22

Im Moment nannte er sich Johnny Deng. Ihm gefiel das Nebeneinander von Ost und West, und Johnny war ein freundlicher Name, viel freundlicher als John. Schließlich war er auch ein freundlicher Mensch.

In all den Jahren hatte er viele Namen gehabt. Oft verwendete er in irgendeiner Form einen der Buchstaben aus seinem ursprünglichen Namen. Seine Wurzeln sollte man nicht vergessen. Oft, nicht immer. In seinem aktuellen Vornamen kamen seine Wurzeln nur ganz allgemein zum Ausdruck.

Manchmal vermisste er China, aber nicht das China von heute, obwohl er sich nostalgische Gedanken nur selten erlaubte. Dann wurde er nur unglücklich.

Europa hatte ihm gefallen. Dort hatte man Sinn für die Vergangenheit, und die offenen Grenzen und die uneinheitlichen Polizeisysteme waren gut für seinen Handel. Aber seine Liebste konnte in Europa nicht froh sein, wenn ihre Feinde glücklich und zufrieden in den USA lebten. Als die Wende kam und die Magielevel anstiegen, hatte sie sich entschieden, ihre Pläne umzusetzen.

Er fand es nicht schlimm. Die USA, Kalifornien und die moderne Welt hatten auch viel für sich. Er liebte Videospiele, vor allem Grand Theft Auto. Ihm wäre zwar San Francisco lieber als San Diego gewesen, aber hier gab es mehr Menschen, an denen seine Liebste sich nähren konnte, selbst jetzt, obwohl sie noch geschwächt war. Außerdem gab es hier eine große asiatische Gemeinde, in der er untertauchen konnte, und etablierte Gangs, die er nutzen konnte. Sein Beruf verschaffte ihm Zutritt zu ihnen.

Das öffentliche Verkehrssystem entsprach zwar eigentlich nicht seinen Anforderungen, anders als das von London und Paris, aber für seine aktuellen Zwecke reichte es. Der Bus würde direkt vor dem Krankenhaus halten, auch wenn er bis dahin zweimal umsteigen musste.

Nachdem der Bus langsam vorgefahren war und angehalten hatte, stieg er ein. Alles, was er brauchte, befand sich in einer weißen Einkaufstüte. Nach einigen Überlegungen hatte er sich entschlossen, auf Nummer sicher zu gehen. Seine Zielperson hatte ihn schon einmal verblüfft, als sie sowohl den Stich als auch den Zauber überlebt hatte. Er durfte nicht davon ausgehen, dass seine anderen Zauber bei Lupi genauso wunderbar wirkten wie bei Menschen. Oder dass es dem Zauberer zu schlecht ging, um wirksame Banne zu errichten. Eigentlich müsste es so sein – aber andererseits müsste er ja auch eigentlich schon längst tot sein.

Er kaufte eine Tageskarte beim Fahrer und nahm Platz. Es war voll, und die Frau neben ihm begann ein Gespräch über das Wetter. Johnny stimmte ihr zu, dass es sehr heiß war, und zog dann mit einer Entschuldigung sein Telefon hervor und gab vor, ein paar Anrufe erledigen zu müssen.

Freundlich zu sein, war gut, aber nicht so, dass man sich später an ihn erinnern konnte.

Außerdem war die Frau zu groß. Er mochte keine großen Frauen. Wenn die Stadt einmal ihm gehörte, würde er keine Frau über einen Meter sechzig in seiner Nähe dulden. Er überlegte, ob das auch für Männer über einer bestimmten Größe gelten sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es wenig zweckdienlich wäre und entschied sich, einigen seiner Untergebenen zu gestatten, größer zu sein als er.

Johnny war stolz auf seinen Sinn für Zweckdienliches. Sinn für das Praktische, Geduld und Toleranz – das waren seine Haupttugenden. Immerhin war er der Frau nicht böse, weil sie so groß war. Dafür konnte sie ja nichts. Stattdessen hatte er sich schon auf den Tag gefreut, an dem unangenehm große Frauen nicht mehr Teil seines täglichen Lebens sein würden.

Außerdem war er ein bescheidener Mann. Wie sollte ein Mann erfolgreich sein, wenn er nicht seine eigenen Grenzen kannte? Er zum Beispiel wusste, dass er nicht besonders intelligent oder mutig war. Aber er war auch nicht dumm oder feige. Als er jung war, hatte er geglaubt, man müsse entweder das eine oder das andere sein. Jetzt wusste er, dass dies nur die jeweiligen Endpunkte – Hinweisschilder, könnte man auch sagen – eines langen Weges waren. Die meisten Leute befanden sich irgendwo zwischen diesen beiden Schildern und nicht an dem einen oder dem anderen Ende. Im Laufe des Lebens kam man vielleicht ein wenig dem einen oder dem anderen Schild näher, aber an der naturgegebenen Position konnte man nicht viel ändern.

Er verstand auch, dass er in zweierlei Hinsicht außergewöhnlich war. Eine Laune der Natur hatte es gewollt, dass er die Gabe ererbt hatte, Magie zu sehen und zu nutzen. Zauberei war selten und wertvoll, aber er bildete sich nichts auf diese Fähigkeiten ein, so wie er sich auch keine Schuld dafür gab, dass er nicht sehr intelligent war. Weder das eine noch das andere hatte er selbst verursacht. Er war einfach so geboren worden.

