33

„Warum wollen sich Spitzel nie irgendwo treffen, wo es nett ist?“, beschwerte sich Lily, als sie aus dem Wagen stieg.

Cody grinste. „Da hat wohl jemand kein Mittagessen bekommen.“

„Doch, ich habe gegessen.“ Das Sandwich hatte sie im Wagen vertilgt und die halbe Limonade hinterhergestürzt. „Was ich nicht bekommen habe, ist eine Dusche.“

Sie standen auf dem Parkplatz des Oceanview-Einkaufszentrums – von dem man allerdings keineswegs einen Blick auf den Ozean hatte, sondern auf riesige Betonflächen, die den ganzen Tag die Hitze aufgesogen hatten. Die sie jetzt wieder abgaben. Eine leichte Brise hatte sich erhoben, die ein wenig, aber noch lange nicht genug Kühle brachte. Lily warf einen Blick gen Westen, wo die Wolkenbank weiterhin hing wie ein böser blauer Fleck, schwarz und blau-violett. Vielleicht würde das Gewitter doch noch kommen. „Und was jetzt?“

„Da wir mitten in der Pampa geparkt haben, gehen wir jetzt zu Abschnitt A12, wo wir nach einem roten Ford Pick-up Baujahr 2007 mit der Nummer 3NQS750 Ausschau halten. Tiefer gelegt und mit orangefarbenen Flammen an den Seiten.“ Cody blickte zu ihr herüber. „Aus irgendeinem Grund findet Javier, dass mein Auto zu auffällig ist. Er wollte nicht, dass ich in seiner Nähe parke.“

Sie setzten sich in Richtung des überfüllten Abschnitts, auf den er gedeutet hatte, in Bewegung. Insgeheim musste Lily zugeben, dass der Treffpunkt aus Sicht eines Spitzels gut gewählt war, auch wenn er auf eine gewisse Paranoia hindeutete. Öffentliche Orte waren besser als dunkle Gassen oder Bars, und was könnte öffentlicher sein als der Parkplatz eines Einkaufszentrums? Das Licht wurde schwächer, aber es war noch nicht ganz dunkel. Wenn er ein cleverer Spitzel war, war er schon früher gekommen und konnte nun sehen, ob sie seine Anweisungen befolgten – und dass weder ihm noch ihnen jemand gefolgt war.

„Ist dein Mann immer so vorsichtig?“ Die Brise wurde stärker, heftiger und blies ihr das Haar ins Gesicht. Sie strich es zurück.

„Eigentlich schon. Die Geheimnistuerei gefällt ihm wohl genauso wie ab und zu eine kleine Finanzspritze, und … Scheiße.“

„Was ist?“ Lily blieb stehen, und ihr Herz schlug schneller. Dann begriff sie, wohin er sah. Auf ihre Hand. Insbesondere auf den Ring, den sie trug. „Oh, du meinst, du wolltest, äh …“

„Ich hatte es vor, ja. Ich meine, ein Lupus – das ist doch wohl nur vorübergehend.“

Lily musterte Cody argwöhnisch. „Dieser Ring bedeutet, dass es nicht so ist. Du wolltest doch nichts Dummes tun, oder?“

„Wie dich packen und dir einen Kuss geben?“ Cody ließ die Zähne blitzen, als er jetzt lächelte. „Vielleicht habe ich daran gedacht, ja, aber he, ich bin ein Cop. Ich kann Körpersprache lesen und deine sagt: ‚Vorsicht, schwarzer Gürtel‘.“

„Oh.“ Sie kam sich dumm vor. „Wie bist du darauf gekommen? Als wir zusammen waren, hatte ich noch keinen schwarzen Gürtel.“

„Du meinst, jetzt hast du einen? Scheiße, gut, dass ich mittlerweile vernünftiger geworden bin.“ Mit dem Unterarm fuhr er sich über die Stirn, eine Geste, die den Schweiß jedoch nur verteilte. „Wahrscheinlich sollte ich es als Kompliment verstehen, dass dein Freund es so eilig hatte, das Schild BETRETEN VERBOTEN anzubringen.“

