16
Wenn es nach Washington gegangen wäre, hätte San Diego keinen Drachen bekommen. Ja, es besaß eine große Marinebasis und im Norden der Stadt die Basis der Air Force. Aber als die Magielevel nach der Wende angestiegen waren, hatten viele Städte einen Drachen haben wollen. Drachen wirkten auf Magie wie riesige Schwämme – sie saugten alle freie Energie auf, die technische Störungen verursachte. Die Regierung hatte, was auch verständlich war, einen Drachen für Los Angeles eingeplant und nicht für die kleinere Stadt.
Aber die Entscheidung hatte nicht bei der Regierung gelegen. Das Drachenabkommen, das die Großmutter ausgehandelt hatte, sah für jeden Drachen eine ständige Basis vor, machte aber für einen von ihnen eine Ausnahme: den schwarzen Drachen, den ältesten von ihnen, den Lily und Rule als Sam und die anderen als Sun Mzao kannten. Offiziell war Sams Revier dort, wo er sich gerade aufhielt. In der Praxis – und in den Augen der Drachen – umfasste Sams Revier den Großteil der Westküste bis hinunter nach Mexiko. Er hatte zugestimmt, häufig Los Angeles zu überfliegen und gelegentlich Sacramento, aber seine Höhle befand sich direkt vor San Diego.
Mit einer Höhe von knapp achthundert Metern war der San Miguel Mountain nicht der höchste Berg in der Gegend, aber er war nahe an der Stadt und nicht zu übersehen. Zum Erstaunen von Umweltschützern hatte Sam dort seine Höhle gegraben – auf der Westseite des Berges, gegenüber dem Sweetwater Reservoir, einem Stausee.
Dorthin fuhren Lily und Rule nun kurz nach acht Uhr an diesem Morgen, über den Highway 54 zur Reservoir Road. Ob Sam zu Hause sein würde, wussten sie nicht, aber gewöhnlich war er nachts unterwegs, sodass sie damit rechnen konnten, ihn jetzt dort anzutreffen.
Vielleicht würde er auch wissen, dass sie kamen, und sie entweder erwarten oder ihnen aus dem Weg gehen. Lily wusste nicht viel über seine Fähigkeit, den Geist anderer zu erspüren oder ihre Gedanken tatsächlich zu hören. Entfernung spielte dabei sicher eine Rolle, doch die genaue Reichweite kannte sie nicht. Auch Erde und Steine waren wichtige Faktoren und für manche Drachen der Grund dafür, warum sie eine Felsenhöhle bevorzugten. Das Gestein hielt den Lärm der Gedanken ab.
Auf dem Weg zu Sam erledigte Lily einige Anrufe und holte dann ihren Laptop heraus. Sie öffnete die Liste der vermutlichen Profianschläge, die die Zentrale ihr geschickt hatte, und überflog sie … und dachte über Drachen nach.
In der westlichen Welt galten Drachen jahrhundertelang als Mythos. Auch Lily hatte das geglaubt – bis einer sie mit seinen Klauen gepackt und davongetragen hatte. So war es in Dis geschehen, auch Hölle genannt, wohin die Drachen vor mehr als dreihundert Jahren emigriert waren, als die Magie der Erde zu schwach für sie wurde.
Und jetzt waren sie wieder da.
Zumindest einige von ihnen – dreiundzwanzig, um genau zu sein. Lily ahnte, dass es in einer anderen, weit entfernten Welt noch mehr Drachen gab. Sam wollte sich dazu nicht äußern, aber es musste eine Welt geben, in der sie ursprünglich zu Hause gewesen waren. Sie war sich ziemlich sicher, dass es nicht die Erde war.
Doch Sams Gruppe hatte hier schon vor sehr langer Zeit gelebt, bevor sie vorübergehend nach Dis umgesiedelt war. Wie lange? Das wusste niemand außer den Drachen, und die verrieten es keinem.
Lily kannte sich ein bisschen mit Drachen aus, wenigstens mit denen, die hier lebten. Sie waren zwanghaft neugierig, sie häuften lieber Wissen an als Gold – aber Gold mochten sie auch.
Dafür, dass sie die ihnen zugeteilten Gebiete überflogen, wurden sie mit Goldstaub bezahlt. Wozu sie ihn verwendeten, wusste niemand.
