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An einem glühend heißen Mittag Ende Juli bot der Balboa Park in San Diego viel Grün für sonnenmüde Augen. Die Wege im Palm Canyon waren mit die schönsten des Parks, auch wenn es jetzt, da die Sonne hoch am Himmel stand, nur ein paar wenige Schattenflecke zu Füßen der gebogenen Palmenstämme gab.

Auf einem dieser Wege schlenderte einsam ein hochgewachsener Mann, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

Sein Haar war dunkel, seine Haut leicht gebräunt. Die Augen waren hinter einer teuren Sonnenbrille verborgen. Von Weitem sah er aus wie ein Schatten, der seine lichteren Verwandten entlang des hellen Weges besuchte.

Rule Turner fasste sich an die Sonnenbrille, obwohl sie tadellos saß. Er berührte sie einfach gern, denn es war ein Geschenk. Lily hatte ihn damit überrascht, als sie gestern zusammen mit seinem Sohn aus North Carolina zurückgekommen waren. Sie hatte sogar ein kleineres, aber sonst identisches Modell für Toby gefunden, das der Junge nun ständig trug. Wenn Rule die Brille anfasste, dachte er dabei an Toby und Lily und daran, warum er hier war.

Zwei Männer bogen in den Weg ein und kamen auf Rule zu.

Keiner von beiden trug eine Sonnenbrille. Der Ältere sah aus wie ein Schmied oder wie eine ungeschlachte Erdgottheit – bärtig und so stämmig, als könne er jeden Moment aus Hose und Hemd platzen. Sein Bart und sein Haar waren rotbraun und von grauen Strähnen durchzogen; seine Augen hatten die Farbe gerösteter Nüsse. Das gebräunte Gesicht war zerknittert, ein Zeichen, dass er oft und gerne lächelte.

Jetzt lächelte er nicht.

Der andere Mann sah jünger und gefährlicher aus – was auch in gewissem Sinn stimmte. Benedict war in der Lage, schneller und sicherer zu töten als jeder andere, den Rule kannte. Er war ebenso muskulös gebaut wie sein Begleiter, aber gute zwölf Zentimeter größer als dieser. In Benedicts hohen Wangenknochen und dem breiten Mund spiegelte sich das Erbe seiner Mutter, und sein schwarzes Haar war lang genug, dass er es in einem kurzen Zopf zurückbinden konnte.

Um seine dunklen Augen spielten keine Lachfältchen. Er bewegte sich mit der Sparsamkeit eines Athleten oder eines Kampfsportlers, der er auch war, und trug Sportschuhe, Jeans und darüber ein locker fallendes Khakihemd.

Das Hemd passte nicht zu seiner Figur oder seinem Teint, aber darauf würde Benedict nie Wert legen. Für ihn war Kleidung, wie die meisten anderen Dinge auch, ein rein taktisches Mittel. Das Hemd passte zur Umgebung und verbarg die Waffen, die er mit sich führte. Messer, sicherlich. Und wahrscheinlich eine Handfeuerwaffe.

Keiner von beiden sah aus wie Rule. Sie ähnelten sich alle drei nicht sehr. Ein Fremder hätte niemals vermutet, dass es sich um einen Vater und seine beiden Söhne handelte.

Der Ältere von ihnen blieb in ungefähr fünf Meter Entfernung stehen. Benedict blieb ein Stück hinter ihm zurück, um ihm den Rücken zu decken. Rule näherte sich ihm bis auf einen Meter und blieb dann ebenfalls in abwartender Haltung stehen.

„Kniest du nicht nieder?“, fragte Rules Vater.

„Ich möchte wissen, wer mich grüßt.“

Das entlockte seinem Gegenüber ein Lächeln. Ein schwaches nur, aber es erreichte die nussbraunen Augen. „Dein Rho.“

Sofort fiel Rule auf ein Knie und neigte den Kopf, um den Nacken darzubieten. Er spürte die Finger seines Vaters über seinen Nacken streichen, und in seinem Inneren antwortete der Teil der Macht, der zu seinem Geburtsclan gehörte – dem Clan der Nokolai.