BETRETEN VERBOTEN? Als wenn sie Eigentum wäre? Lily öffnete den Mund, um ihn wissen zu lassen, was sie von einer solchen Einstellung hielt – doch dann begriff sie, dass es ihr nicht wichtig war. Wirklich nicht. Vielleicht würde Cody sich sogar besser fühlen, wenn er dachte, Rule würde ihn als Bedrohung sehen. „Ja, wahrscheinlich.“

Er betrachtete sie lange. „Aber das hat er nicht, oder? Den Brilli hättest du auch schon früher tragen können. Hast du aber nicht.“

Sie musste lächeln. Cody war schon immer dann besonders gewinnend gewesen, wenn seine Vernunft stärker als sein Ego war. „Richtig. Wir haben auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um es bekannt zu geben, aber ich fand, dass man den richtigen Moment auch verpassen kann. Warum sollte ich ihn dann nicht tragen?“

Sein Mund verzog sich zu einem trockenen Lächeln. „Vielleicht wolltest du dein eigenes Schild anbringen. Da du mich gerade wiedergetroffen hattest und so. Du wusstest, dass dieser Ring dich gegen meine legendäre Anziehungskraft schützt. Äh – darauf musst du nicht antworten. Lieber nicht.“

Lily grinste und ging weiter in Richtung A12. In Wahrheit hatte sie an Rule gedacht, als sie den Ring angesteckt hatte, und nur an ihn. Na ja, an ihn und daran, dass sie Dreyer gerne ein blaues Auge verpasst hätte, wenn sie gekonnt hätte. „Ich werde dir nicht vorschreiben, was du denken sollst.“

„Dann hat sich aber einiges geändert.“

„Ich habe dir nie gesagt … Okay“, gab sie zu. „Manchmal schon. Aber ich war jung.“

„Jung, aber klug genug, um zu wissen, wann du aussteigen musstest. Reg dich nicht auf. Das meine ich ernst. Du hattest recht, mich zu feuern. Ich bereue vieles von dem, was ich getan habe, als ich noch getrunken habe, Lily. Ich war so dumm. Lass mich dir nur noch sagen, was ich am meisten bereue: dass ich dich habe ziehen lassen.“

Ihre Augenbrauen hoben sich. „Du hast mich gelassen?“

„Sei nicht so spitzfindig, Frau. Wenn ich in den Entzug gegangen wäre, sobald … Na ja, sobald ich wusste, dass du es ernst meinst. Du wärst zurückgekommen und hättest uns nicht aufgegeben. Das wusste ich damals genauso wie heute. Du bist der Typ, der nicht aufgibt.“

Ja, so war es. Sie hatte so gehofft, er würde genau das tun – um ihretwillen einen Entzug machen. Um ihrer beider willen. Diese Hoffnung aufzugeben, war sehr schmerzlich gewesen.

Schweigend gingen sie nebeneinander her. Jetzt befanden sie sich in einem geschäftigeren, volleren Teil, was Lily lieber war. Vorhin hatte sie sich zu ungeschützt gefühlt.

„Dann ist er wohl der Richtige für dich, dieser Turner, was?“, fragte Cody unvermittelt. „Keine Reue, keine Zweifel?“

Lily war immer ehrlich zu Cody gewesen. Auch jetzt. „Keine Reue. Keine Zweifel.“

Sein Mund wurde zu einem geraden Strich, aber nur für einen Augenblick. Dann setzte er wieder das großspurige Grinsen auf, das ihm so gut stand. „Dann hast du wohl endlich jemanden gefunden, der deiner Mutter noch weniger gefällt als ich.“

„Ich war nicht mit dir zusammen, um meine Mutter zu ärgern.“ Als sie begannen, miteinander auszugehen, hatte er gedacht, dass sie vor allem darauf aus sei, ihre Mutter zu schockieren. Das war auch Gegenstand ihres ersten Streites gewesen, wurde dann aber schnell zu einem privaten Scherz. „Das war nur ein angenehmer Nebeneffekt.“

Er lachte leise. „Hat sie dir wegen deiner Verlobung die Hölle heißgemacht?“

„Er ist kein Chinese“, sagte sie trocken. „Was glaubst du wohl?“ In Wahrheit war Julia Yu gar nicht auf herkömmliche Weise voreingenommen. Sie hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, spendete an Bürgerrechtsorganisationen und wählte stoisch demokratisch. Und sah keinen Widerspruch zwischen all dem und ihrem Beharren darauf, dass ihre Tochter einen anständigen chinesischen Jungen heiraten sollte.