Ihr war auch bekannt, dass Drachen Einzelgänger waren, sich aber regelmäßig zusammenfanden – nach einem inneren Rhythmus und nicht nach einem feststehenden Kalender – um zu singen. Sie sangen, um ein Verlangen zu stillen, von dem Lily keine Vorstellung hatte. Und sie sangen, um Magie zu wirken.
Damit hatte Sam sie alle aus der Hölle zurückgebracht. Drachen konnten die Tore nicht aus eigener Kraft öffnen – was seltsam war, weil sie ja schließlich auch die Erde irgendwann einmal verlassen hatten. Wie kam es dann, dass sie kein Tor erschaffen konnten? Aber Drachen erklärten nicht gern etwas, sodass Lily weiter darauf hoffen musste, dass sie es eines Tages einmal selbst herausfinden würde. Entweder hatte Sam einfach die Gelegenheit ergriffen, als Lily und Rule in Dis gewesen waren, um ihr Tor zu nutzen, oder er hatte auf eine ihr unbekannte Weise vorher gewusst, dass sie kommen würden.
Doch ihr Tor war viel zu klein für Drachen gewesen, und es war ihnen nicht gelungen, es zu öffnen, was damit zu tun hatte, dass es zu der Zeit zwei Lilys gegeben hatte. Letzteres hatte Lily auf ihre eigene Art gelöst. Und Sam hatte sich um Ersteres gekümmert, indem er das Tor größer gesungen und lange genug offen gehalten hatte, dass jeder einzelne seines Volkes nach Hause fliegen konnte – und mit ihnen Max und Cullen, Cynna und Rule. Und Lily natürlich.
Eine von ihr. Das meiste von ihr. Sie versuchte, nicht allzu sehr darüber nachzudenken.
Sie wusste auch, warum Sam seine Höhle in San Diego gebaut hatte. Li Lei Yu lebte hier. Und deswegen auch der schwarze Drache.
Lily wollte immer in Erfahrung bringen, was ihre winzige, unbezähmbare Großmutter mit dem riesigen schwarzen Drachen in China vor so langer Zeit verbunden hatte. Aber diese ließ all ihre Fragen an sich abprallen – eine Kunst, die sie möglicherweise von Sam gelernt hatte, mehr als drei Jahrhunderte, bevor Lily geboren wurde. Lily hatte immer gewusst, dass ihre Großmutter älter war, als sie aussah – nur nicht, wie viel. Sie vermutete, dass ihre Langlebigkeit etwas mit Sam zu tun hatte, aber sie wusste es nicht sicher.
Wahrscheinlich hatte sie kein Recht, nachzubohren, aber nicht Fragen zu stellen, fiel ihr nun einmal furchtbar schwer.
Gibt es eigentlich ein Verb dafür?, sinnierte sie, als sie ihren Laptop zuklappte. Sie hatten den Highway verlassen und fuhren jetzt auf der Reservoir Road. Aus Erfahrung wusste sie, dass der Empfang hier nicht gut war. Vielleicht sollte sie es „sich um die eigenen Angelegenheiten kümmern“ nennen …
Ihr Telefon spielte die ersten Takte von „Star Spangled Banner“. Sie ging dran. Doch es war Ida, Rubens Sekretärin, und nicht Ruben selbst. Und sie hatte keine guten Neuigkeiten.
„Was will sie?“, rief Lily. „Das ist verrückt. Ich kann doch nicht verklagt werden, nur weil ich meine Arbeit tue.“ Sie lauschte einen Moment. „Das ist auch verrückt. Herrgott. Okay, natürlich. Danke für den Anruf.“
„Du sollst verklagt werden?“, fragte Rule.
