28

Das Gesicht, das der Captain machte, war Gold wert. Seine Kinnlade klappte herunter. Seine Gesichtsfarbe, ohnehin schon durch die Hitze gerötet, nahm nun ein beunruhigendes Purpur an. „Wovon reden Sie?“

„Mein Verlobter, Rule Turner. Er trägt Handschellen. Er hat sich verletzt, als er eine Bombe beseitigt hat, die möglicherweise Dutzende, wenn nicht Hunderte Todesopfer gefordert hätte, und Sie haben ihm Handschellen angelegt.“

„Der Mann ist ein Lupus.“

Sie lüpfte leicht die Augenbrauen. „Und …?“

„Und er hat eine gottverdammte Bombe geworfen. Und woher wollen Sie überhaupt wissen, was er getan hat und was nicht?“

„Der Drache hat es mir gesagt.“ Sie warf Rule einen Blick zu. Er hatte eine unbeteiligte Miene aufgesetzt, in seinen Augen regte sich etwas. Belustigung? Unglaube? Ärger, dass sie sich gerade diesen Moment ausgesucht hatte, um ihre Verlobung bekannt zu geben? „Hat Sam es richtig verstanden?“, fragte sie ihn.

„Im Wesentlichen, ja. Ich sah, wie der, äh, Täter eine Tüte vor Cullens Zimmertür deponierte.“

„Draußen vor dem Zimmer? Er ist nicht hineingegangen?“

Er schüttelte den Kopf. „Meine Nase sagte mir, was drinnen war. Ich trug sie zu dem Fenster hinter der Schwesternstation, zerbrach die Scheibe und warf die Bombe hinaus. Ein Pfleger hat alles beobachtet. Ich habe ihn dem Captain beschrieben, weiß aber nicht, ob jemand mit ihm gesprochen hat.“

„Lieutenant James.“ Dreyer wandte sich an T.J. „Wer ist diese Frau, und warum bringen Sie sie hierher?“

„Wer sie ist, hat sie Ihnen gesagt, und andersherum wird ein Schuh draus. Sie hat mich hierhergebracht.“

Rules schloss halb die Augen. Er sprach so leise, dass die anderen ihn nicht verstehen konnten. „Dein Gefühl für Timing ist erstaunlich.“

Es lag nicht an dem, was er sagte. Vielleicht an seiner Stimme oder an seinem Blick. Aber plötzlich war ihr nicht mehr nur wegen der Hitze heiß – Begierde ergriff sie, völlig unpassend, wild wie ein Buschfeuer und genauso schwer zu ignorieren. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um tief durchzuatmen, und antwortete ihm dann ebenso leise: „Er hat mich wütend gemacht. Und wenn ich wütend werde, ist es heiße Wut, nicht kalte Wut wie bei dir.“

Wieder blitzte etwas in seinen Augen auf, etwas, das sie beinahe erkannt hätte.

Lily wandte sich wieder an den Captain, wobei sie sich zwischen den kleinen Mann und Rule stellte. „Haben Sie noch etwas anderes – etwas anderes als blinde Vorurteile, will ich damit sagen –, das gegen Rules Version der Ereignisse spricht?“ Sie schwieg kaum lange genug für einen Schluckauf. „Gut, das dachte ich mir. Nehmen Sie ihm jetzt die Handschellen ab. Außerdem –“

„Moment mal. Sie haben mir nicht zu sagen, wen ich festzunehmen habe und wen nicht.“

Wieder kletterte ihre Brauen in die Höhe, dieses Mal höher. „Ist Rule festgenommen?“

„Er steht unter Verdacht. Bis ich –“

„Hat er Unruhe gestiftet? War er gewalttätig? Gibt es irgendeinen beschissenen Grund für diese Handschellen?“

„Einen Lupus sollte man nicht frei herumlaufen lassen, das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand!“

„Da stimmt die Rechtsprechung aber nicht mit Ihnen überein. Nehmen Sie ihm die Handschellen sofort ab. Und rufen Sie die Officers zurück, die Special Agent Weaver und ihre Begleiter aus Zimmer 418 entfernen sollen.“