Jetzt hatten sie den Abschnitt A12 erreicht und gingen hinter einem dunkelblauen Kastenwagen vorbei. Ein Trio von Mädchen im Teenageralter schlenderte plaudernd in der Mitte der Fahrspur, sehr zum Ärger eines weißen Mustang, der im Schritttempo hinter ihnen her kriechen musste. Und des Buick hinter ihm. Und des VW hinter dem Buick.

Vier oder fünf Parkplätze weiter vor ihnen stand ein roter Pick-up, aber aus diesem Winkel konnte sie das Nummernschild nicht sehen. „Ist das der Wagen?“, fragte sie.

„Ich glaube ja.“

Eine kurze Bewegung im Augenwinkel, mehr warnte sie nicht. Nur den Bruchteil einer Sekunde später – noch bevor sie wusste, was sie da gesehen hatte – rief sie: „Runter!“, machte einen Schritt nach links und wirbelte herum.

Die schwere Stahlkette peitschte durch die Luft, dort, wo eben noch Codys Kopf gewesen war. Er hatte sich zu Boden fallen lassen – und rollte jetzt gegen die Beine des hispanischen Brutalos, der mit der Kette nach ihm geschlagen hatte.

Der zu Boden ging. Die zwei, die hinter ihm standen, nicht. Einer hatte ein Messer, der andere einen Baseballschläger. Sie stürzten sich auf Cody, der mit dem, den er zu Boden geschlagen hatte, rang. „Polizei!“, brüllte Lily und zog ihre Waffe. „Waffen fallen lassen!“

Der Schuss eines Gewehrs antwortete ihr – hinter ihrem Rücken. Glas splitterte. Lily ging in Kauerstellung und sah sich hektisch um.

„Lass deine Waffe fallen, Schlampe!“, rief eine Männerstimme aus dem Buick. Ohne Zweifel gehörte sie zu dem, der auch den Gewehrlauf durch das halb geöffnete getönte Hinterfenster hielt. Lily versuchte, etwas zu erkennen, aber sie konnte kaum die Gestalt hinter dem Gewehr sehen.

Die Mädchen schrien und stoben auseinander – eine rannte direkt zwischen Lily und ihrem Ziel hindurch, verdammt. Der Mustang, der jetzt freie Bahn hatte, gab Vollgas, und der VW schoss mit einem Ruck zurück.

„Lass sie fallen!“, schrie es aus dem Wagen. „Du bist so was von tot, Schlampe, wenn du deine Waffe nicht sofort fallen lässt!“

Aber ihre Waffe lag Lily gerade jetzt sehr am Herzen, deswegen gab sie einen schnellen Schuss ab. Er ging daneben, verschaffte ihr aber eine Sekunde, um sich umzudrehen und – oh, Scheiße.

Eigentlich hatte sie sich zwischen den Kastenwagen und den Honda daneben werfen wollen, aber der Platz war schon besetzt – von drei weiteren Gangstern, die in einer Reihe auf sie zukamen. Und grinsten. Einer hatte eine Pistole – eine Glock vielleicht. Ob und wie die anderen bewaffnet waren, konnte sie nicht mehr erkennen.

Der schwarze Wolf schien aus dem Nichts zu kommen, so schnell war er. Sie warf sich zu Boden. Er sprang über sie hinweg, direkt auf die Männer zu. Zwei Schüsse fielen – einer aus dem Gewehr, einer von der anderen Seite des Kastenwagens. Sie hoffte inständig, dass das bedeutete, dass Cody es geschafft hatte, seine Waffe zu ziehen.

Schreie – von der anderen Seite des Kastenwagens, hinter ihr. Sie überließ es dem Wolf, ihr Rückendeckung zu geben, erhob sich auf ein Knie und spähte wieder nach der schattenhaften Gestalt in dem Buick. Sie drückte den Abzug.