„Der Blanco-Fall.“ Lily strich sich mit der Hand über das Haar. Vor einiger Zeit hatte sie eine Mörderin mit einer starken Erdgabe gefasst. Als Lily die Frau überwältigte, hatte Adele Blanco versucht, den Berg über ihnen mit ihrer Gabe zum Einstürzen zu bringen. „Sie gibt mir immer noch die Schuld daran, dass sie ihre Gabe verbraucht hat. Sie behauptet, ich hätte sie aus ihr herausgesaugt.“ Was selbstverständlich nicht möglich war, aber die Erde zum Beben bringen zu wollen, um sich selbst und seinen Gegner darunter zu begraben, war nicht die Tat einer geistig gesunden, ausgeglichenen Person. „Sie hat die Klage aus ihrer Zelle eingereicht, und, jetzt halt dich fest: Sie wird von Menschen zuerst! finanziert.“
„Das ist bemerkenswert, wenn man ihre Ansichten über Begabte bedenkt.“
„Es wird auf einen Vergleich hinauslaufen“, sagte Lily bitter. „Die Klage wird vermutlich abgewiesen, aber in der Zwischenzeit bekommen sie reichlich Publicity. Wir haben die Sache mit dem Erdbeben erfolgreich aus der Öffentlichkeit heraushalten können, damit ist es jetzt vorbei.“
„Die Fachleute waren nicht in der Lage zu bestätigen, dass Adele das Beben verursacht hat.“
„Die Menschen brauchen keine Beweise, um Angst zu haben.“
„Das ist wahr.“ Er schwieg einen Moment. „Ich werde morgen deine Mutter treffen.“
Der plötzliche Themenwechsel löste ein mentales Schleudertrauma in ihr aus. „Meine Mutter? Warum?“
„Sie bat mich, mir eine Liste mit möglichen Veranstaltungsorten für die Hochzeit anzusehen. Offenbar hatte sie dich bereits darum gebeten, aber, wie sie es nannte, mit ungenügenden Ergebnissen.“
„Ich habe keine Zeit für so etwas. Und du auch nicht.“ Am liebsten hätte Lily sich die Haare gerauft. „Ich habe Ermittlungen zu führen. Es ist wohl ein wenig wichtiger, diesen seltsamen Killer zu fassen, als über Veranstaltungsorte zu plaudern … Soll ich sie anrufen und ihr erklären, warum wir jetzt nicht können?“
„Wir können nicht. Ich kann.“
Die Hochzeit fand nicht auf dem Clangut statt, was einfacher gewesen wäre – es wäre keine Reservierung nötig gewesen –, aber Rule fand, damit würde er dem Clan seine Entscheidung noch mehr unter die Nase reiben. Auf seiner Hochzeit wollte er diese Art von Spannung nicht haben.
War das überhaupt möglich? Seine Angelegenheit, rief sich Lily in Erinnerung. Und ihre war es … Nun, sicher wurde erwartet, dass die Braut sich mit ihrer Mutter beriet und nicht der Bräutigam. „Ich glaube, es wäre wohl besser, wenn ich diese Dinge mit meiner Mutter bespräche.“
„Willst du das denn?“
„Nein, aber –“
„Viele Lokalitäten sind schon ein Jahr im Voraus ausgebucht. Wir müssen diese Entscheidung jetzt treffen. Ich habe die Zeit, du nicht. Also kümmere ich mich darum.“
„Du bist doch schon überlastet.“
„Erstaunlicherweise kann ich selbst entscheiden, wann ich mir zu viel aufbürde.“
Sie schnaubte. „Du übernimmst dich immer, genau wie ich. Du glaubst, du schaffst alles, und übernimmst immer noch eine lästige Pflicht mehr.“
Während des Schweigens, das jetzt folgte, wurde Lily sich dessen bewusst, was sie da gesagt hatte. Sofort bereute sie es. „Äh …“
„Ich will gar nicht von der Möglichkeit reden, dass du von dir auf andere schließt. Ich frage nur, wer von uns beiden wohl am ehesten von deiner Mutter das bekommt, was wir wollen.“
Lily seufzte und kapitulierte. „Gut, dann entscheidest du also über den Veranstaltungsort.“
„Was wäre dir denn am liebsten? Und was willst du absolut gar nicht?“
„Ich will keine große kirchliche Hochzeit. Vielleicht irgendwo im Freien. Das hat mir an Cynnas und Cullens Hochzeit so gut gefallen.“