Die andere Macht – die er ganz besaß – blieb ruhig. Ein Leidolf antwortete keinem Nokolai.

„Erhebe dich.“

Rule gehorchte. Und wartete wieder. Isen Turner mochte in seiner anderen Gestalt ein Wolf sein, aber sein Sohn fand, er ähnele mehr einem Fuchs – schlau, gerissen und sehr wendig. Isen hätte selbst Machiavelli in seinen Winkelzügen übertroffen, deshalb versuchte Rule erst gar nicht, sie zu durchschauen.

Doch heute fragte ihn Isen ohne Umschweife: „Warum hast du die Macht der Leidolf angenommen?“

Rule hatte ihm bereits erzählt, wie es passiert war, wenn auch nur am Telefon. Einige Monate lang hatte Rule, durch eine Intrige des vormaligen Rho der Leidolf, die Macht des Thronfolgers der Leidolf in sich getragen. Dann war Lily von einem Widergänger besessen gewesen, der früher ein Leidolf gewesen war, und Rule hatte die ganze Clanmacht benötigt, um den Widergänger zu bezwingen und Lily zu retten. Als er sich die Macht dann nahm, hatte er dabei den ehemaligen Rho getötet – und das hatte ihn zum Anführer der Feinde seines eigenen Clans gemacht.

Aber wenn jemand den Unterschied zwischen der Abfolge von Geschehnissen und einem Beweggrund verstand, dann war es Isen Turner. Deshalb fiel Rules Antwort nur kurz aus: „Um Lily zu retten.“

„War das der einzige Grund?“

„Nein.“

Isen räusperte sich. Dann sagte er: „Du hast viel von mir gelernt. Nun gut. Weitere Gründe willst du mir nicht nennen. Liegt es daran, dass sie die Leidolf betreffen?“

„Zum Teil. Aber vor allem, weil ich durch ein Versprechen gebunden bin.“

Isens buschige Augenbrauen hoben sich. Sein Erstaunen war möglicherweise sogar echt. „Ein Versprechen! Natürlich kann ich dich nicht fragen, was für ein Versprechen es ist, aber wem du es gegeben hast, das geht mich etwas an, denn ich bin dein Rho. Also: Wem hast du dieses Versprechen gegeben?“

Rule hatte sich bereits überlegt, was er auf diese Frage antworten würde. Er würde sein Versprechen halten, aber seinem Vater trotzdem etwas zum Nachdenken geben. Cullen wäre sicher damit einverstanden. „Ich kann dir den Namen nicht sagen, aber er ist ein Nokolai, und über die Information, die er mir gegeben hat, verfügst du bereits. Möglicherweise hast du sogar schon dieselben Schlussfolgerungen wie er daraus gezogen.“

„Ach ja?“ Die buschigen Augenbrauen wurden zusammengezogen, doch nachdenklich, nicht ärgerlich.

Wann es Zeit war, das Thema zu wechseln und auf welche Weise, war etwas, das Rule von seinem Vater gelernt hatte. „Benedict ist böse auf mich.“

Isen winkte ab. „Das geht nur euch Brüder etwas an, nicht den Clan. Wie kannst du gleichzeitig der Rho der Leidolf und der Lu Nuncio der Nokolai sein?“

Nur unter großen Schwierigkeiten. „Falls du meinen Rang meinst, würde ich ein paar Grundregeln vorschlagen. Wenn ich mich auf dem Clangut der Nokolai aufhalte, bin ich dein Lu Nuncio. Außerhalb bin ich der Rho der Leidolf.“

„Dann gehst du wohl davon aus, dass du mein Lu Nuncio bleibst?“

Zum ersten Mal lächelte Rule – ein schwaches, halbes Lächeln, aber es war echt. „Ich gehe nur davon aus, dass du deine Entscheidung nicht aus Ärger oder Zuneigung triffst, sondern weil du glaubst, es sei das Beste für die Nokolai. Du hast mich gefragt, wie ich beides sein kann. Das ist meine Antwort.“