Johnnys zweiter außergewöhnlicher Zug war weniger offensichtlich – in der Tat war er für die meisten Menschen unsichtbar und wurde allgemein als krank oder pervers bezeichnet. Ein Vorurteil natürlich, aber die meisten Menschen waren leider recht beschränkt. Ging es nach ihnen, trügen Gut und Böse die Farben Weiß und Schwarz, um sie einfacher auseinanderhalten zu können. Nur wenige verstanden, wie dehnbar diese Eigenschaften waren. Moralisches Verhalten hing immer von den Umständen ab.

Historiker sollten dies längst begriffen haben, wenn schon nicht die unaufgeklärte Masse. In wie vielen Zeitaltern und Kulturen war Folterung von Feinden zulässig, ja, sogar richtig gewesen? In manchen Kulturen war es verpönt, Tierfleisch zu essen, in anderen wiederum wurden Jäger verehrt. Und wie viele unterschiedliche Vorstellungen über ein gesundes Sexualverhalten es gab!

Und doch hielten die Menschen an der Idee fest, dass manche Handlungen von Natur aus gut waren und dass der, der sie ausführte, dadurch gut wurde. Andere waren von Natur aus böse, und sie wurden nur von Bösen begangen.

Und war nicht Englisch in mancher Hinsicht eine ausdrucksstarke Sprache? Der Gedanke war Johnny schon oft gekommen, seitdem er die Sprache gelernt hatte, und er hatte ihn immer wieder aufs Neue amüsiert. Man verschrieb sich dem Bösen, nicht dem Guten. Gutes wurde einfach getan. Handelte man, als sei man gut, war man es auch, zumindest in den Augen der anderen.

Aber die Menschen unterschieden sich nicht gern von ihren Artgenossen. Selbst jetzt, obwohl sie so viele faszinierende Dinge über das Gehirn herausgefunden hatten, behaupteten die Wissenschaftler immer noch, Anomalien seien Makel, Fehler, Probleme, die behoben werden müssten.

In Anbetracht seiner zweiten außergewöhnlichen Eigenschaft hatte Johnny sich schon immer für solche Dinge interessiert. Er hatte viele populärwissenschaftliche Berichte über Hirnforschung und Psychologie gelesen und sehr zufrieden festgestellt, dass er nicht das war, was die Fachleute einen Psychopathen nannten. Was auch immer in seinem Hirn falsch verkabelt war, es hielt ihn nicht davon ab, tiefe emotionale Bindungen einzugehen.

Von Psychopathen sagte man auch, ihnen mangele es an Empathie. Das war ganz sicher bei ihm nicht der Fall. Wie hätte es ihm sonst so viel Freude bereiten können, jemandem Schmerzen zuzufügen oder sie zu empfinden, wenn er unfähig wäre, die Gefühle anderer nachzuempfinden?

Ohne Zweifel hätte er die allgemeine Auffassung geteilt, wenn er „normal“ gewesen wäre. Als er mit seiner weißen Einkaufstüte aus dem Bus stieg, lachte Johnny leise. Außerdem wäre er schon lange tot, wenn er ohne seine andere außergewöhnliche Eigenschaft geboren worden wäre. Seine Schöne hätte sich nicht in ihn verliebt, wenn er unfähig gewesen wäre, die köstlichen Freuden zu schätzen, die sie ihm zu bieten hatte.

Johnny setzte sich auf die harte Bank, um auf den nächsten Bus zu warten. So viele hatten seine Schöne schon enttäuscht. Es war nicht ihre Schuld gewesen, denn sie konnten ja nichts dafür, dass ihr Gehirn nicht so wie seines die Verbindung zwischen Schmerz und Genuss herstellen konnte. Aber er fand es traurig, dass seine zweite Gabe so selten war und so wenig geschätzt wurde.

Aber nicht von der, die wirklich von Bedeutung war. Sie liebte und schätzte ihn so leidenschaftlich wie er sie. Er schuldete ihr so viel. Sie sagte, dass Schuld da, wo Liebe war, keinen Platz hatte, aber sie war ja auch nicht menschlich. Johnny betete sie an, ehrte sie und fürchtete sie, aber sie war nicht menschlich, und manchmal verkannte oder unterschätzte sie, wozu Menschen in der Lage waren.

Deswegen war er heute ohne sie hier. Eine der weniger menschlichen Eigenschaften seiner Liebsten war ihre Art zu schlafen. Während sie schlief, wurde sie schwächer und verlor ihre Körperlichkeit – doch sie hatte ihm versprochen, dass sich das ändern würde, wenn sie sie vollständig errungen hätte. Als sie sich kennenlernten, hatte sie die meiste Zeit geschlafen. Jetzt brauchte sie weniger Schlaf als er, wusste aber nie, wann sie das Bedürfnis zu schlafen überkam oder wie lange der Schlaf andauern würde. Sie konnte einen Tag lang schlafen oder eine Stunde und dann einen ganzen Tag oder auch eine ganze Woche lang wach bleiben.

Jetzt schlief sie. Wenn sie aufwachte, würde sie böse auf ihn sein, oh ja, und der Gedanke an ihren Zorn ließ ihn erzittern. Aber sie hatte unrecht, so einfach war das.

Er musste sich jetzt um den Zauberer kümmern. Denn soweit Johnny wusste, konnte der Mann viel zu gut mit Feuer umgehen.