Glas splitterte. Ein erstickter Laut, nicht laut genug, um ihn einen Schrei nennen zu können. Ruhig schwenkte sie den Lauf auf den Fahrer. „Lass es. Glaub nicht, du kommst hier weg. Öffne die Tür und steig ganz langsam aus.“

„Hol ihn runter“, schrie jemand. „Hol ihn runter von mir!“ Jemand anders fluchte und schluchzte. Und jemand knurrte, tief in der Brust.

Nein, es waren zwei. Auf jeder Seite des Kastenwagens einer.

„Cody!“, rief sie, ohne den Buick aus den Augen zu lassen, dessen Fahrertür nun langsam aufging. „Bist du verletzt?“

„Ein paar blaue Flecken und ein bisschen Blut, aber einsatzfähig. Dein Freund hält einen in Schach, und ich kümmere mich um die anderen. Einer ist angeschossen, aber nicht schlimm.“

„Auf den Boden. Sofort, verdammt!“, fuhr sie den Fahrer an – ein schlaksiger Bursche, vielleicht neunzehn Jahre alt, vielleicht noch jünger, mit fettigem schwarzem Haar und viel Weiß um die Pupillen. Er ließ sich auf den Beton fallen.

„Gut so“, sagte sie, sich langsam erhebend. „Die Arme nach vorn. Halten Sie still. Ich bin ein bisschen nervös. Sie wollen doch nicht, dass ich mich erschrecke.“ Vorsichtig näherte sie sich dem Wagen. Der Fahrer hatte die Tür offen gelassen und die Innenraumbeleuchtung war an. Der Wagen sah leer aus. War der, auf den sie geschossen hatte, tot, bewusstlos, oder kauerte er irgendwo und wartete darauf, dass sie näher kam?

Der Fahrer gehorchte und rührte sich nicht. Sie schob sich nahe genug an den Wagen, um einen Blick durch die zerbrochene Scheibe zu werfen.

Nein, er wartete nicht auf sie. Entweder war er bewusstlos oder tot – in jedem Fall war er momentan aus dem Spiel. Sie wagte es, einen schnellen Blick zurück über ihre Schulter zu werfen.

Der schwarze Wolf stand zwei Gangstern gegenüber, knurrend. Wie erstarrt standen sie da und bewegten keinen Muskel. Der Dritte lag reglos auf dem Bauch. In dem schlechten Licht konnte sie nicht erkennen, ob er noch lebte, aber um ihn herum hatte sich eine Pfütze aus einer glänzenden Flüssigkeit gebildet.

Plötzlich ertönte eine Sirene, ganz in der Nähe. Bald würden sie hier sein.

„Cody, kannst du deine Gefangenen hier zu uns bringen? Und, äh, Jacob – ich glaube, du bist es doch, oder? Du kannst deine Beute jetzt aufstehen lassen.“

„Na gut, ihr habt gehört, was sie gesagt hat. Bewegt euch langsam und vorsichtig. Oh, seht mal, der arme Junge hat sich eingenässt.“ Cody lachte böse. „Hast dich wohl erschreckt, als der große böse Wolf dich angesprungen hat, was? Komm schon, heul nicht. So schlimm ist deine Verletzung nicht. Das war doch nur eine kleine Kaliber 22.“

Irgendwann während der Schießerei war aus der Dämmerung Nacht geworden, aber die Lampen auf dem Parkplatz gaben genug Licht, sodass sie ohne Mühe die drei Gangster sehen konnte, die hinter dem Kastenwagen auftauchten. Einer humpelte – und ja, da war ein dunkler Fleck vorne auf seinen Jeans. Einer hielt sich den Arm, von dessen Bizeps Blut rann. Der dritte sah unverletzt aus.

Lilys Herz schlug schnell und unregelmäßig. Sie wusste, später würde sie wegen des unverbrauchten Adrenalins am ganzen Körper zittern. Später würde sie noch etwas anderes fühlen als Erleichterung, dass niemand mehr auf sie oder Cody oder auf jemand anderen schoss. Später würde sie alles Mögliche fühlen.

