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Da Becks Wagen eine halbe Meile entfernt stand und der von Rule von zwei Polizeiwagen und einem Rettungswagen blockiert wurde, requirierte Lily einen Streifenwagen.

Was allerdings nicht so einfach möglich gewesen wäre, wenn der Detective, der gerade in dem Moment, als Ruben anrief, vorfuhr, nicht ausgerechnet T.J. gewesen wäre. Er befahl dem Streifenpolizisten, nicht mehr zu jammern und ihr die verdammten Schlüssel zu geben.

Beck bestand darauf, mitzukommen. Daher war es jetzt zwar etwas eng auf dem Vordersitz, aber da die Rückbank im Wesentlichen aus einer kleinen, mobilen Arrestzelle bestand, waren weder Rule noch Beck scharf darauf, dort Platz zu nehmen.

Lily stellte Blinklichter und Sirene an und trat aufs Gas. Rule versuchte, alle diejenigen der Familie Yu anzurufen, deren Telefonnummer er hatte: Julia und Edward, Susan, Beth. Nirgendwo ging jemand an den Apparat.

Noch bevor sie die Hälfte der Strecke geschafft hatten, begann die ganze Stadt verrücktzuspielen. Als Erstes wurde über Polizeifunk Godzilla gemeldet. Dann kurz darauf Schüsse, eine Schlägerei bei Walmart, riesige Ameisen, noch mehr Schüsse, Personen, die nackt über eine viel befahrene Straße rannten …, alles im unmittelbaren Umkreis von Edward und Julia Yus Haus. Als das erste Feuer erblühte und seine hungrigen orangefarbenen Blütenblätter auf dem Dach eines Hauses nur zwei Straßen entfernt von ihrem Ziel entfaltete, waren sie immer noch über drei Kilometer weit weg, aber sie sahen das plötzliche Glühen.

Lilys Knöchel waren weiß, so fest umklammerte sie das Steuer, als sie mit voller Geschwindigkeit die Ausfahrt nahm. „Großmutter wusste, dass so etwas passieren würde. Sie wusste es.“

„Du hast recht. Sie hat es erwartet und ist deswegen vorbereitet.“ Rule erstarrte und zog mit aller Kraft Energie aus den Clanmächten. „Scheiße.“

„Hölle und Verdammnis!“ Beck lehnte sich über Rule und versuchte, nach dem Steuer zu greifen. Rule stieß ihn zurück.

„Was ist los?“, verlangte Lily zu wissen.

„Ich habe einen Dämon gesehen wie der, der mich in Dis aufgeschlitzt hat. Was der Deputy gesehen hat, weiß ich nicht.“

„Menschen.“ Beck schluckte. „Tote Menschen. Leichen. Der Wagen fuhr über sie. Ich habe es ganz deutlich gespürt. Kannst du –“

„Keine Leichen“, sagte Lily grimmig. „Noch nicht.“ Sie riss das Steuer herum, um einem anderen Wagen auszuweichen, als ein Sattelschlepper direkt auf sie zugerast kam, genau in der Mitte der Straße.

„Bist du sicher?“

„Ja.“ Lily bremste, um in eine weniger befahrene Wohnstraße einzubiegen, und trat dann wieder aufs Gaspedal. „Mach die Augen zu, wenn du es nicht aushältst. Rule? Hilft dir die, äh … Methode, die Sam erwähnt hat?“

Hier waren nicht so viele Autos unterwegs, aber – „Zuerst ja, aber jetzt sehe ich Menschen.“

Lily trat auf die Bremse. „Die sind echt.“

Mindestens zwanzig Personen rannten über die Straße auf sie zu. Schreiend. Das Heck des Wagens scherte aus, und Lily hielt dagegen. Sie brachte ihn zum Stehen, aber drei Personen rannten gegen den stehenden Wagen. Die Dunkelheit konnte nicht schuld sein – ihr Fahrzeug wurde von den Scheinwerfern und dem blitzenden Polizeilicht hell erleuchtet. Sie sahen nichts anderes als das, von dem sie glaubten, es würde sie verfolgen.

Zwei rappelten sich auf und rannten weiter. Die dritte blieb liegen.

„Ich helfe ihr.“ Cody öffnete die Tür.

