38
Der Schmerz und die Wonne des Wandels wirbelten durch Rule. Als es vorbei war, stand er auf zwei Beinen und nackt im Matsch, der klebrig war von Blut. Er ergriff eine der Waffen, die auf dem Boden lagen – ein Sturmgewehr und für ihn der Grund, warum er sich gerade hier gewandelt hatte. Das Modell kannte er nicht, aber es ähnelte hinreichend seinem eigenen. Er gab ein paar schnelle Schüsse ab.
Der Mann am Fenster, der auf sie geschossen hatte, kippte nach hinten. „Carl!“, rief Rule einem Wolf zu, der auf das Fenster zurannte, offensichtlich mit der Absicht, hineinzuspringen. „Falsche Richtung! Geh und hol das verdammte Päckchen.“
Carl kam schlitternd zum Stehen, fuhr herum und rannte in die andere Richtung.
Als jemand begann, aus dem Haus zu feuern, ließ sich Rule zu Boden fallen und rollte herum, bis er unter dem Klapptisch war, auf dem sich immer noch die Spielkarten und Bierdosen befanden. Aber der Tisch bot ihm keine gute Deckung. „Remy, Jones – ihr übernehmt. Wandelt euch. Wir brauchen Waffen, um sie zu beschäftigen bis Carl zurückkommt.“
Mike rief er nicht zu sich. Mike lag still und reglos im schmutzigen Matsch. Einer der Gangster hatte Glück gehabt – kurz. Sehr kurz.
Rule gab ein paar weitere Schüsse ab, das Gewehr von links nach rechts ziehend, um den anderen Deckung zu verschaffen, während sie sich wandelten. Remy war fast so schnell wie er, aber Jones brauchte ein bisschen länger.
Kurz darauf stand ein nackter Mann mit irisch-blasser Haut da, gut sichtbar für alle – doch nur wenig länger als eine Sekunde. Dann ließ er sich zu Boden fallen, rollte herum, kam mit einer SIG Sauer ganz wie der von Lily zum Vorschein, zielte und feuerte schnell hintereinander zwei Schüsse ab. Hinter der Hausecke hatte Jones seine Umwandlung beendet und hechtete nach der nächsten Waffe – eine Maschinenpistole in der Hand eines Toten.
Ein großer gelbbrauner Wolf lief zu Rule und ließ ein kleines mit Luftpolsterfolie eingeschlagenes Bündel aus seinem Maul vor seine Füße fallen.
„Gut.“ Rule riss die Folie auf. Darunter kamen zwei Granaten zum Vorschein. Sie waren nahe dem Schutzbann versteckt gewesen, damit sie sie jetzt hatten holen können. Er hob die Stimme. „Du da in dem Haus! Du hast zehn Sekunden, um dich zu ergeben! Wirf deine Waffen heraus!“
Auf der anderen Seite des Hauses flammte ein Feuer auf. Und erlosch. Etwas Weißes und fast Transparentes schwebte über ihnen.
Die Erde erzitterte und schrie, stieß gegen seinen Bauch, dort, wo er lag. Er hob den Kopf, um über seine Schulter zu sehen – und sechs Meter neben ihm sackte ein rechteckiges Stück Boden weg und brach in sich zusammen wie ein Sinkloch.
„Remy! Übernimm du!“ Schon war er auf den Beinen und rannte geduckt los. Es war reines Training, kein bewusster Gedanke. So wie auch die Tatsache, dass er im Zickzack lief. Die Kugeln, die die Erde neben ihm aufspritzen ließen, bemerkte er kaum.
Am Rand der Grube angekommen, ließ er sich fallen. Sie lebt, sie lebt. Ich kann sie spüren … Aber so zerbrechlich, so menschlich, unter all dieser Erde und den zusammengebrochenen Wänden.