„Du weißt, dass das bedeutet, dass wir ein Datum festlegen müssen.“
„Entscheide du, es wird mir recht sein. Wahrscheinlich aber lieber nicht im Sommer, nicht, wenn wir draußen feiern wollen. Äh … willst du es überhaupt draußen tun?“
„Gern, sehr häufig. Oh, du meinst heiraten. Ja, das auch.“
Sie musste grinsen. Als ihr Nacken und ihre Schultern ein wenig lockerer wurden, wurde ihr bewusst, wie angespannt sie gewesen war. Möglicherweise nicht ohne Grund, aber trotzdem sehr unangenehm. Spontan nahm sie seine Hand und drückte sie. „Du tust mir gut.“
Froh sah sie, wie sich erst Überraschung, dann Freude auf seinem Gesicht zeigten. „Gut“, sagte er. „Das ist gut. Ich liebe dich.“
Glück konnte manchmal berauschend sein. Sie lächelte. Zur Abwechslung fehlten ihm einmal die Worte. „Bevor ich mich wieder an die Arbeit mache – und das sollte ich jetzt wirklich bald tun –, will ich dir noch sagen, dass du mir wichtig bist. Manchmal macht es mich immer noch beklommen, wie wichtig du mir bist, aber ich habe beschlossen … Na ja, Sonnenschein ist auch wichtig, aber darum mache ich mir ja auch keine Gedanken, oder? Also mache ich mir auch um uns meistens keine mehr. Außer um die Hochzeit, und auch da versuche ich mich zusammenzureißen.“
„Dann überlass es doch einfach mir, mir darum Gedanken zu machen, wenn ich mich schon um den Veranstaltungsort kümmere.“
Sie schüttelte den Kopf. „Darin bist du nicht gut. Niemand macht sich so ausgiebig und sorgenvoll Gedanken wie ich. Erinnerst du dich daran, wie Großmutter uns erklärt hat, wie man einen Drachen dazu bekommt, etwas zu tun?“
Mühelos folgte er ihrem plötzlichen Themenwechsel. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten – Handeln oder Krieg. An der zweiten Option sind wir nicht interessiert, nehme ich an.“
„Richtig. Sie sagte auch, dass man Drachen niemals einen Gefallen schulden sollte, weil sie erwarten, dass man ihn doppelt und dreifach zurückzahlt. Aber man schuldet ihnen nichts, wenn sie etwas für einen tun, worum man sie nicht gebeten hat.“
Der Traum, den Lily letzte Nacht gehabt hatte, war wie eine Spinnwebe gewesen. Noch als sie unter der Dusche stand, hingen die hauchzarten, klebrigen Fäden aus Ereignissen und Gefühlen an ihren Gedanken. Erst als sie das Shampoo ausspülte, begriff sie, warum sie von Drachen geträumt hatte.
Es gab einen Ort, an dem Cullen vollkommen sicher sein würde vor einem Zauberer oder einem begabten Killer, der sich magisch tarnen konnte: das Nest eines Drachen. Genauso wie Zauberer sahen Drachen Magie. Und genauso wie Lily waren sie beinahe unmöglich zu verzaubern. Sie wehrten jeden ab, der ihr angestammtes Gebiet unerlaubt betreten wollte. Sie waren telepathisch veranlagt.
Es würde sehr schwer sein, sich an jemanden anzuschleichen, der Gedanken surren hören konnte.
Da gab es nur noch ein Problem: Wie brachten sie Sam dazu, einzuwilligen? Die Großmutter hätte es gekonnt, wenn sie da gewesen wäre. Aber sie war nicht da.
Lily rieb sich das Brustbein, wo die Sorge sich wie ein Tumor festgesetzt hatte, hart und störend. Das war der andere Grund, warum sie mit Sam sprechen wollte. Wenn jemand wusste, wo ihre Großmutter war, dann er.
Der Stausee erstreckte sich zu ihrer Linken nach Osten. Weit und still lächelte er hoch zu einem friedlich blauen Himmel. Lily betrachtete die glatte Wasseroberfläche und versuchte, ein wenig von seiner Ruhe in sich aufzunehmen.
„Hoffst du etwa, du könntest Sam dazu bringen, Cullen Asyl zu gewähren, ohne darum zu bitten?“, fragte Rule.