Jetzt allerdings fühlte sie sich wunderbar. Die Brise war stärker und frischer geworden. Sie fühlte sich gut auf der Haut an. Richtig gut. Sie war am Leben, und das war ein schönes Gefühl.

Cody folgte seinen Gefangenen mit der gezückten Waffe. Der Wolf – ein grau-braunes Tier – bildete das Schlusslicht. Als Cody sie anwies, sich neben den Fahrer zu legen, verlieh der Wolf seinen Worten mit einem Knurren zusätzlich Nachdruck.

Sie widersprachen nicht. Cody redete mit Lily, ohne den Blick von den Gangstern auf dem Boden abzuwenden. „Ich dachte, dein Freund heißt Rule.“

„So heißt er auch.“ Ein Paar Scheinwerfer raste durch die Fahrspur auf sie zu, viel zu schnell. „Das ist nicht mein Freund. Keiner von beiden.“

Codys Augen wurden groß. „Keiner …“

Lilys Lippen zuckten, als sie begriff, dass Cody nicht gewusst hatte, dass es zwei Wölfe waren. „Nein.“

Endlich trat der Fahrer hinter den hellen Scheinwerfern auf die Bremse. Reifen quietschten, als der Mercedes drei Meter vor ihnen ruckend zum Stehen kam. Mit einem Nicken zeigte sie auf das Auto, als die Tür aufflog. „Das ist er.“

Minuten später wimmelte es nur so von Polizisten. Zwei Mietcops aus dem Einkaufszentrum – eine Bezeichnung, die Rule wohlweislich nicht laut aussprach, weil Lily Anstoß daran nahm. Denn oftmals übernahmen Polizisten im Ruhestand oder außer Dienst diese Jobs –, drei Streifenwagen und ein Deputy waren erschienen. Ihre Blinklichter tauchten die Umgebung in rosiges Licht, ein Kontrapunkt zu den Scheinwerfern der beiden Rettungswagen. Ein Detective, hatte man ihm gesagt, sei auf dem Weg, sowie auch der Gerichtsmediziner.

Der Mann, auf den Lily geschossen hatte, lebte noch. Er wurde gerade in den ersten Rettungswagen geschoben. Der, den José angesprungen hatte, lebte nicht mehr. José hatte ihm die Kehle durchgebissen.

Rule hatte eine Kurzfassung der Ereignisse zu hören bekommen, als Lily mit knappen Worten dem Officer Bericht erstattete, der als Erster am Tatort erschienen war. Er hatte zugesehen, wie sie ihm ihre Waffe übergeben hatte – was ihn geärgert hatte. Doch sie nahm es locker. So war die Vorschrift, hatte sie gesagt, wenn Schüsse abgegeben worden waren. Außerdem, hatte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzugefügt, hatte sie ja immer noch die Waffe im Knöchelholster. Cody Beck hatte ebenfalls die Waffe, mit der er geschossen hatte, ausgehändigt, besaß aber noch seine Dienstwaffe.

Jacob hatte sich bereits wieder zurückgewandelt und wurde gerade von einem Officer befragt. José war immer noch in Wolfsgestalt. Er brauchte stets mehr Erholung zwischen den Wandelvorgängen.

Rule ging vor José in die Hocke.

Der schwarze Wolf saß steif da und sah seinen Lu Nuncio nicht direkt an. Der Geruch von Blut hing an ihm. José war ein kräftiger und fähiger Kämpfer, der nicht nur über eine ausgezeichnete Selbstkontrolle verfügte, sondern auch über die drei Dinge, die ein Krieger braucht: taktisches Geschick, gesunden Menschenverstand und Menschenkenntnis. Deshalb hatte Benedict ihm auch die Leitung der Bodyguards anvertraut.

Aber heute hatte er zum ersten Mal einen Menschen getötet.