„Richtig, richtig – aber das ist nur ein kleines Stückchen der Antwort, verglichen mit der Größe des Problems. Oder siehst du etwa einen Vorteil für uns darin, dass mein Thronfolger der Rho eines anderen Clans ist?“

„Selbstverständlich. Die Leidolf werden nicht mehr versuchen dich zu töten.“

Isen schmunzelte. „Ja, das ist eine erfrischende Abwechslung und eine, die ich zu schätzen weiß. Aber ich denke doch, dass mit dir als Rho die Leidolf mir nicht mehr nach dem Leben trachten werden, egal ob du mein Lu Nuncio bleibst oder nicht. Was noch?“

Rule wusste, er bewegte sich jetzt auf dünnem Eis, aber er ließ sich nichts anmerken. Zweifel waren vernünftig, aber sie zu zeigen war selten nützlich. „Seit über dreitausend Jahren war kein Lupus mehr Träger zweier Mächte. Unser Erzfeind rührt sich wieder. Die Zeiten ändern sich. Ich glaube, dies ist der Wille der DAME. Es ist ihr Wille, dass wir die, deren Namen wir nicht aussprechen, besiegen.“

Dieses Mal war Isens Erstaunen zweifellos echt. Erst schossen beide Brauen in die Höhe – um sich gleich darauf missbilligend zusammenzuziehen. „Glaubst du etwa, du kennst jetzt den Willen der DAME?“

„Ich stelle natürlich nur Vermutungen an. Falls die DAME zu einer der Rhejes gesprochen hat, dann haben sie es uns nicht gesagt. Aber meine innere Stimme sagt mir, dass es so ist. Mein …“ Rule zögerte und tat dann sein Bestes, etwas in Worte zu fassen, für das es keine Worte gab. „Die Mächte, die ich in mir trage, sind mit der Situation zufrieden. Sie … helfen mir. Sie erleichtern es mir, meine beiden Rollen zu trennen.“

„Hmmm.“ Isen sagte lange Zeit nichts. Dann fragte er: „Und wirst du beide Clanmächte behalten können? Wenn ich jetzt tot umfalle, kannst du dann die ganze Macht der Nokolai übernehmen?“

„Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, würde ich dich bitten, mir auf der Stelle den Machtanteil der Nokolai abzunehmen. Ich würde niemals das Wohl des Clans aufs Spiel setzen.“

„Eine gute Antwort, aber ein einfaches ‚Ja‘ wäre noch besser gewesen.“

„Ein einfaches ‚Ja‘ hätte bedeutet, dass ich meine Meinung für eine Tatsache halte.“

„Deine Meinung?“

„Ja. Die allerdings auf einer einzigartigen Erfahrung beruht. Die Clanmacht der Leidolf anzunehmen, war …“ – er hielt inne auf der Suche nach den Worten, die das, was er fühlte, am besten ausdrückten – „einfach. Nicht leicht, nein, aber viel einfacher als damals, als ich gezwungen wurde, die beiden Mächte zu übernehmen. Jetzt ist da … Platz. Sie sind beide schon da. Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass es über meine Kräfte gehen könnte, die ganze Macht der Nokolai zu übernehmen.“

Isen nickte langsam. „Nun gut. Ich vertraue deinem Urteil. Ich werde jetzt noch keine endgültige Entscheidung treffen, aber bis auf Weiteres bleibst du mein Lu Nuncio. Das Protokoll wird so sein, wie du vorgeschlagen hast, aber die Bedingungen werden andere sein. Auf dieser Seite des Landes bist du mein Lu Nuncio, auf der Seite der Leidolfs bist du ihr Rho.“