„Ich hoffe, dass ich seine Neugierde wecken kann. Irgendwie.“
„Hmm. Ich hätte da ein paar Ideen. Vielleicht ist es gar nicht so schwierig, Sam zu überzeugen. In D.C. kam Cullen mit Micah ziemlich gut aus.“
Micah war Washingtons Drache. „Micah ist viel jünger als Sam. Ich weiß nicht, ob Sam ihn genauso interessant findet … Mist, da ist das Schild. Ich muss mir schnell etwas einfallen lassen.“
Das Schild, das sie meinte, bezeichnete den Eingang zu einer Schotterstraße. „WARNUNG! SPERRGEBIET!“ stand in großen Buchstaben darauf. Fünfzig Meter weiter die Straße hinunter war ein Tor und wieder ein Schild: VORSICHT DRACHENNEST. US-BUNDESRECHT UND BUNDESSTAATLICHES RECHT SIND JENSEITS DIESER GRENZE AUFGEHOBEN.
Diese Rechtsaufhebung war in den Verhandlungen, die zu den Drachenabkommen geführt hatten, einer der heikelsten Punkte gewesen. Drachen fanden die Gesetze der Menschen absurd und ganz offensichtlich nicht auf sie anwendbar. Das sah die Regierung anders, was keine Überraschung war. Schließlich erklärten sich die Drachen bereit, ein paar grundsätzliche Dinge zu akzeptieren: Eigentum zu respektieren. Keine Haustiere zu fressen. Überhaupt niemanden und nichts zu töten – abgesehen von dem, was sie zum Leben nötig hatten, oder aus Gründen der Selbstverteidigung –, nicht einmal dann, wenn ein Mensch besonders lästig war.
Mit einer Ausnahme. Für einen Drachen war es undenkbar, dass jemand außer ihm selbst über seine Höhle bestimmte. Laut Lilys Großmutter hatten sie nicht auf absoluter Souveränität bestanden, denn sie konnten sich überhaupt nicht vorstellen, dass es anders sein könnte.
Bis dahin waren technische Störungen vor allem in der Nähe von großen Netzknoten aufgetreten, aber sie würden immer mehr zunehmen. Weil das Land die Drachen brauchte, hatte man sich darauf eingelassen, ihnen und ihren Launen kleine Gebiete zuzugestehen, wo das Gesetz der Menschen nicht galt. Die Bundesstaaten – oder die Länder, da über die Hälfte der Drachen nicht in den Vereinigten Staaten lebte –, die sich weigerten, die notwendigen rechtsfreien Räume um die Höhlen einzurichten, bekamen eben keine Drachen.
Alle Staaten außer Utah und North Dakota hatten nachgegeben. Genauso wie Großbritannien, Japan, China, Italien, Mexiko, Deutschland, Brasilien, Neuseeland und Kanada sowie zwanzig weitere Nationen, die wenig Hoffnung hatten, einen Drachen abzubekommen, es aber dennoch versuchten. Frankreich weigerte sich ebenso wie Russland und Australien.
In den Vereinigten Staaten war jedes dieser eine Höhle umgebenden Gebiete eingezäunt und bewacht. Einige Drachen stellten magische Sprengfallen auf oder ergriffen andere Maßnahmen zum Schutz ihrer Nester. Den jüngeren mangelte es an dem magischen Geschick der älteren, aber sie brachten dennoch einfache Schutzbanne an. Und wenn jemand trotz Zaun, Bann und Hinweistafeln in das Gebiet eindrang, war es einem Drachen erlaubt, mit dem Eindringling zu machen, was er wollte – zu plaudern, ihn zu foltern, zu verzaubern oder auch zu töten.
Da die Menschen nun einmal waren, wie sie waren, hatte es durchaus Zwischenfälle gegeben. Nicht hier in San Diego, denn Sam verfügte über Mittel und Wege, sich Nervensägen vom Leib zu halten. Selbst die Paparazzi hatten es schnell aufgegeben, vor dem Zaun herumzulungern. Irgendwie funktionierten ihre Kameras anschließend nicht mehr richtig … wenn sie nicht ganz einfach explodierten.