Sehr vorsichtig kletterte er hinab – nicht weil er an seine eigene Sicherheit dachte, sondern weil er Angst hatte, etwas ins Rutschen zu bringen. Er wusste, wo sie war, ganz genau. Sollte er sich wieder wandeln? Ein Wolf konnte sich gut durch Erde graben, hatte aber keine Hände, um die großen Steine beiseitezuräumen.
Erst die Hände, schnell. Er ging auf Knie und Hände – hätte sich sogar am liebsten ganz flach ausgestreckt, um sein Gewicht besser zu verteilen, aber die Stelle über ihr war zu uneben. Er begann zu graben, Erde und kleine Steine mit den Händen schaufelnd.
Als der Boden sich unter ihm bewegte, schrie er vor Wut und Enttäuschung auf.
Ein Loch tat sich auf, genau an der Stelle, wo er gegraben hatte. Ein kleiner grauer Kopf lugte heraus und sah sich um – zwinkerte, als er Rule erblickte – und verschwand wieder.
„Warte!“, rief Rule. „Warte! Ist Lily –“
Dann packte eine sehr menschliche Hand nach dem Rand der kreisrunden Öffnung. Noch eine Hand. Rule beugte sich vor, griff nach ihren Händen, stand auf und zog.
„Au! Mist! Zieh!“, rief Lily. Ihr Kopf erschien, staubig und braun. Sie blinzelte sich die Augen frei. Er ließ eine Hand los, um ihr den Arm um die Schulter zu legen und sie besser packen zu können. Sie zappelte – und die Erde gab sie frei.
Fest umschlungen fielen sie auf die bröckelnde Erde. „Das war eng“, sagte Lily. „Viel zu eng. Er kennt nur eine Größe für Tunnel, und das ist seine eigene. Er hat mir das Leben gerettet.“
„Dir geht es gut?“ Hastig tastete Rule sie ab. „Du bist nicht verletzt?“
„Ein paar Kratzer und blaue Flecke, das ist alles.“ Sie hörte auf zu husten.
Eine plötzliche Angst ließ ihn erstarren. „Und was ist mit Cynna?“
„Sie ist noch im Tunnel. Sie war schon im Tunnel, als der Schutzbann alles einstürzen ließ. Mel sagt, ihr sei nichts passiert. Er behauptet, Gnomtunnel würden nie einbrechen. Nein“, verbesserte sie sich mit einem schwachen Grinsen, „er rümpfte hochnäsig die Nase und sagte: ‚Unsere Tunnel brechen ma gar nich. Nich bei’n echten Erdbeben. Und schon gar nich nicht bei so’n kleinen Rumpeln.‘“
Jetzt war es Rule, der blinzelte. „Mel?“
Sie schnitt ein Gesicht. „Ich kann seinen ganzen Namen nicht aussprechen. Der kleine Älteste, der mich gerettet hat.“
„Ich dachte, er sei … Ach, schon gut.“ Rule erhob sich, blieb aber in seiner geduckten Haltung, um kein Ziel für die Angreifer abzugeben. Dann half er Lily auf die Beine. Das Loch war so tief, dass sie aufrecht stehen konnte.
Carl steckte die Nase über den Rand. Er jaulte erfreut, als er Lily sah.
Hinter ihm erschütterte eine Explosion wieder die Erde, gefolgt von einer zweiten.
Rule sah hoch zu seinem Freund. „Die in dem Haus haben sich nicht ergeben?“
Carl schüttelte den Kopf.
Kurz kam Rule der Gedanke an die Verheerung, die die beiden Granaten angerichtet haben mussten. Er schob die Vorstellung beiseite. Dafür war jetzt keine Zeit. „Okay. Geh zurück zu Remy. Er führt eure Gruppe. Ich gehe nach vorne.“
„Was ist los?“, fragte Lily.