Lily war bleich. „Die Chimei setzt Tonnen von Kraft ein. Wenn die Wirkung von dem Haus meiner Eltern ausgeht, breitet sie sich offenbar in weiten Kreisen aus. Wir sind noch zwei Kilometer von zu Hause entfernt.“

„Dann setzt sie wirklich sehr viel Kraft ein.“ Rule wählte erneut. Nichts.

Vor dem Auto hob Cody den schlaffen Körper einer Frau auf. Zwei Wagen schossen an ihnen vorbei, in die entgegengesetzte Richtung. „Hat sich selbst k.o. geschlagen“, rief er. „Macht mal hinten auf, dann lege ich sie rein.“

Lily drückte auf einen Knopf. „Komm schon“, murmelte sie. „Beeil dich.“

Cody schob die Frau ins Auto, schlug die Tür zu und stieg wieder ein. Noch bevor die Tür ganz zu war, trat Lily auf das Gaspedal. Der Polizeifunk quäkte etwas von einem Feuer – oft unterbrochen von statischem Rauschen – und verkündete dann: „Ein 10–190 im Gang in dem Walmart auf –“

Dann nichts mehr.

„Eine Magiewelle?“, sagte Rule.

„Wahrscheinlich. Und aus der Schlägerei in dem Walmart, an dem wir vorbeigefahren sind, sind jetzt Ausschreitungen geworden.“

Cody keuchte auf.

„Was immer du siehst, es ist nicht real“, sagte Lily.

„Also wachsen dir jetzt nicht gerade Hörner, was?“

Rule beobachtete, wie ein Dutzend Gangmitglieder auf einem gut beleuchteten Parkplatz vor einem Wohngebäude seine Waffen zog und auf sie schoss, als sie vorbeirasten. Er hörte die Schüsse sogar trotz des Lärms der Sirene – aber irgendwie klangen sie merkwürdig. Gedämpft und falsch. Mit betont fester Stimme sagte er: „Sobald wir halten, muss ich mich wandeln.“

„In Ordnung“, sagte Lily. „Warum?“

„Die Sache, über die ich mit meinem Vater gesprochen habe.“ Sie wusste, dass er die Clanmächte meinte. „Der Wolf kann besser auf diese besondere Art hören als der Mann.“

„Und wie hilft uns das weiter?“

„Ich … sehe immer noch Dinge. Vielleicht nicht so viele wie Beck. Illusion wirkt auf meine anderen Sinne nicht so stark.“ Sie fuhren langsamer, um erneut abzubiegen, dieses Mal in eine reine Wohnstraße. Ein Mann, der in seinem Vorgarten stand, zielte mit einem Gewehr auf sie, als sie sich näherten. „Ist der Mann da –“ Aber da hörte er schon, wie der Schuss losging.

„Scheiße.“ Lily riss das Steuer herum. „Er hat das Heck getroffen, glaube ich. Oh Gott.“ Sie machte noch einen Schlenker – dieses Mal, um nicht zwei Körper zu überfahren, die reglos und blutig auf der Straße lagen. Zumindest war es das, was Rule im Scheinwerferlicht sah.

Zwei Straßen weiter brach plötzlich ein Feuer direkt vor ihnen aus. Sie fuhr nicht langsamer, noch nicht einmal, als die Flammen hoch und heiß um sie herum loderten. Cody fluchte laut.

Dann hatte er es also auch gesehen? Oder glaubte er, sie würden durch einen Sumpf oder eine Menge unschuldiger Menschen fahren? Rule horchte auf das Brüllen und Knistern des Feuers – und hörte nichts. Aber vor den Fenstern leuchteten die orangefarbenen Flammen. „Ich sehe nur noch Feuer“, sagte er zu Lily.

„Dann ist es ja gut, dass ich fahre. Wir sind fast da. Scheiße.“ Sie trat heftig auf die Bremse. „Kannst du das sehen?“

„Nur Feuer.“

„Der nächste Brand ist über einen Häuserblock entfernt. Ich habe angehalten, weil vor uns drei Wagen ineinandergefahren sind. Die Straße ist blockiert.“ Sie öffnete ihren Gurt. „Ich gehe den Rest des Weges zu Fuß. Es ist nicht mehr weit.“

„Ich steige auf deiner Seite aus, damit du mich, wenn nötig, führen kannst.“ Er hoffte sehr, dass er nach dem Wandel nicht mehr überall nur Feuer sah, aber wenn doch, würde er Hilfe brauchen.