Doch anderswo hatte es echte Probleme gegeben. In Seattle hatte ein Fotojournalist versucht, heimlich über den Zaun zu klettern, um ein paar Fotos zu schießen, und sich dann schnell wieder in Sicherheit zu bringen. Er war nicht schnell genug gewesen. In Chicago hatten vier Gangmitglieder gedacht, ein Gebiet, in dem die staatlichen Gesetze nicht galten, eigne sich auch prima für den Drogenhandel, und keinen Grund gesehen, warum sie den Deal nicht mal eben schnell auf der anderen Seite des Zauns abwickeln sollten. Und auch in London und Houston hatten Neugierige den Versuch gewagt, so wie auch eine frei arbeitende Hexe in Toronto, die hinter einer Drachenschuppe her gewesen war.
Alle wurden verletzt, zwei von ihnen sogar schwer. Eines der Gangmitglieder schien dauerhaft verzaubert zu sein. Der Mann sprach nur noch in Kinderreimen.
Der Vorfall in Chicago hatte viel Belustigung hervorgerufen. Jay Leno hatte eine Woche lang Witze darüber gerissen. Der Drache der Stadt – er nannte sich selbst Alec – war so umsichtig gewesen, die verletzten Drogendealer auf dem Dach des Krankenhauses von Cook County abzulegen. Eine Aussage hatte er verweigert, wohl aber dem Polizeichef erklärt, dass eines der Gangmitglieder seinen iPod sehr laut aufgedreht habe, als er das Gebiet betrat. Und Alex mochte keine Rapmusik.
Sie hatten noch Glück gehabt, dachte Lily, dass niemand dabei zu Tode gekommen war – soweit man wusste. Denn ein Drache konnte durchaus auf die Idee kommen, das Beweismittel aufzufressen. Was war denn auch an „Schleichen Sie sich nicht an einen Telepathen an“ so schwer zu verstehen?
Die schmale Schotterstraße begann anzusteigen. Lily spürte, wie auch ihre Herzfrequenz anstieg.
Nicht weil sie fürchtete, Sam würde sie angreifen. Er hatte sie schon vor Monaten darüber informiert, dass er gegen einen gelegentlichen Besuch nichts einzuwenden habe, und Rule hatte ihn beim Wort genommen. Das erste Mal, um ihn offiziell und im Namen der Nokolai willkommen zu heißen, eine Gelegenheit, bei der Rule gleich mit dem Drachen eine Diskussion über Territorien angefangen hatte. Danach hatte er ihn noch zweimal offiziell und einmal, erst kürzlich, privat besucht.
Lily war noch kein einziges Mal hier gewesen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Rule, als der Mercedes vor dem Tor anhielt.
„Ja, sicher.“ Abgesehen von feuchtkalten Händen und einem wild gewordenen Herzschlag. „Ich habe keine Angst vor Sam.“
„Hmm.“ Er stieg aus dem Wagen und verkündete laut, dass er und Lily hier seien, um mit Sam zu sprechen, und gab der Hoffnung Ausdruck, dass ihr Besuch nicht störe. Es handelte sich um einen Akt reiner Höflichkeit, denn Sam horchte auf Gedanken, nicht Stimmen, doch er behauptete, dass die Gedanken der Menschen so wirr waren, dass es einfacher für ihn war, zu „hören“, was sie meinten, wenn sie es laut aussprachen.
Lily versuchte sich zu beruhigen, indem sie tief durchatmete. Rule hatte nicht widersprochen, als sie gesagt hatte, sie habe keine Angst vor Sam. Und das war die Wahrheit gewesen: Sie fürchtete den Drachen nicht. Es waren die Dinge in ihrem eigenen Kopf, die sie so an den Handflächen schwitzen ließen.
Erinnerungen konnten einem manchmal ganz schön zu schaffen machen. Auch die, die nicht mehr ganz klar waren. Die vor allem.
Das Tor war per Hand zu öffnen. Als Rule es aufgeschoben hatte, rutschte Lily auf den Fahrersitz, um hindurchzufahren, und dann wieder zurück auf den Beifahrersitz, während Rule das Tor schloss.
„Ich glaube“, sagte Rule, „du solltest das Handeln mir überlassen.“
„Ach ja, glaubst du?“ Ihr Herz schlug jetzt ruhiger. Siehst du, sagte sie zu ihrer inneren Schwarzmalerin, das war doch gar nicht so schlimm.