„Mein Vater, deine Großmutter, Cullen und sechs Clanmitglieder kämpfen gegen den Zauberer und die Chimei.“ Er musterte abschätzend die Steilseite des Lochs und fand einen Vorsprung, um sich festzuhalten und nach oben zu ziehen. Als die Erde bröckelte, verlagerte er sein Gewicht, schob den Arm über den Rand und stemmte sich hoch. „Fünf von uns haben sich die Gangster vor dem Haus und im Haus vorgenommen“, fuhr er fort, die Hand ausstreckend, um Lily herauszuziehen. „Sie sind jetzt entweder tot oder so gut wie tot.“
Sie half mit, so gut sie konnte, indem sie sich mit den Füßen abstieß. Oben fielen sie wiederum gemeinsam zu Boden. „Alle?“, fragte sie, leicht außer Atem. „Wie viele sind es denn?“
„Sechsunddreißig.“
Sie sah ihn einen Moment lang an und schüttelte dann kurz den Kopf. Genau wie er würde sie sich später darüber Gedanken machen. „Wie geht es jetzt weiter?“
„Sobald Remy sich vergewissert hat, dass niemand entkommen ist, werden er und Carl dich zu den Autos bringen. Die stehen ein paar Kilometer entfernt von hier. Wir durften nicht das Risiko eingehen, entdeckt zu werden. Die Gnome wissen, wo. Sie bringen Cynna dorthin.“
„Hast du einen Schlag auf den Kopf abbekommen? Ich lasse mich doch nicht zu irgendwelchen verdammten Autos bringen.“
„Du bist unbewaffnet. Du bist eine potenzielle Geisel. Die Chimei –“
„Du bist nicht nur unbewaffnet, sondern auch unbekleidet. Und die Chimei wird eher dich töten als mich.“
„Lily, der Sinn dieser ganzen Aktion war es, dich und Cynna in Sicherheit zu bringen. Niemand kann hier weg, bis du gehst.“
„Und du glaubst, dass Johnny –“
„Johnny?“
„Der Zauberer. Er nennt sich Johnny Deng. Du glaubst wirklich, dass er und die Chimei sagen werden: ‚Okay, ihr könnt jetzt alle nach Hause gehen‘, sobald ich weg bin?“
Er runzelte die Stirn – zornig, aber nicht überrascht. „Komm“, sagte er grob.
Aber Rule führte sie nicht zu dem baufälligen Haus. Zuerst brachte er sie an die Stelle, wo er seine Waffen zurückgelassen hatte. Während sie liefen, erklärte er ihr halblaut, wer alles hier war und warum.
Talismane, die die Rhej mithilfe eines alten Zaubers angefertigt hatte. Die DAME, die zu ihr gesprochen hatte. Die Nokolai im Krieg. „Wie könnt ihr einen solchen Krieg gewinnen?“, fragte sie leise.
„Wir haben da so unsere Vorstellungen“, sagte er vage, ihr eine hübsche, kleine halb automatische Glock reichend. „Es ist gut möglich, dass die Chimei uns hören kann, wenn sie will, deswegen gehe ich jetzt lieber nicht ins Detail.“
Sie steckte das Plastikmesser, das sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, in ihre Hosentasche. „Du sagst, Sam habe sie weggelockt? Wie denn?“
Rule zog sich die Jeans hoch. „Er hat ihnen vorgegaukelt, seine Höhle sei unbewacht. Er dachte, die Chimei würde der Versuchung nicht widerstehen können, sich Li Qin zu schnappen. Und er hatte recht.“
Lily erschauderte. Wenn die Chimei nicht so erpicht darauf gewesen wäre, sich noch eine Geisel zu holen, mit der sie ihre Großmutter quälen konnte, hätte sie womöglich schon früher versucht, Lily zu ihrem „freiwilligen Angebot“ zu zwingen. „Aber Li Qin – es ist ihr doch nichts passiert?“
„Madame Yu hat mir versichert, dass Li Qin nicht in Gefahr geraten könne. Und wenn sie es glaubt, dann glaube ich es auch.“ Er schulterte ein Sturmgewehr.