„Rule, wenn du das Feuer nicht nur siehst, sondern auch spürst –“

„Entweder führst du mich, oder ich folge dir blind.“ Er sah in die Flammen. Aber er hörte sie nicht.

„Ich sage ja nur höchst ungern: ich auch“, sagte Cody, „wirklich sehr ungern. Aber: ich auch.“

„Na gut. Aber wenn einer von euch das Feuer auch spürt, dann sofort zurück in den verdammten Wagen. Und greift nichts und niemanden an, außer wenn ich es sage.“ Sie öffnete die Tür. Rule roch den rauchig-verbrannten Gestank von Feuer – aber sie hatte ja auch gesagt, dass es hier wirklich irgendwo brannte, nicht wahr? Einen Häuserblock entfernt.

Rule rutschte auf die andere Seite hinüber. Zog Kraft aus seiner Clanmacht. Und trat hinaus in die Flammen.

Er spürte Hitze – aber die Hitze eines heißen Tages, der sich nach dem Untergang der Sonne noch nicht abgekühlt hatte. Nicht die Hitze von Feuer. Er stand nicht in Flammen. Er holte tief Luft und konzentrierte sich auf die Erde unter seinen Füßen und lauschte.

Mondlied, süß und kühl und rein. Ja. Es sprach zu ihm und zu den Clanmächten, und die Clanmächte … Beinahe konnte er auch sie hören, als Widerhall in diesem Lied. Er sog die Erde hoch durch seine Füße, warf sich in das Lied des Mondes – und in den Wandel.

In einer Welle ungeheuren Schmerzes barst sein Körper auseinander – als er sich neu gestaltete, war der Schmerz schon verflogen, so vollständig, als wäre er nie gewesen. Sein Blickfeld war nun tiefer, die Perspektive fast unmerklich anders. Sein Gehör war schärfer, und die Welt war voller Gerüche.

Und immer noch leckten Flammen durch die Luft, aber sie waren hauchdünn, kraftlos. Er sah durch sie hindurch, sah, wie Lily ihn stirnrunzelnd ansah und sich dann bückte, um ihre Waffe aus dem Knöchelholster zu ziehen. Er sah auch echtes Feuer – das, von dem Lily gesprochen hatte. Hinter ihnen und einen Block weiter westlich. Die Flammen knisterten hungrig.

Er nickte ihr zu – mir geht es gut, ich sehe dich, ich sehe jetzt die Wahrheit – und ging zur Seite, um den Deputy herauszulassen. Und sah, dass das falsche Feuer den Wagen umhüllte wie ein bösartiger Geist. Nur den Wagen, in einem Umkreis von ungefähr einem Meter.

Becks Gesicht glänzte vor Schweiß, als er an der offenen Fahrertür zögerte. Für ihn waren die Flammen real. Würde er verbrennen, wenn er tatsächlich daran glaubte? Er würde doch wohl nicht –

Er schob sich ins Freie – und begann zu schreien.

Rule reagierte blitzschnell, packte den Mann mit den Zähnen und zog ihn ein paar Meter zur Seite, weg von den Geistflammen. Das Schreien verstummte. Keuchend lag Beck auf dem Rücken, die Augen weit aufgerissen.

„Herrgott noch mal, Cody, du solltest doch nicht – alles in Ordnung?“ Lily kniete neben ihm.

„Ich lebe, glaube ich.“ Zitternd stützte er sich auf die Ellbogen. „Das Feuer ist nur am Wagen, aber nicht hier. Gott.“ Er streckte die Hand aus und drehte sie. „Nicht knusprig gebraten. Es hat sich wirklich so angefühlt, als würde mir die Haut vom Körper schmelzen.“ Er sah Rule an. „Danke.“

„Ihr seht beide Feuer“, sagte Lily tonlos. „Dieselbe Illusion. Und es ist nur am Wagen?“ Rule nickte. „Das ist nicht gut. Das heißt, es ist auf uns gerichtet … und eigens so geformt. Das sind nicht nur eure Ängste. Sie hat sich absichtlich Feuer für euch ausgesucht.“

Rule knurrte und machte einen Schritt nach vorne.