„Du hast richtig gehandelt“, sagte Rule, so leise, dass keiner der Menschen um sie herum ihn hören würde. „Du hast die Situation eingeschätzt und so reagiert, wie du es gelernt hast. Drei Angreifer, alle bewaffnet – du musstest sie schnell unschädlich machen, sonst hättest du das Leben meiner nadia aufs Spiel gesetzt. Indem du den mit der Waffe ausgeschaltet hast, hast du den anderen Angst eingeflößt, sodass sie aufgegeben haben. Lily hat darauf vertraut, dass du ihr Rückendeckung gabst. Du hast sie nicht im Stich gelassen.“

Der schwarze Wolf hob den Kopf ein wenig. Er sah Rule eine Sekunde lang in die Augen, dann wieder weg. Er senkte den Kopf zu einem leichten Nicken.

Rule begann zu subvokalisieren – leise tief in der Kehle zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. „Du musst sagen, dass Lily dir signalisiert hat, du sollst angreifen. Sie hat gesehen, dass du ihr gefolgt bist, und als die Schießerei anfing, hat sie dir dieselben Zeichen gegeben wie ich, wenn ich hier gewesen wäre.“

José stellte die Ohren auf. Er nickte wieder.

Rule hob die Stimme zu normaler Lautstärke an. „Bist du jetzt bereit, dich zu wandeln? Die Officers würden gerne deine Aussage aufnehmen.“ Er trat zurück.

Rule wusste, dass Lily nicht sehen konnte, was während des Wandels geschah. Er fragte sich, ob es daran lag, dass sie es nicht schon von klein auf hatte beobachten können, so wie er. Er hatte gelesen, dass der visuelle Kortex eines Menschen, der von Geburt an blind war, die Wahrnehmungen der anderen Sinne verarbeitete und deswegen nicht für visuelle Reize zur Verfügung stand. Vielleicht würde Lilys Gehirn es irgendwann lernen, diese Art des Sehens ebenfalls zu verarbeiten.

Vielleicht auch nicht. Rule sah zu, wie José die Tür zu einer anderen Realität öffnete, in der Mond und Erde eins waren, so wie auch der Wolf und der Mensch eins waren. In diesen wenigen Sekunden sah er Josés beide Gestalten im selben Raum, zur selben Zeit. In diesen wenigen Sekunden fügte sich alles perfekt zusammen.

Und dann war José nur noch Mann, und der Wolf war nicht mehr. Rule reichte ihm die abgeschnittene Jeans, die er aus seinem Kofferraum geholt hatte. Die würde fürs Erste reichen.

Lily hatte mit einem Officer gesprochen. Die beiden kamen jetzt näher. Lily sah José an – oder besser gesagt, sein Gesicht. Lily fühlte sich nie ganz wohl in Gegenwart der Nacktheit anderer, und José zog sich gerade die Jeans hoch. „José, dies ist Officer Munoz. Er muss dir einige Fragen stellen.“

José sah den jungen Streifenpolizisten an, der seine bedeutungsvollste Miene aufgesetzt hatte: Nur die Fakten bitte, Ma’am oder Sir. José nickte in seiner jetzigen Gestalt auf die gleiche Art wie in der anderen. „Na dann.“

Lily bedeutete Rule mit einem leichten Rucken ihres Kopfes, mit ihr mitzukommen. Er folgte ihr.

In ein paar Metern Entfernung von dem nächsten Officer blieb sie stehen. „Hast du ihm gesagt, er soll sagen, ich habe ihm ein Zeichen gegeben?“

„Ja, habe ich. Äh – falls du danach gefragt wirst: Du hast die Geste gemacht, die ich dir beigebracht habe.“ Er machte eine verstohlene Bewegung mit der Hand – die Handfläche schräg gestellt, senkrecht zu seinem Körper, die Finger eng zusammen und ausgestreckt. Zwei schnelle Hiebe durch die Luft. Das war das Standardsignal der Nokolai für Angriff. Er hatte Jacob schon angewiesen, dasselbe zu sagen.

Lily war erleichtert. „Gut. Das ist ja keine richtige Täuschung. Wenn ich gewusst hätte, dass sie da waren, hätte ich ganz sicher das Signal gegeben.“

Rule war schon auf halbem Weg in die Stadt gewesen, als ihm klar geworden war, dass er es nicht nach Hause schaffen würde, bevor Lily zu ihrem Treffen aufbrach. Da hatte er beschlossen, doch auf den Rat seines Vaters zu hören und José anzurufen, dem er sagte, er wolle nicht, dass Lily merkte, dass sie bewacht wurde.