„Und wo ist Sam jetzt?“
„Er bittet uns, ihn zu entschuldigen.“
„Wie bitte?“
Er packte sie bei der Hand. „Komm. Wir nehmen den Weg durch den Wald.“
Der Boden war steinig, und zwischen den Bäumen war es dunkel. Aus Angst, zu stolpern, konnte Lily nicht schnell laufen. Sie machte zu viel Lärm und hielt ihn nur auf. „Du kannst gern vorlaufen.“
„Nein.“
„Hat Sam gesagt, dass das Abkommen ihn daran hindere, uns zu helfen?“
„So etwas Ähnliches. Pst.“
Die Chimei hatte behauptet, Sam würde sie anlügen, sie benutzen. Lily hielt das für teilweise richtig – der schwarze Drache manipulierte sie alle. Aber die Chimei hatte noch weniger Grund als Sam, aufrichtig mit Lily zu sein. Ihr Ziel war es gewesen, Lily einzuschüchtern, ihr den Mut zu nehmen, und wenn sie sie davon überzeugt hatte, dass dem Drachen nicht zu trauen sei, würde ihr das nur in ihre Karten passen.
Aber … Sam müsste eigentlich hier sein, verdammt. Sie fühlte sich verraten. Abkommen hin oder her, er hätte einen Weg finden müssen. Zumindest hätte er die Magie aufsaugen können, damit weniger für die Chimei und den Zauberer übrig blieb.
Rule stolperte. Sie blieb stehen. Vor lauter Sorge fiel es ihr schwer, leise zu sprechen. „Was ist? Alles okay?“
„Daraus schließe ich, dass dir nicht auch schwarz vor Augen ist.“
„Nein. Helfen dir denn die Mächte nicht?“
„Nur eine Macht, und ich war unvorsichtig.“ Er schüttelte den Kopf, als müsse er etwas abschütteln. „Ich habe nicht in dem Maß auf sie vertraut, wie es vielleicht nötig gewesen wäre. Wahrscheinlich, weil ich es bisher nicht musste. Die Chimei war auf die anderen konzentriert, nehme ich an.“
„Was meinst du damit, nur eine Macht?“
„Später.“
Für das nächste Stück des Weges übernahm Lily die Führung. Rule sagte zwar, je mehr er sich auf die Macht stütze, wie er sich ausdrückte, desto besser könne er wieder sehen. Doch ihre eigene Sicht war überhaupt nicht beeinträchtigt.
Das Wäldchen endete plötzlich – unvermittelter als vermutlich noch vor einer Stunde. Denn dort, wo eben noch Gehölz und Gräser gewesen sein mussten, war jetzt nur noch verbrannte Erde.
Lily blieb stehen, Rule legte ihr die Hand auf die Schulter.
Vielleicht zwanzig Meter die Straße hinunter lag ein weißer Kastenwagen umgekippt im Graben. Lily konnte niemanden in seiner Nähe sehen. Weder Isen noch einen anderen Lupus.
Ein wenig näher zu ihnen, dort, wo die Schotterstraße in einem Hof aus gestampfter Erde endete, befanden sich drei Personen; zwei davon standen etwas näher beieinander – ihre Großmutter, so aufrecht wie immer, und Cullen, nicht ganz so aufrecht. Er kniete und sah aus, als koste es ihn große Anstrengung, nicht nach vorne zu kippen.
Nur ein paar Schritte entfernt ging die Chimei auf und ab. Oder eine Version von ihr. Kun Nu, wie Lily sie genannt hatte. Die Vogelfrau. Jetzt war sie ganz zu einem Vogel geworden.
Sie war nicht so groß wie ein Drache. Nicht einmal annähernd. Aber für einen Vogel war sie riesig – mindestens so groß wie ein Strauß, aber sie ähnelte eher einem Kranich oder einem Storch, mit dem starken Schnabel eines Raubvogels und ihrem langen, geteilten Schwanz. Ihre immer noch strahlend weiße Gestalt schimmerte in dem Mondlicht, das die Dunkelheit durchdrang.