„Du hast recht. Lasst uns gehen. Cody, kannst du – okay, ich glaube, du kannst“, sagte sie, als der Deputy auf die Beine kam. „Dann los.“

Mit schnellen Schritten ging sie los. Rule folgte ihr ohne Mühe – und der Deputy hielt mit ihnen Schritt.

Trotz Rules augenblicklicher Gestalt blieb der Mann in ihm sehr präsent. Und dachte angestrengt nach.

Cody Beck war sehr mutig. Rule hatte zwar auch nicht erwartet, dass der Mann ein Feigling war – wäre er feige oder dumm gewesen, hätte Lily ihn nicht gemocht –, aber er war überrascht, wie mutig er war.

Außerdem war Cody Beck verrückt. Sein Mut war echt, aber tollkühn. Hätte das Geistfeuer sich noch weiter über das Auto ausgebreitet, wäre es Rule vielleicht nicht gelungen, ihn rechtzeitig dort herauszubringen. Er hätte sterben können, weil für seinen Verstand und seine Sinne die Verletzungen so echt gewesen wären, dass sein Herz versagt hätte. Oder er hätte einen Schock bekommen können, und sie wären gezwungen gewesen, sich um ihn zu kümmern, statt um Lilys Familie.

Rule-Wolf schnaubte verächtlich über die vielen Worte, die der Mann aus seinem Kopf zog. Cody Beck war stark und bewundernswert, ja. Und er hatte Fehler, aber wer hatte die nicht. Und er war nicht der Richtige für Lily – was der Wolf auch ohne diese vielen Gedanken wusste.

Lilys Eltern lebten in einer hübschen Mittelklassegegend in dem Stadtteil La Jolla. Hier leuchteten an jeder Ecke Straßen-, Veranda- und Gartenlampen. Die Vorgärten waren klein, aber hübsch und gepflegt. Man sah Trocken- und Kiesgärten, aber ein paar Eigensinnige hatten offensichtlich an ihrem Rasen festgehalten. Selbstverständlich waren viele Häuser verputzt, in verschiedenen Farben und Stilen. Es war eine teure Gegend, aber Edward und Julia Yu hatten ihr Haus vor vielen Jahren gekauft, als es noch günstig zu haben war.

Heute Nacht zogen der Rauch und die Asche des Feuers über die Yuccas und die Palmen, die erleuchteten Einfahrten und die roten Ziegeldächer. Und die Hunde heulten.

In den Vorgärten heulten sie und in den Häusern. Kleine Hunde, große Hunde – jeder Hund hier und im weiteren Umkreis heulte. Welche Magie auch immer die Chimei benutzte, Hunde hörten sie ebenfalls.

Rule spürte beinahe körperlich den Druck der Magie und verstand, warum die Tiere das Bedürfnis hatten, zu heulen. Während er lief – ein gemächliches Tempo, er konnte viel schneller laufen –, lauschte er angestrengt. Er lauschte wie auf das Lied des Mondes, aber vor allem auf diese beiden einzelnen Töne in ihm, den Widerhall der Clanmächte, als er sich gewandelt hatte. Die Töne, die ihnen vielleicht ihren Namen gaben. Konnte ein Bruchstück des Mondliedes ein Name sein?

Ja – ganz sicher, ja. Sam hatte auch seinen Namen, und wie sonst würde ein Drache einen Namen bekommen als durch ein Drachenlied?

Er sah keine Monster in der Dunkelheit lauern. Er sah eine Frau in der Einfahrt ihres Hauses, die sich hin und her wiegte. Er sah einen weiteren Autounfall – zwei Autos, deren Vorderteile zerdrückt und auf immer miteinander vereint schienen. Keine Fahrer oder Insassen, obwohl er Blut roch. Er hörte Cody Becks raues Atmen und roch seine Angst, aber der Mann rannte gleichmäßig weiter. Rule fragte sich, was er wohl sah.

Dann erspähte er Rauchwolken, die sich einem zweiten Feuer entgegenbogen und so dunkel waren, dass sie sich gegen das verschwommene Licht der Sterne abzeichneten. Das Feuer war weiter weg, aber vielleicht größer als das erste Feuer. Er hörte keine Feuerwehrmänner hin und her eilen und schreien. Er hörte Sirenen, aber weiter entfernt.