„Wenn das, was Ihr Verlobter sagt, stimmt, ist dieses Zimmer ein Tatort.“

„Der Täter hat den Raum nicht betreten. Ihre Leute sollten im Flur nach Spuren suchen. Der Patient in diesem Zimmer steht unter dem Schutz des FBI. Er ist ein hochgeschätzter Berater. Auf ihn hat es derselbe Täter abgesehen, der beinahe das ganze Krankenhaus in die Luft gesprengt hätte. Er und die, die ihn bewachen, werden nicht verlegt, solange wir nicht alles für einen sicheren Transport arrangiert haben. Außerdem sollten Sie lieber nach Vorschrift verfahren und die Ansammlungen dort draußen vor den Polizeisperren auflösen lassen.“

„Hören Sie, es ist mir egal, wer Sie sind oder mit was Sie schlafen. Sie sind hier nicht zuständig. Dies ist Sache des Countys, nicht des Bundes, und ich lasse Sie unverzüglich entfernen, wenn Sie sich weiter einmischen.“

„Captain Dreyer.“ Lily ging auf ihn zu. „Hier wurde bei der Begehung von mehreren Straftaten Magie angewendet – versuchter Mord, Brandstiftung, möglicherweise auch terroristische Verschwörung. Also habe ich jedes Recht, mich einzumischen.“ Sie lächelte, so wie ein Messer bei der Aussicht, gleich in Fleisch zu schneiden, lächeln würde. „Und es heißt, mit wem Sie schlafen. Nicht mit was, Captain. Mit wem.“

„Gut gesprochen“, sagte eine klare, aber nicht akzentfreie weibliche Stimme, „aber wir sollten keine Zeit mit diesem schweinsäugigen Kerl verschwenden.“

Eine winzige Asiatin, die eine schwarze Hose und ein dünnes Seidenhemd in reinstem Weiß trug, kam auf Lily und den Captain zumarschiert. Ihr tiefschwarzes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen, auf ihrem Kopf zu einem straffen Knoten gedreht und mit zarten, juwelenbesetzten Haarstäbchen festgesteckt. Sie hielt sich sehr gerade. Feine Falten, von der großen Spinne Zeit kunstvoll gewebt, schienen ihre elfenbeinfarbene Haut nur noch zu verschönern.

„Noch so eine?“, stotterte Dreyer. „Noch so eine vorwitzige Zicke? Ist hier ein Nest, oder was? Wahrscheinlich sagen Sie mir jetzt auch, dass Sie vom FBI sind?“

„Sie“, sagte Madame Yu, „sind jetzt still.“ Sie blieb vor ihm stehen und sah ihm geradewegs in die Augen. „Sie werden genau das tun, was Ihnen gesagt wurde, und keinen Ärger mehr machen.“

Dreyers Gesicht verlor seine wütende Farbe. Seine Augen wurden glasig. „Ärger?“

„Sie werden kooperieren.“ Die alte Dame betonte das Wort, als sei es ein Code. Einen Moment später betrachtete sie Rule mit leicht schräg geneigtem Kopf. „Um die Handschellen brauchen Sie sich nicht mehr zu kümmern. Das übernehme ich schon.“ Eine kleine Bewegung mit der Hand. Ihre Lippen bewegten sich, aber Lily hörte nichts.

Die Handschellen fielen klappernd auf das Pflaster.

„Danke, Madame“, sagte Rule höflich. Als er die Arme vom Rücken nahm, zuckte er leicht zusammen. Er rieb sich eines der Handgelenke. „Ich wusste gar nicht, dass Sie so etwas können.“

Ihre Augen glänzten. Sie war äußerst zufrieden mit sich. „Mr Seabourne hat mir einen kleinen Zauber für Schlösser beigebracht. Ich dachte, er könnte ganz nützlich sein.“

Lily starrte Dreyer ungläubig an. Er hatte sich an den Polizeibeamten neben ihm gewandt – einen zutiefst verblüfften Sergeant – und wies ihn an, die Leute in Zimmer 418 in Ruhe zu lassen.

Oje. „Großmutter“, sagte sie und eilte zu ihr. „Schön, dich zu sehen. Aber du kannst nicht einfach einen Captain der Polizei verzaubern.“

„Offenbar doch. Dass ich es normalerweise nicht mache, tut nichts zur Sache. Du hast dich gut geschlagen, aber meine Methode führte schneller zum Ziel.“ Das zarte, herrische Kinn hob sich an. „Ich bin zu Fuß gekommen, und es ist sehr heiß. Ich glaube, dass die Klimaanlage im Krankenhaus wieder funktioniert. Wir werden in Mr Seabournes Zimmer weiterreden.“

Aber selbst Madame Yu konnte nicht so einfach einen plötzlichen Exodus in die klimatisierten Räume verfügen. Rule fragte sich, ob sie wohl Hitze auf die gleiche Weise wie er empfand oder eher wie ein Mensch. Bei 38 Grad sehnte er sich vielleicht nach Schatten, aber die Hitze schwächte ihn nicht. Für Menschen waren solche Temperaturen schwer zu ertragen, aber um ihn herum kämpften die Feuerwehrleute trotz ihrer schweren Ausrüstung mit den Flammen.