Das Band hatte Rule gesagt, wohin er fahren musste, und das Oceanview-Einkaufszentrum war näher am Stadtrand als seine Wohnung, deswegen kam er gerade noch rechtzeitig, um Schüsse zu hören. Kampfbereit war er aus dem Wagen gesprungen – aber der Kampf war schon vorbei gewesen.

Er war zu Lily gerannt, hatte sie abgetastet und gefragt, ob sie verletzt sei. Sie hatte es zugelassen. Ja, einen Moment lang hatte sie sich sogar an ihn geklammert – und ihm ins Ohr geflüstert, er solle seinen Leuten sagen, dass sie auf ihr Zeichen hin gehandelt hätten.

„Wird der Deputy das bestätigen?“, fragte er.

„Von dort, wo er war, konnte er nichts sehen, also spielt es keine Rolle.“

„Glaubst du denn, es ist nötig? Meine Leute haben nicht mehr Gewalt eingesetzt, als notwendig war. Sie haben dein Leben gerettet und vermutlich auch das des Deputy.“

„Ich würde mir gerne einreden, dass mir schon etwas eingefallen wäre, wenn sie nicht eingegriffen hätten. Es waren viele Angreifer, aber sie waren nachlässig. Sie haben mich wohl nicht für eine ernst zu nehmende Bedrohung gehalten, sonst hätten sie mich einfach erschossen, statt mit der Pistole herumzufuchteln und herumzubrüllen. Aber natürlich haben Jacob und José heute einigen das Leben gerettet. Entweder meins oder das der Angreifer, weil mir nichts anderes übrig geblieben wäre, als sie zu erschießen.“

„Das ist laut Gesetz Grund genug für Gewaltanwendung.“

„Aber so werden die Leute von Lupi lesen, die auf das Signal einer FBI-Agentin hin angegriffen haben. Einer menschlichen FBI-Agentin. Sie werden gar nicht daran denken, wie groß und bedrohlich ihr Lupi seid, weil diese Wölfe unter dem Befehl eines Menschen standen, der zur Anwendung von Gewalt befugt ist. Das ist wie mit Waffen. Wenn die Leute von einem Irren lesen, der Amok läuft und wahllos in die Menge schießt, sind Schusswaffen bedrohlich. Wenn ein Polizeischarfschütze einen Geiselnehmer ausschaltet, denken sie nicht: ‚Oh, Waffen sind bedrohlich.‘“

Langsam erschien ein Lächeln auf Rules Gesicht. „Das ist PR.“

„He, keine Beleidigung!“

„Ich warte darauf, dass du mich fragst, was ich mir dabei gedacht habe, dir die Wachen hinterherzuschicken, ohne dich zu informieren.“

Sie schnaubte. „Das ist doch wohl offensichtlich. Aber trotzdem – das ist eine gute Frage. Wenn du einen handfesten Grund für deine Sorge gehabt hättest, hättest du mich angerufen. Dann war es wohl nur deine innere Stimme? Oder weil ich mich mit Cody getroffen habe und du mir nicht hundertprozentig vertraust?“

„He, keine Beleidigung.“

Sie lächelte und strich ihm leicht und schnell über die Hand. „Ja, aber ein kleines Körnchen Wahrheit steckt doch drin, oder?“

„Glaubst du wirklich, wenn ich dich verdächtigen würde, mich zu, äh, hintergehen, würde ich dir zwei von meinen Leuten hinterherschicken, damit sie dich auf frischer Tat ertappen?“

„Wenn du es so ausdrückst – nein.“

„Gut.“ Trotzdem fühlte Rule sich nicht ganz wohl. Er hatte nicht gelogen. Er vertraute Lily – aber er ahnte, dass die Tatsache, dass es gerade Beck gewesen war, mit dem sie sich treffen wollte, der Grund war, dass ihm dieses Treffen nicht aus dem Kopf gegangen war. Vielleicht hatte das seine Unruhe noch gesteigert. Woher sollte er das wissen?