Wo waren all die Menschen? Außer der einzelnen Frau sah er niemanden, hörte niemanden, roch niemanden. Es war Abend. Sie müssten eigentlich von der Arbeit nach Hause gekommen sein, Abendessen zubereiten, sich um ihre Familie kümmern. Kauerten sie in ihren Häusern, erstarrt vor Angst? Brachten sie sich gegenseitig um? Rannten sie in Rudeln durch die Straßen, wahnsinnig, weil das, was sie sahen, zu schrecklich war?

Und dann hörte er Schreie, als sie an einem Haus vorbeikamen. Mehrere Stimmen, nicht nur eine. Lily blieb stehen. Er stieß sie an. Geh weiter. Unsere Feinde sind nicht hier. Um das hier zu beenden, müssen wir unsere Feinde aufhalten.

Beck zog seine Waffe aus dem Holster. „Ich gehe rein.“

Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm – auf den mit der Waffe. „Steck das weg. Steck das weg, oder du erschießt noch einen Zehnjährigen, weil du ihn für einen Vergewaltiger hältst. Wenn du da hineingehst, was siehst du dann, wenn du sie retten willst? Ein Monster, das sie fressen will? Und du weißt nicht, was von dem, was du siehst, real ist. Wie willst du helfen, ohne das zu wissen?“

„Na dann, verdammt, wenn du meinst –“

Lily antwortete nicht. Sie begann nur wieder zu rennen. Schneller.

Rule lief neben ihr her. Und ebenso Beck – seine Waffe steckte wieder im Holster.

Jetzt waren sie beinahe an der Straße angekommen, in der die Yus wohnten. Da war sie, weniger als einen Block entfernt. Das Haus der Yus lag zu ihrer Linken, das dritte Haus. Und dort wenigstens hörte er Menschen. Stimmen – eine davon gehörte Madame Yu. Sie sagte: „Geh oder stirb. Deine Entscheidung.“ Und Lachen. Hässliches Lachen.

Dann einen Schuss. Zwei Schüsse, kurz nacheinander.

Hin- und hergerissen blickte er hoch zu Lily. Er glaubte nicht, dass sie aus dieser Entfernung ihre Großmutter gehört hatte, aber den Schuss – den hatte sie gehört. Sie gab ihm mit einem Winken zu verstehen, er solle vorlaufen. „Los, lauf. Ich bin gleich hinter dir. Lauf nur.“

Rule lief, so schnell er konnte. In Sekunden hatte er die beiden anderen hinter sich gelassen. Er lief um die Ecke.

Dort war es, das Haus der Yus – ein hell verputztes, hübsches Terrassenhaus mit einer breiten Einfahrt, die einen Großteil des Vorgartens einnahm. Blitzschnell und während die Luft an seinem Körper entlangströmte, erfasste er die Szene, die sich ihm darbot. Licht im Haus und auf der Veranda. Gedämpftes Solarlicht entlang der Einfahrt.

Und in dieser Einfahrt eine Gruppe junger Männer, vielleicht ein Dutzend. Noch eine Gang? Der Wind trug ihm ihre Gerüche zu – Schweiß und Zigaretten, Bier, Gras. Und Schießpulver. Aus dieser Entfernung und in der Dunkelheit konnte er nicht sehen, wie viele Gewehre es waren, aber er roch das Schießpulver.

Aber sie schossen nicht. Sie starrten auf die Veranda – wo sich ein Strudel aus Schatten und Farbe drehte.

Madame Yu wandelte sich nicht wie er. Bei ihr dauerte es etwas länger.

Rule rannte von hinten gegen den, der ihm am nächsten stand, bevor die anderen ihn bemerkten. Er stieß ihn einfach um, sprang gleich den nächsten an und schlug seine Zähne in einen erhobenen Arm. Er wirbelte herum, duckte sich tief und visierte das Kreuzband desjenigen an, der einen Baseballschläger durch die Luft an der Stelle schwang, wo er eben noch gewesen war.

Ein ohrenbetäubendes Brüllen zerriss die Luft. Ein Streifen aus Orange, Schwarz und Weiß fuhr in die Gruppe der Gangster. Und dann stand ein Sibirischer Tiger – von der Nasen- bis zur Schwanzspitze ungefähr drei Meter knurrende Wut – mitten unter ihnen.

Jetzt schrien sie.