Manchmal erstaunten ihn die Menschen.

Er wartete zusammen mit den anderen Zivilisten, bis Lily und der Mann, der sie begleitete – er arbeitete bei der Mordkommission, fiel Rule wieder ein, doch an seinen Namen konnte er sich nicht mehr erinnern –, mit Dreyer und dem Einsatzleiter der Feuerwehr gesprochen hatten. Lily wollte eine Bestätigung dafür, dass sie das Gebäude gefahrlos betreten konnten, erfahren, wie viele Opfer es gegeben hatte, und die besonderen Erfordernisse einer Suche nach Beweisen für die Nutzung von Magie erklären. Sie hatte die Spurensicherung des FBI gerufen, aber die Leute waren noch nicht da, deshalb würde die Bearbeitung des Tatorts und die Suche nach den Zeugen wohl vor allem von den – wie sie es ausdrückte – Kollegen vor Ort übernommen werden müssen.

Captain Dreyer war der Inbegriff der Kooperation. Wahrscheinlich hätte er ihr auch gehorcht, wenn sie ihm befohlen hätte, nach Hause zu gehen und Sesamstraße zu gucken, dachte Rule. Angenehm, aber irgendwie auch beunruhigend. „Wie lange wird er so sein?“, fragte er leise Madame Yu.

„Einen Tag, eine Woche.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich gebe zu, ich habe mehr Energie angewendet, als notwendig war. Er hat Schweinsaugen.“

Mit anderen Worten, sie war wütend gewesen. Wie ihre Enkelin. Er lächelte. „Und haben Sie eine ähnliche Methode angewandt, um an der Polizeisperre vorbeizukommen?“

Sie sah ihn mit strengem Blick an, aber ihre Augen funkelten. „Das ist eine dumme Frage.“

„Dann habe ich noch eine. Was haben Sie Cullen im Tausch für den Zauber, Schlösser zu öffnen, gegeben?“ In einer Hinsicht war Cullen wie ein Drache. Genau wie Drachen, hortete er Zauber und handelte gelegentlich damit.

„Ich war sehr großzügig. Ich brachte ihm einen wan-chi-Zauber bei, einen Transportzauber. Sie wissen nicht, was das ist, aber er. Außerdem habe ich ihm von einem Wesen aus einer anderen Welt erzählt, das früher in China gelebt hat.“

Überrascht sagte er: „Sie haben ihm von der Chimei erzählt? Wann war –“

„Vor Monaten. Und jetzt still.“

Der leicht ungepflegte ältere Mann, mit dem Lily früher zusammengearbeitet hatte, näherte sich ihnen. Wie hieß er noch … Ah ja, jetzt erinnerte sich Rule. Es klang wie zwei Vornamen: Thomas James. Lily nannte ihn bei seinen Initialen: T.J.

„Ma’am“, sagte Thomas James, „Sie dürfen jetzt rein. Aber die Aufzüge funktionieren noch nicht wieder, und ich habe gehört, dass der Patient, den Sie besuchen wollen, sich im dritten Stock befindet. Benötigen Sie –“

Madame belohnte seine Sorge mit einem leisen Schnauben und machte sich auf den Weg zum Haupteingang.

„Offenbar nicht.“ James warf Rule einen Blick zu. „Ich habe sie früher schon mal getroffen. Hat Lily Ihnen das erzählt?“

Den Kopf schüttelnd, sah Rule hinüber zu Lily – die ihn heranwinkte, während sie weiter mit dem Einsatzleiter sprach – und setzte sich ebenfalls in Bewegung. „Und wie war’s?“

