen sicheren Platz für –“

Gewährt.

Erinnerungen ließen Lily frösteln wie ein Eisregen – winzige, stechende Teilchen, die schmolzen, wenn sie versuchte, sie zu fangen. Die Stimme, die dieses eine Wort gesprochen hatte, war so kalt und klar wie der Raum zwischen den Sternen. Und das alles war in Lilys Kopf. Buchstäblich.

Sams Stimme.