„Nein.“

Dieses Mal schoss nur eine Augenbraue in die Höhe. „Nein?“

„Wenn du und ich uns auf der Straße treffen und ich mich dir unterwerfe, werden die anderen Clans nicht deinen Lu Nuncio sehen, der sich unterwirft. Sie sehen den Rho der Leidolf. Das kann ich nicht akzeptieren.“

„Mit wem spreche ich jetzt – mit meinem Lu Nuncio oder dem Rho?“

„Mit beiden. Die anderen Clans sind beunruhigt, weil die Nokolai an Einfluss gewinnen. Dieser Besorgnis sollten wir lieber keine neue Nahrung geben.“

Ein Lächeln breitete sich auf Isens Gesicht aus und legte es dort in Falten, wo sie hingehörten. „Du bist gut“, sagte er zufrieden. „Du bist verdammt gut. Ich habe dich gut erzogen. Ja, ich stimme dir zu. Einige Bedingungen müssen noch festgelegt werden – die Klärung aber sollte zwischen dem Leidolf Rho und dem Nokolai Rho erfolgen.“ Seine Augen glitzerten. „Mit Ersterem spreche ich später. Jetzt möchte ich erst einmal meinen Sohn umarmen.“

Isens Umarmungen waren Weltklasse. So sehr er sich auch zurückhielt, wenn er Rule als Rho gegenübertrat, so liebevoll, fürsorglich und überschwänglich war er, wenn er die Rolle ablegte und nur noch Vater war.

Als sie sich voneinander lösten, lächelte Rule so herzlich wie sein Vater. Er wappnete sich – und da kam er, der Schlag auf die Schulter, so nachdrücklich, dass jeder, der nicht darauf vorbereitet war, ins Taumeln geriet. „Lily geht es doch gut, oder?“, fragte Isen. „Und Toby? Ich kann es gar nicht erwarten, den Jungen wiederzusehen. Bring ihn recht bald zum Clangut. Heute noch.“

Isen hätte Toby auch besuchen können, aber diesen Vorschlag machte Rule nicht. Das heutige Treffen war eine große Ausnahme. Sein Vater verließ selten das Clangut – doch das konnte sich jetzt, da die Leidolf keine Gefahr mehr waren, möglicherweise ändern. „Das werde ich. Er freut sich darauf, dich und seinen Onkel Benedict zu sehen.“ Rule sandte dem stummen Mann einen Blick zu, der immer noch hinter dem Vater Wache stand. „Da wir gerade vom Teufel sprechen …“

Isen drückte Rules Arm. „Lass ihn. Er grübelt. Er hat schon immer sehr viel gegrübelt, mein Sohn Benedict. Lass ihn erst mal in Ruhe.“

Rule betrachtete das undurchdringliche Gesicht seines Bruders. „Ich hätte nicht gedacht, dass es ihn so sehr stört, dass ich jetzt der Rho der Leidolf bin.“

„Nein, nein. Er hält es für einen klugen Schachzug. Es ist deine Verlobung, mit der er ein Problem hat. Also, wann bekomme ich meinen Enkel zu sehen? Er wird den Rest des Sommers auf dem Clangut verbringen“, verkündete Isen. „Und wenn die Schule anfängt, sehen wir weiter. Jetzt haben wir jedenfalls noch Sommer.“

Das war alles, was er zu Rules kommender Hochzeit sagte. Sie gingen noch eine halbe Stunde lang als Vater und Sohn nebeneinander her, unterhielten sich und planten Tobys Aufenthalt auf dem Clangut – auch wenn er nicht so ausgedehnt sein würde, wie Isen es sich wünschte. Und dabei kam Rules Vater nicht noch einmal auf Rules Absicht zu sprechen, das größte Tabu seines Volkes zu brechen. Als Rule das Thema anschneiden wollte, wich Isen aus.

Es wäre schön gewesen, dachte Rule, als er zu seinem Wagen zurückging, wenn er hätte annehmen können, dass dieses Schweigen Zustimmung bedeutete oder wenigstens, dass er nichts dagegen unternehmen würde. Aber ein Isen Turner hielt immer mit etwas hinter dem Busch.