„Lily war schrecklich verlegen.“ Grinsend lief er neben Rule her. „Sie war gerade zur Mordkommission versetzt worden, und ich hatte sie unter meine Fittiche genommen, könnte man sagen. Das mache ich immer so mit den Jüngeren. Ich glaube, sie hatte ihrer Großmutter davon erzählt, denn eine Woche später steht Lily vor mir, ganz angespannt und verlegen, und sagt mir, dass ihre Großmutter mich zum Mittagessen einlädt. Um mir auf den Zahn zu fühlen“, fügte er hinzu, für den Fall, dass Rule, der ja kein Cop war, das Offensichtliche entgangen sein sollte. „So hat Lily sich natürlich nicht ausgedrückt. Aber Madame Yu hat sich da weniger zurückgehalten.“

„Sie scheinen bestanden zu haben. Ist noch alles dran an Ihnen.“

„Das“, sagte James nach einem Moment, „war nicht lustig. Sie hat mir eine Heidenangst eingejagt. Ich habe gelacht – habe so getan, als sei sie meine Lehrerin aus der vierten Klasse, vor der ich als Kind immer Angst hatte, verstehen Sie? Und irgendwie war es auch so. Aber dann auch wieder ganz anders.“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Was hat sie mit Dreyer angestellt?“

Rule schwankte zwischen verschiedenen Antworten, entschied sich dann jedoch für eine einfache. „Nichts, das andauern würde. Diese, äh, Technik wendet sie nur selten an.“

James grunzte und guckte nachdenklich.

Die Fähigkeit, jemanden nur mit dem Blick zu verzaubern, war keine menschliche Fähigkeit. Soweit Rule wusste, waren Drachen die Einzigen, die so etwas konnten. Madame Yu musste sich kurzzeitig in eine Drachin und dann wieder in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelt haben – aber ein wenig von der Drachenmagie war doch geblieben. Ihr Wesen musste mittlerweile so tief von ihr durchdrungen sein, dass sie nicht mehr von ihr getrennt werden konnte. So tief, dass sie eine Variante davon weitervererbt hatte.

Das überraschte Rule nicht. Hatte er nicht auch in seiner jetzigen Gestalt die Fähigkeiten eines Wolfes, wenn auch schwächer? Vererbten Lupi nicht ihre Magie an ihre Nachkommen weiter, auch wenn sie sich in Menschengestalt paarten?

Nein, überrascht war er nur über Madame Yus andere Fähigkeit. Die, die anscheinend wenig mit Drachenmagie zu tun hatte. Rule hatte noch nie von jemandem gehört, der sich in –

„Glauben Sie, sie hat mich damals so verhext wie Dreyer?“, fragte James plötzlich. „Um mir Angst einzujagen, meine ich.“

„Hmm? Oh, Sie meinen Madame Yu. Nein, das glaube ich nicht. Sie flößt einem unweigerlich Respekt ein, dazu braucht sie nicht auf Magie zurückzugreifen. Die, äh, ungewöhnliche Kraft, die sie bei Dreyer angewendet hat … das ist ein Erlebnis, das man nicht mit etwas anderem verwechseln kann.“

„Ach ja?“ Er hob die Brauen in einem Ausdruck erstaunter Neugier. „Hat sie es bei Ihnen auch schon gemacht?“

„Einmal.“ Ein entsetzliches Gefühl. Er hatte wütend reagiert. Bis er verstanden hatte, warum sie es getan hatte – es war ein missglückter Versuch gewesen, Dämonengift aus ihm heraus- und in sich hineinzuziehen. Manchmal war die Frau eben unvernünftig, vor allem, wenn sie die, die ihr am Herzen lagen, beschützen wollte. Genau wie ihre Enkelin. „Ich war empört, aber die Situation erforderte es, und ihre Motive waren selbstlos.“

Wieder ein Grunzen, dieses Mal skeptisch. „Sie mögen sie wohl.“

„Sehr.“ Sie waren beim Eingang angekommen. Da die Elektrizität wieder funktionierte, öffneten sich die Türen automatisch vor ihnen. Drinnen war es kühler, doch noch hatte die Klimaanlage die Luft nicht auf die gewohnt eisigen Temperaturen heruntergekühlt.

Die Eingangshalle war ein Schlachtfeld. Offenbar gab es Feuerwehrleute und Matsch nur im Doppelpack. Selbst hier, wo es nicht gebrannt hatte, waren überall Spuren. Aber nur sehr wenig Menschen. Ein Trio, das aussah wie Büroangestellte, drängte sich hinter dem Empfang und redete eindringlich auf einen Feuerwehrmann ein. Ein Cop – eine junge Frau in Uniform – stand neben der Tür zum Treppenhaus.

