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Drei Wochen später
San Diego glitt vom Juli in den August wie ein Backblech mit Keksen, das der Bäcker in den Ofen schiebt – schnell und fließend, gefüllt mit frischen Tagen, um sie knusprig zu backen. Die Wetterexperten brummten etwas von „Inversionslage“, aber eigentlich wusste niemand so richtig, warum die Stadt unter dieser noch nie da gewesenen Hitze litt. Die Verkaufszahlen von Kohle und Grillzubehör gingen in den Keller, die von Alkoholika stiegen. Genauso wie die Zahl der Vergewaltigungen, häuslichen Schlägereien, Suizide und Autounfälle.
Und der Morde, selbstverständlich. Den Leuten war es zu heiß, um draußen zu grillen, aber nicht, um sich gegenseitig umzubringen. Lily Yu ging über den heißen Betonboden, ihre neuen roten Lackledersandalen in der Hand statt an den Füßen, und dachte darüber nach, was für ein seltsames Gefühl es war, in keiner dieser Schießereien, Stechereien oder Schlägereien zu ermitteln. Kurz vor der klebrigen roten Schicht, die auf der Straße backte, blieb sie stehen. Außer der Hitze und dem Splitt spürte sie nichts an ihren nackten Sohlen, und dabei hatte sie die Straße schon vier Mal überquert.
Aus der Schar der Schaulustigen, die sich auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt an der Ecke versammelt hatten, machte ihr ein Mann laut ein respektloses und reichlich unrealistisches Angebot. Lily seufzte.
„Bei der Hitze kommen die ganzen Verrückten aus ihren Löchern“, sagte der uniformierte Polizeibeamte, der neben dem Streifenwagen stand.
„So ist es“, sagte Lily und bückte sich, um erst in die eine, dann in die andere Sandale zu schlüpfen. Ihre Füße waren schmutzig, aber in ihrer Handtasche hatte sie Erfrischungstücher, sodass sie sie in ein paar Minuten würde säubern können. „Hier scheint es nichts für mich zu geben.“
Der Beamte nahm seine dunkelblaue Kappe ab, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und setzte die Kappe wieder auf. „Tut mir leid, dass Sie bei dieser Hitze hier rauskommen mussten, aber man hatte uns gesagt, wir sollten Ihren Leuten Bescheid sagen.“
„Das haben Sie ganz richtig gemacht. Mir war es wichtig, eines von diesen Ereignissen zu überprüfen, kurz nachdem es passiert ist.“ Nur nicht gerade heute, verdammt.
Genau genommen hätte sie gar nicht sofort vor Ort sein müssen. Heute war Samstag, und es war nach fünf Uhr – niemand hätte ihr einen Vorwurf gemacht, wenn sie bis morgen gewartet hätte. Niemand außer ihr selbst. Manchmal war es ganz schön lästig, gewissenhaft zu sein.
Lily betrachtete das verdrehte Fahrgestell des kleinen Honda, das die Auseinandersetzung mit dem Pick-up ganz offensichtlich verloren hatte. „Ich muss mir auch ihren Wagen ansehen. Das Steuer, das Armaturenbrett – alles, womit die Fahrerin in Kontakt gekommen sein könnte.“
„Nur zu. Wahrscheinlich müssen Sie so gründlich sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben schon einen etwas seltsamen Job.“
„Ja“, sagte sie trocken und ging zu dem zerknautschten Honda.
Officer Munoz war klein und stämmig und hatte ein rundes, fröhliches Gesicht, dem ein Schnurrbart tapfer ein wenig Würde zu verleihen versuchte. Und er war jung. Schrecklich jung in Lilys Augen – was beinahe genauso beunruhigend war wie die Tatsache, dass sie Anrufen von Verrückten nachging, statt in Mordfällen zu ermitteln. Sie war selbst noch nicht einmal dreißig, herrje. Erst in acht Monaten.
Nein, in sieben Monaten. Du liebe Zeit. Das war nicht mehr lang hin. Sie runzelte die Stirn, als sie um das hellrote Getriebeöl herumging, das auf der Straße trocknete. Dann streckte sie die Hand nach der Fahrertür aus. „Na so etwas.“
Die Fahrerin war auf der anderen Seite aus dem Auto gezogen worden. Die Tür war ganz offensichtlich nicht mehr zu öffnen, aber Lily versuchte es trotzdem.
„Sie hatten wohl andere Pläne“, bemerkte Officer Munoz. „Sie haben so ein hübsches Kleid an.“ Er machte ein erschrockenes Gesicht. „Das hätte ich wohl nicht sagen sollen, was?“
„Schon gut. Ich fahre gleich weiter zu einer Babyparty. Ich bin eine der Organisatorinnen.“ Sie zog fester am Griff, aber die Tür rührte sich nicht.
„Echt?“ Seine Miene hellte sich auf, als er auf die Beifahrerseite ging. „Meine Frau und ich erwarten im Januar Nachwuchs.“
Dieses Kind war verheiratet? Hör auf damit, sagte sie sich, da kam ihr ein neuer Gedanke. Sah auch Rule sie manchmal an und fand, dass sie schrecklich jung war? Der Altersunterschied zwischen ihnen war sehr viel größer als der zwischen ihr und dem ernsthaften jungen Beamten. „Herzlichen Glückwunsch. Junge oder Mädchen?“
„Es wurde noch kein Ultraschall gemacht. Ich hätte ja gerne einen Jungen, aber … na, Sie wissen schon, solange das Kind gesund ist …“ Er riss die Beifahrertür auf. „Die hier funktioniert noch.“
„Ja. Danke.“ Aber jetzt müsste sie über den Vordersitz krabbeln, und dafür war sie nicht angezogen. Sie sah an ihrem cremefarbenen Trapez-Kleid mit den hübschen bronzefarbenen Streifen am Ausschnitt und am Saum hinunter. Sie hatte es extra für den heutigen Tag gekauft.