Madam Yu war keine zimperliche Kämpferin. Die Krallen, mit denen sie zuschlug, hätten einen schwarzen Bären zu Boden gezwungen. Blut floss. Schon nach einigen Sekunden war der Kampf vorüber. Rule zitterte vor Verlangen, die, die noch zur Flucht in der Lage waren, zu verfolgen, aber der Mann hielt den Wolf zurück.

Madame spürte vielleicht eine ähnliche Enttäuschung. Sie brüllte wieder.

Ein Wolf ist klug genug, sich einem wütenden Tiger nicht zu nähern, wie höflich und respektvoll auch immer sie in einer anderen Gestalt miteinander umgingen. Rule jaulte leise, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und deutete dann mit der Nase auf das Haus, die Ohren aufgestellt. Ihr Schwanz peitschte durch die Luft. Sie nickte und winkte sogar mit einer ihrer riesigen Pfoten, als wollte sie ihn auffordern, hineinzugehen.

Sie hatte die Eingangstür nur angelehnt. Er lief hindurch. Sie folgte ihm nicht, sondern lief um das Haus herum zur Rückseite.

Gut. Die vor dem Haus hätten möglicherweise von anderen ablenken sollen, die den Hintereingang nehmen wollten.

Drinnen folgte er seiner Nase – und wurde mit einem erstaunlichen Anblick konfrontiert. Im Esszimmer, einem kleinen Raum mit nur einem Fenster, gab es keinen Esstisch mehr. Stattdessen befanden sich an seiner Stelle zwei Matratzen auf dem Boden. Darauf lag Madame Yus Familie: Sohn, Schwiegertochter, zwei Enkelinnen und Schwager. Alle friedlich und tief schlafend. Susan schnarchte leise.

Er blieb stehen und starrte sie an. Dann schüttelte er den Kopf und wünschte, er könnte in dieser Gestalt lachen. Sie hatte sie betäubt, alle zusammen. Wie sie sie dazu gebracht oder überredet hatte, war ihm völlig unerklärlich, doch so hatte sie dafür gesorgt, dass der Wahnsinn keine Macht über sie bekam.

Nachdem er einen Moment anerkennend gegrinst hatte, betrat er das stets aufgeräumte Wohnzimmer. Das nun nicht mehr so ordentlich aussah, denn überall auf dem Boden lagen Glasscherben. Mindestens einer der Schüsse, die er gehört hatte, hatte das große Panoramafenster zerschlagen.

Er schob die Tür mit der Nase weiter auf und trottete auf die Veranda. Madama Yu strich um die Hausecke, geschmeidig und elegant. Sie blickte zu ihm hoch und schüttelte einmal den Kopf.

An der Hintertür waren also keine Eindringlinge. Er jaulte und wedelte mit dem Schwanz, um ihr zu sagen, dass drinnen alles in Ordnung war. Dann wandte er sich den Leichen zu. Es waren weniger, als er gedacht hatte. Oh ja – eine Geruchs- und Blutspur verriet ihm, dass der, dem er das Kreuzband hatte durchbeißen wollen, es geschafft hatte, aufzustehen und sich davonzuschleppen.

Trotzdem waren fünf der Angreifer tot und einer schwer verletzt. Von diesen fünf hatte vier Madame Yu erlegt – was nicht überraschend war, denn Rule hatte versucht, möglichst niemanden zu töten. Nicht, weil er zart besaitet gewesen wäre, sondern aus praktischen Erwägungen. Tote Menschen bedeuteten Komplikationen. Rule hatte nichts dagegen, die Verantwortung für alle Opfer zu übernehmen, aber die Spuren eines Tigers sahen anders aus als die eines Wolfes.

Deswegen mussten sich entweder er oder Madame Yu zurückwandeln und die Leichen beseitigen. Und den Verletzten. Lily würde gar nicht glücklich über die Zahl der Todesopfer sein, aber …

Lily. Er riss den Kopf hoch und sah zurück zur Straßenecke. Wo war sie? Sie war nicht so schnell wie er, aber sie war gerannt. Eigentlich hätte sie jetzt hier sein müssen. Und Beck auch.

Er rannte los – wohl wissend, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, dass er zu spät kommen würde. Das Band der Gefährten sagte es ihm.

Rule fand Cody Beck in sich zusammengesunken auf dem Bürgersteig, direkt um die Ecke. Er war bewusstlos und blutete am Hinterkopf, aber er atmete normal.

Lily war fort.