Li Lei, die Cullen die Hand auf die Schulter gelegt hatte, folgte dem großen Vogel mit ihren Blicken, als er begann, sie zu umrunden. Er hatte hart gekämpft, der schöne Cullen, gut und tapfer. Dass er nicht so stark war wie ein Wesen, das drei Jahrhunderte Zeit gehabt hatte, seine Kräfte wachsen zu lassen, konnte man ihm kaum vorwerfen. „Du kannst meinen Kreis nicht durchbrechen“, sagte sie auf Chinesisch.
Der Schnabel des großen Vogel schmolz und mit ihm der Rest seines Gesichts, sodass Li Lei plötzlich ein Frauengesicht von dem Vogelkörper herab ansah. Ein vertrautes Gesicht, obwohl Li Lei es lange Zeit nur in ihren Albträumen gesehen hatte. „Das kann ich doch“, sagte sie mit ihrer hohen, klaren Stimme, in einem Dialekt, den Li Lei manchmal im Schlaf hörte. „Und das werde ich auch – irgendwann. Ich habe Zeit.“
Sie sagte die Wahrheit. Wenn sie genug Zeit hätte, würde sie ohne Zweifel herausfinden, wie der Kreis durchbrochen werden konnte, auch wenn er nur ihretwegen gezogen worden war. Der Bann war so alt, dass Li Lei ihn eigentlich längst hätte vergessen müssen. Vielleicht wäre das auch der Fall gewesen, wenn sie ihn nicht immer wieder von Neuem durch die Jahrzehnte hindurch geübt hätte.
Oder vielleicht auch nicht. Manche Dinge vergaß man einfach nicht. Jetzt umströmte die Vergangenheit Li Lei wie dicke Sahne. Süß, auf ihre eigene Art, denn all diese Erinnerungen, die in der Luft trieben, handelten von ihrem eigenen Sterben. Süß, weil sie es geschafft hatte – und schrecklich, weil sie sich auch an die Flammen und die Schreie erinnerte.
Es war unmöglich gewesen, die anderen zu verschonen, jene, die für den ersten Zauberer gearbeitet hatten. Damals hatte sie sich gesagt, dass es nicht von Bedeutung sei und dass sie den Tod verdienten, weil sie mit ihm verkehrten. Sie war sehr jung gewesen.
Auch sie selbst zu verschonen, war unmöglich gewesen. Auch sie war schreiend verbrannt.
Und dann war Sam gekommen, ein großer schwarzer Schatten, der aus der Dunkelheit und dem Rauch gefallen war, um sich neben ihrem sterbenden Körper niederzulassen. Du bist noch nicht tot, hatte er gesagt, so eindringlich und sicher, wie nur ein Drache es konnte. Ich will, dass du lebst. Sei ein Drache an meiner Seite.
Sie hatte das Leben gewählt, das Leben und Flügel und Sam, und er hatte über ihr gesungen, eine der großen Melodien, die niemand mehr seit dem Großen Krieg gehört hatte.
Drachenkörper heilen sehr, sehr viel besser als Menschenkörper.
„Ich glaube, dein kleiner Zauberer stirbt“, sagte die Chimei lächelnd.
„Das hast du schon einmal gedacht und dich geirrt.“ Aber er war erschöpft, sehr erschöpft. Nachdem die Lupi das Feuer auf den Wagen, an dessen Steuer dieser neue Zauberer saß, eröffnet hatten, hatten sie sich wieder in den Schutz der Büsche zurückgezogen, so wie man es ihnen befohlen hatte.
Ein kluger Schachzug. Der Zauberer hatte es überlebt, so wie sie es erwartet hatte. Er brauchte viel Energie von seiner Geliebten, um seine Wunden zu heilen, aber sie hatte sie großzügig mit ihm geteilt.
Er hatte überlebt und den zweibeinigen Wölfen, die versucht hatten, ihn zu töten, Feuer hinterhergeschickt. Doch Cullen hatte diese Brände einen nach dem anderen gelöscht.