Aber das war jetzt unwichtig, entschied er. Er mochte sich nicht klar über seine Gefühle sein, aber er war sich sicher, das Richtige getan zu haben. Er benahm sich nicht wie ein eifersüchtiger Mann, also –

„Dann brauche ich dir wohl auch nicht zu erzählen, dass Cody gesagt hat, mein Ring sei dasselbe wie ein großes Schild mit der Aufschrift BETRETEN VERBOTEN.“

„Gut.“

Lily legte den Kopf schief. „Ach?“

„Du glaubst, ich sei eifersüchtig?“

Ein Mundwinkel hob sich. „Ja, das glaube ich.“

„Das bin ich nicht. Vielleicht ist es so etwas Ähnliches wie Eifersucht, aber ich weiß, du würdest nicht einfach deinen Gefühlen nachgeben, wenn du welche hättest, aber –“ Er brach ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Verdammt, Lily, er bedeutet dir etwas. Das höre ich an deiner Stimme.“

Sie ergriff seine Hand und suchte seinen Blick. „Viele Menschen bedeuten mir etwas. Aber ich bin nicht in sie verliebt. Ich liebe dich. Cody … Ich glaube, das, was du gehört hast, ist das Unbewältigte zwischen uns. Unsere Beziehung ist nicht gut zu Ende gegangen, da gibt es so viel zu bereuen. Die Art, wie ich mich verhalten habe – und nicht etwa, dass ich Schluss gemacht habe. Wie könnte ich das bereuen? Ich habe ja jetzt dich.“

Ein enger, dunkler Ort in Rule öffnete sich und gab etwas Schweres frei, das er nicht benennen konnte. Diese dunkle Masse stieg in die Luft, wurde zu Nebel und löste sich auf. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Hand, die er hielt, trug seinen Ring. Er strich mit dem Daumen darüber. „Und ich habe dich.“

„Das hört sich aber ganz schön besitzergreifend an.“

Und sie hörte sich ganz schön belustigt an. Es machte ihm nichts aus.

Interessanterweise wählte Beck gerade diesen Moment, um sich zu ihnen zu gesellen. Er sah, dass sie sich an den Händen hielten, und sprach dann Lily an, als wäre Rule gar nicht da. „Ich habe die Fahndung nach Javier eingeleitet. Ich verstehe das einfach nicht. Uns so in die Falle zu locken, das sieht ihm gar nicht ähnlich.“

„Wahrscheinlich hat er ein Angebot bekommen, das er nicht ausschlagen konnte.“ Sie sah Rule an und bezog ihn in das Gespräch mit ein. „Kurz bevor ich hierher kam, bekam ich einen Tipp von jemandem, der weiß, wovon er spricht. Unser Täter hat schon zwei kleine Gangs übernommen und will mehr. Laut meiner Quelle will er alle kriminellen Operationen in San Diego übernehmen. Ich möchte wetten, diese Clowns sind von einer der Gangs, die er bereits geschluckt hat.“

„Ich weiß nicht“, sagte Beck. „Dieses Ungeziefer hier waren Soldados. Eine kleine Gang, brutal, ehrgeizig und sehr auf ihr Revier bedacht. Ihr Anführer ist Cruz Montoya. Er wird niemals irgendeinem Newcomer die Kontrolle überlassen.“

„Wenn er sich geweigert hat, ist er wahrscheinlich tot. Dieser Täter ist anders als die, mit denen wir es sonst zu tun haben, Cody. Falls … Sieht so aus, als wäre der Detective angekommen. Ich muss mit ihm sprechen – nein, Mist, da muss ich dran.“ Sie zog ihr Telefon hervor.

Rule erkannte den Klingelton. „Müsste Ruben nicht noch in der Luft sein?“ Er glaubte sich zu erinnern, dass Ruben erst so um zehn Uhr landen sollte.

Sie nickte und meldete sich: „Lily Yu.“

Rule hörte Brooks Stimme laut und deutlich. „Lily, Ihre Familie ist in großer und unmittelbarer Gefahr. Das ist alles, was ich weiß, aber ich bin mir ganz sicher.“