Wenigstens saß es locker. Vielleicht würde es ihr gelingen, auf allen vieren zu krabbeln, ohne dass Officer Munoz die Farbe ihres Slips erfuhr.
Ein schwarzer Mercedes hielt auf der anderen Seite des Streifenwagens. Die Wagentür öffnete sich, und ein hochgewachsener Mann in Jeans und einem schwarzen Hemd stieg aus. „Brauchst du Hilfe?“
Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Komisch, es reichte schon aus, ihn einfach nur zu sehen. Sie schüttelte den Kopf. „Selbst du könntest diese Tür nicht öffnen. Ich klettere von der anderen Seite hinein.“
Er lächelte sie an. „Du machst dein hübsches Kleid schmutzig.“ Natürlich hatte er Munoz’ Bemerkung gehört. Er kam langsam auf sie zu. „Mal sehen, was ich tun kann.“
„He!“, sagte Munoz. „Sie sind dieser Lupus!“
Alles in Lily spannte sich an, aber Rule hatte auch für ihn ein Lächeln. „Ich bin ein Lupus.“
„Nein, Sie sind dieser Prinz! Der, den man immer in diesen Magazinen sieht, der mit den vielen … ich meine …“ Munoz holte Luft. Wäre sein Teint ein wenig blasser gewesen, wäre er wohl rot geworden. „Egal.“
Er hatte die Unmengen schöner Frauen gemeint, mit denen Rule von der Presse abgelichtet worden war. Allerdings nicht in letzter Zeit. In letzter Zeit hatten alle Artikel nur von ihm und Lily gehandelt – viel zu viele Artikel. Sie berührte die kleine Erhöhung unter ihrem Kleid: Es war ihr Verlobungsring, den sie an einer Kette um den Hals trug, zusammen mit dem toltoi, den sie als Auserwählte bekommen hatte.
Solange die Verlobung nicht offiziell verkündet worden war, trug sie den Ring so, dass man ihn nicht sah.
„Äh … Turner, richtig?“ Munoz lächelte hoffnungsvoll.
Lily hatte Mitleid mit ihm, weil er so verlegen war. Er meinte es gut, anders als viele andere Polizisten. Nicht mit Lupi. „Officer Munoz, dies ist Rule Turner. Rule, Officer Jesse Munoz.“ Sie sah den jungen Streifenpolizisten an. „Aber Rule hat recht. Ich würde mein Kleid lieber nicht schmutzig machen. Außerdem sind dort Glasscherben. Haben Sie irgendetwas, das ich auf den Sitz legen kann?“
Rule legte ihr die Hand auf den Arm. „Gib mir einen Moment. Du weißt doch, wie gerne ich etwas für dich verbiege.“
Sie schüttelte den Kopf, trat aber zurück, um ihm Platz zu machen. „Sieh nur zu, dass du dich nicht verletzt. Ich finde es schrecklich, wenn du blutest.“
Rule lächelte sie flüchtig an, stellte sich vor die Tür, konzentrierte sich einen Augenblick und ruckte. Metall stöhnte, aber nichts geschah. Er runzelte die Stirn. Dann stemmte er sich mit dem Fuß gegen den Rahmen und zog. Mit einem lauten Kreischen öffnete sich die Tür. Er stand immer noch fest und sicher da.
„Danke. Die meisten Männer öffnen Gurkengläser.“
„Wie gut, dass ich das auch kann.“
Sie lächelte und warf einen Blick zu dem Supermarkt hinüber, wo die dort versammelten Schaulustigen plötzlich ganz aufgeregt wurden. „Pass lieber auf. Ich glaube, da drüben hat dich jemand erkannt.“ Und nicht jeder geriet über Lupi so in Begeisterung wie Officer Munoz … der schon wieder seine professionelle Würde vergaß.
„He, das war cool! Sie haben sie einfach aufgezogen. Ich habe ja gehört, dass Lupi stark sind, aber das … Mannomann.“ Munoz schüttelte bewundernd den Kopf. „Das ist cool.“
Lily ließ Rule mit seinem Ein-Mann-Fanklub allein und machte sich an die Arbeit. Die manchmal, wie Munoz gesagt hatte, tatsächlich etwas seltsam war.
Bis letzten November war Lily Mordkommissarin hier in San Diego gewesen. Jetzt arbeitete sie für die Einheit 12 der Magical Crimes Division, der FBI-Abteilung für magische Verbrechen. Das, was in dem Wrack des Honda von dem Fahrersitz noch übrig war, mit den Händen abzutasten, gehörte zwar nicht zu ihrer täglichen Arbeit, aber auf bloßen Füßen musste sie sehr oft herumlaufen.
Denn Lily war eine Sensitive. Für sie fühlte sich Magie wie etwas Stoffliches an, ohne aber eine Wirkung auf sie zu haben. Wenn die örtlichen Behörden den Verdacht hatten, Magie oder ein Andersblütiger könnte an einem Verbrechen beteiligt sein, riefen sie die MCD – die die Ermittlungen dann meistens an die Einheit weitergab.
In der letzten Zeit war sie oft gerufen worden. In diesen heißen Sommertagen sahen die Bürger von San Diego viele Monster. Große, haarige Monster mit Tyrannosauruszähnen. Grinsende Dämonen, die vor einem Fenster zwitscherten. Lepröse Untote, die ein Haus überfielen.
Jedes Mal, wenn ein Spinner die Polizei rief, rief die Polizei sie. Und jedes Mal musste sie die Sichtung übernehmen. Weil es nämlich in letzter Zeit immer mal wieder möglich gewesen wäre, dass die Verrückten recht hatten.