„Cullen gehört zu meinem Clan und ist mein Freund. Also ist es an mir, ihn zu beschützen. Wenn ein Angebot nötig sein sollte, um diesen Schutz zu erhalten, sollte ich es machen. Und ich kann ihm etwas anbieten, was du nicht kannst – begrenzte Jagdrechte auf dem Clangut.“
„Sam bekommt so viel Ochsen und Schweine, wie er will.“
„Er kann sie aber nicht jagen. Sich einfach die Tiere zu schnappen, die ihm auf sein Grundstück gebracht werden, ist nicht dasselbe. Ich stehe bereits mit ihm darüber in Verhandlungen.“
Überrascht sah sie ihn an. „Ach?“ Sie wusste, dass er irgendetwas verhandelte. Über die Bedingungen hatte er allerdings nicht gesprochen – und sie hatte nicht danach gefragt.
Sie hatte sich von ihrer Angst beherrschen lassen. Und hatte es nicht einmal gemerkt.
Jetzt stieg der Weg steil an. Der Schotter knirschte unangenehm unter den Reifen. „Wir wären schon zu einer Einigung gekommen“, sagte Rule, „wenn er nicht so viel Spaß am Handeln hätte.“ Er warf ihr einen Blick von der Seite zu und lächelte. „Madame Yu hat mir geraten, hart zu bleiben. Sam würde keinem Deal trauen, wenn die Verhandlungen zu einfach wären.“
Abwesend rieb sich Lily wieder über die Brust. Ihre Großmutter hatte Krieg, Hunger und wer weiß was noch alles in China überlebt. In diesem Land hatte sie es mit einer kleineren Gottheit aufgenommen, hatte mit der Präsidentin Verhandlungen geführt und gegen einen sehr großen Dämon gekämpft. Auch dieses Abenteuer, was immer es war, würde sie überleben. „Was bekommen die Nokolai im Gegenzug?“
„Einen Gefallen.“
Sie hob die Augenbrauen. „Nur einen.“
„Das war unsere ursprüngliche Forderung. Ich werde ihm erlauben, mich herunterzuhandeln.“
„Herunter? Mehr als einen Gefallen zu fordern, ist sich herunterhandeln lassen?“
„Eine Schuld, die sich über die Jahre ansammelt, kann am Ende ein sehr großer Gefallen sein. Das will er vermeiden, deswegen diskutieren wir gerade darüber, wie oft die Nokolai ihn die Rechnung begleichen lassen. Häufig, meint er, damit er seine Schuld mit kleinen Gefallen zurückzahlen kann. Selbstverständlich will ich das Gegenteil.“
„Hmm.“
Der Weg schlängelte sich den braunen Hang hinauf wie eine blasse Narbe mitten in einem rauen Land. Es ähnelte vielen Gebieten des Clanguts, und wenn man den Luftweg nahm wie Sam, war die Entfernung zwischen beiden nicht groß. Über Land war der Weg viel länger.
„Ich frage mich, was für Sam ein großer Gefallen ist.“
Rule schnaubte. „Alles, was ihm größere Mühe macht, nehme ich an.“
„Du magst ihn.“
„Ja, stimmt. Der Wolf versteht ihn besser als der Mann, aber ich –“ Rule brach ab. Er trat auf die Bremse.
Sie waren um einen hohen, abgerundeten Felsvorsprung gefahren. Vor ihnen lief die Schotterstraße in einer weiten Fläche aus gestampfter Erde aus.
Lily war darauf vorbereitet gewesen. Rule hatte ihr von Sams architektonischen Unternehmungen erzählt. Er hatte die Steine und die Erde, die er aus seinem Nest ausgehoben hatte, dazu benutzt, eine breite Landerampe, eine Art Terrasse zu bauen – zuerst die Steine, um sie zu stabilisieren, und dann riesige Mengen Erde, die er fest und glatt stampfte.
Doch am anderen Ende der Terrasse einen hell erleuchteten Baldachin über einem Teppich vorzufinden, damit hatte sie nicht gerechnet. Oder die Frau mittleren Alters in weiten weißen Hosen und einer blauen kurzärmligen Bluse, die vor dem kleinen Pavillon stand und ihnen entgegenlächelte.
„Tja“, sagte Lily nach einem Augenblick. „Es sieht so aus, als hätten wir Li Qin gefunden.“