Sonst niemand. Insbesondere keine Madame Yu. Sie musste sofort die Treppe nach oben genommen haben.

„Gut, dass Sie und die alte Dame gut klarkommen. Sie werden ja bald Teil der Familie sein.“ James streckte die Hand aus. „Herzlichen Glückwunsch.“

Rule schüttelte sie – und entdeckte, dass es angenehm war, befriedigend auf eine Art, wie er es nicht erwartet hätte, die Glückwünsche dieses Mannes entgegenzunehmen. „Danke.“

„Ich wollte Sie eigentlich ermahnen, Lily gut zu behandeln und so, aber da hatte ich nicht an die Großmutter gedacht. Ich halte Sie für einen vernünftigen Mann. Mit der wollen Sie sich sicher nicht anlegen.“

Rule grinste. „Nein, lieber nicht.“

„Gut.“ James nickte entschieden und machte dann ein gequältes Gesicht. „Ich werde zu der Hochzeit kommen müssen.“

„Ah ja?“

„Camille wird es von mir erwarten. Camille ist meine Frau. Das wird sicher eine große Sache, was? Wird sicher in der Klatschpresse drüber berichtet und so.“

„Ich fürchte, ja.“

James schüttelte traurig den Kopf. „Das habe ich mir gedacht. Sagen Sie Lily, dass Camille mir das Leben zur Hölle machen wird, wenn sie nicht eingeladen wird.“

„Ich werde es ihr ausrichten.“ Rule warf einen Blick zurück zur Tür. Lily eilte mit schnellen, energischen Schritten auf sie zu, als mache ihr die Hitze gar nichts aus. „Ich würde gerne mit Lily unter vier Augen sprechen, bevor wir nach oben gehen.“

James zog die Augenbrauen hoch. „Na klar. Ich werde mir derweil mal diesen geheimnisvollen verletzten Zauberer ansehen.“

Rule zuckte zusammen. „Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie das nicht zu laut sagten. Oder besser noch, überhaupt nicht.“

„He, machen Sie sich deswegen keine Sorgen – ich kann ein Geheimnis für mich behalten. Fragen Sie Lily. Ich habe Sie nur auf den Arm genommen. Ich muss einen Mann über seinen toten Bruder befragen. Sagen Sie Lily – nein, ich sage es ihr selbst. Ihre Sachen sind in meinem Auto, und ihres steht noch vor dem Restaurant Rosa. Das müssen wir noch kurz regeln.“ Mit einem letzten Nicken ging er zur Tür.

Rule sah, wie James Lily in den Weg trat. Sie sprachen kurz miteinander, dann gab Lily ihm ihren Schlüssel. Vor Ungeduld wäre Rule am liebsten auf und ab gegangen oder von einem Fuß auf den anderen getreten. Doch er tat es nicht.

Geduld war eine Kunst, die er erst hatte lernen müssen. Normalerweise beherrschte er sie gut, obwohl er zu Anfang nicht besser gewesen war als ein Welpe, der an den Zitzen seiner Mutter saugen will. Aber Geduld hatte auch ihre Grenzen. Oder, in seinem Fall, er hatte seine Grenzen, und die waren jetzt erreicht. Er musste mit seiner nadia sprechen. Jetzt sofort.

Sobald sie durch die Tür war, ergriff er ihre Hand. Die, an der sein Ring steckte. Er strich mit dem Finger an ihm entlang. „Warum gerade jetzt?“

„Es ist ein Knochen. Und eine Entschuldigung.“

„Es ist was?“

„T.J. sagte, ich solle Dreyer einen Knochen hinwerfen, um ihn abzulenken. Das ist ein Grund. So gebe ich Dreyer eine Möglichkeit, sich an mir zu rächen, die nicht so dämlich ist wie die, die ihm sonst vielleicht eingefallen wäre. Er ist der Typ, der zurückschnappt, also habe ich ihn dahin gucken lassen, wohin ich wollte.“

„Du gehst davon aus, dass er es weitererzählt? Der Presse zuspielt?“

Sie zuckte die Achseln. „So habe ich es mir gedacht.“

„Vielleicht tut er es nicht. Madame Yu hat ihm befohlen, keinen Ärger zu machen.“

Sie machte ein entsetztes Gesicht. „Das habe ich nicht gewollt.“

„Ich weiß“, sagte er sanft. Ihr schlechtes Gewissen schien ihm unbegründet, aber ihr Unbehagen war echt. „Es vergeht, hat sie gesagt.“

„Und dann wird er erst recht Blut sehen wollen. Er wird sich an nichts erinnern, aber verängstigt sein und sich an mir, an dir und an jedem, den er in die Finger bekommt, rächen. Rule …“

Er fuhr mit dem Daumen über den Ring. „Ja?“

Seufzend blickte sie hinunter auf ihre Hand, die in seiner lag. „Ich hätte dich erst fragen sollen. Bevor ich von meinem ‚Verlobten‘ geredet habe, meine ich. Ich weiß, dass dieser ganze PR-Kram wichtig ist. So lästig es auch ist, du bist in der Öffentlichkeit der Vertreter deines Volkes, und deswegen ist das Bild, das wir nach außen abgeben, das Image … es ist wichtig. Und jetzt bleibt uns keine Zeit mehr, um die blöde Pressekonferenz abzuhalten. Deswegen wird die Presse wahrscheinlich zuerst Dreyers Version zu hören bekommen. Und es könnte nun schwieriger für dich werden, den weiteren Verlauf zu steuern.“

Er musterte sie forschend. „Ich bin flexibel, und mit PR kenne ich mich aus. Das bekomme ich schon hin. Du wolltest also nur den Captain ablenken?“

„Der Knochen war ein Grund“, bestätigte sie und sah nickend auf ihre verschränkten Hände, als ob sie mit ihnen redete. „Der andere war, dass ich mich entschuldigen wollte. Dafür, dass ich so lange gezögert habe, deinen Ring zu tragen. Es schien mir jetzt der richtige Moment und die beste Art zu sein, mich zu entschuldigen. Aber die Worte bekommst du auch noch zu hören.“

Jetzt hob sie den Blick. „Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich eine solche Idiotin war, und es tut mir leid, dass ich wütend geworden bin, weil du mich darauf hingewiesen hast, was ich tat. Oder nicht tat. Du hattest recht. Nicht zu einhundert Prozent, aber doch größtenteils. Ich muss immer das Warum kennen, aber ich muss nicht … Ich kann das Kleid aussuchen und die Hochzeit planen, während ich über das Warum nachdenke. Denn das Warum wird nichts ändern. Ich muss es einfach nur kennen.“

Natürlich küsste er sie.

Rule hatte erwartet, dass sie ihn zurückstoßen würde. Sie befanden sich in der Öffentlichkeit. Sie war im Dienst. Stattdessen aber packte sie sein Hemd mit beiden Händen und küsste ihn, als wäre er Luft und sie schon viel zu lange unter Wasser.

Rule wusste nicht, wer von beiden sich zuerst von dem anderen löste. Vermutlich sie. Denn er hatte seinen Händen ganz sicher nicht befohlen, sie loszulassen. Aber da sich sein Verstand gleich zu Beginn verabschiedet hatte, weil das gesamte Blut in seinem Körper anderweitig beschäftigt war, konnte es sein, dass er Dinge getan hatte, ohne es zu bemerken.

„Ich auch“, sagte sie heiser. „Oh Gott, ich auch. Aber nicht hier. Erst in einigen Stunden, verdammter Mist. Du hättest tot sein können.“

Er bekam gerade genug Luft, um zu sagen: „Aber das bin ich nicht.“

„Aber du hättest es sein können.“

„Viele Leute hätten heute sterben können und sind es nicht.“

„Na ja, weil du sie gerettet hast, oder nicht? Und dich selbst.“ Sie strich sich das Haar aus dem erhitzten Gesicht. „Das muss ich mir immer in Erinnerung rufen. Du kannst sehr gut auf dich selbst aufpassen, selbst wenn du es mit einem mordlustigen Zauberer-Killer zu tun hast, der aussehen kann wie jeder x-Beliebige.“

„Das kann er nicht. Wie jeder x-Beliebige aussehen, meine ich. Nicht ohne die Chimei, und heute war er ohne sie hier. Das habe ich zumindest gefolgert, und Sam hat es bestätigt.“

„Na ja“, sagte sie wieder und nickte, als habe er ihr ein wichtiges Puzzleteil überreicht, „wir gehen jetzt wohl lieber nach oben und hören uns an, was Großmutter uns zu sagen hat. Immerhin ist sie wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Wir sollten herausfinden, warum.“