„Hat er sich verausgabt wie du, als er versucht hat, schwarzes Feuer zu werfen?“ Sie lächelte süß. „Er hat nicht deine Kraft, meine Feindin. Ich war zu hoch, er konnte mich mit seiner kleinen, schwarzen Flamme nicht erreichen. Er hat mich verfehlt.“
„Ich nicht.“
„Nein.“ Sie hörte auf, sie zu umrunden. Ihre Augen glühten hasserfüllt. „Du hast mich nicht verfehlt. Du hast ihn mir weggenommen.“
Li Lei wusste, wen sie meinte. „Auch du schwimmst in der Vergangenheit“, stellte sie fest. „Aber ich glaube, für dich ist es ein Ozean, und du wirst die Küste niemals erreichen.“
„Und wenn ich sie erreichte, würde ich wieder umkehren. Ich bin denen, die ich liebe, treu. Ich verlasse sie nicht. Ich vergesse meine Rache nicht. Durchbrich deinen dummen Kreis, meine Feindin. Durchbrich ihn und halte jetzt dein Wort, und ich werde den kleinen Zauberer gehen lassen.“
„Ah, du meinst mein Versprechen, dass ich mich im Tausch für Lily in deine Gewalt begebe.“ Li Lei lächelte. „Ich habe gelogen.“
Das Kreischen klang wie das eines Vogels, nicht wie das einer Frau. „Dreckig, hinterhältig, böse – du hast gelogen? Das wagst du mir ins Gesicht zu sagen? Ich werde nicht nur die Kraft deiner Enkelin trinken, sondern auch ihr Blut!“
„Das glaube ich nicht.“ Li Lei ließ die Hand in die Hosentasche gleiten. Sie zwang sich, den Blick nicht von dem großen Vogel abzuwenden, obwohl die unselige Chimei an einer ungünstigen Stelle stehen geblieben war. So konnte sie den Lieferwagen nicht sehen und musste sich ganz auf ihr Gehör verlassen.
„Willst du etwa mit einem Zauber nach mir werfen?“, fragte die Chimei. „Hast du da einen kleinen Talisman in deiner Tasche, wie der, den deine Wolfdämonen benutzt haben?“
„Diese kleinen Talismane haben gewirkt. Du weißt nicht, was du da in Gang gesetzt hast.“
„Bitte sehr, versuch es doch mit deinem Zauber oder Talisman. Er wird lediglich deinen Kreis durchbrechen, doch mir nichts anhaben können.“
Zeit. Sie musste Zeit gewinnen, indem sie das Gespräch aufrechterhielt. Li Lei zog die Hand aus der Tasche. Darin hielt sie ein Stück Papier. Ruben Brooks hatte nicht verstanden, warum sie unbedingt etwas Schriftliches hatte haben wollen, aber er verstand nicht viel von solchen Dingen. „Dies ermächtigt mich als eine Vertreterin der Regierung der Vereinigten Staaten, dich und deinen Geliebten zu verhaften.“
Die Chimei brach in schallendes Gelächter aus. „Oh, deine Enkelin hat genau dasselbe getan! Sie hat meinem Johnny gesagt, er sei verhaftet. Obwohl sie hilflos war, unsere Gefangene.“
Li Lei wünschte von ganzem Herzen, Lily wäre jetzt hier, um sich mit ihr darüber zu amüsieren.
„Wie sehr bedaure ich doch, dass du schon verrückt bist“, sagte die Chimei und hörte auf zu lachen. „Ich hatte mich so darauf gefreut, das selbst in die Hand zu nehmen. Ob es wohl genauso viel Spaß macht, dich zu foltern, wenn du schon verrückt bist, frage ich mich. Oder ist das nur Senilität?“
„Das Abkommen erkennt das Recht amtlicher Vertreter an, in ihren Welten für Ordnung zu sorgen. Eine Ordnung, die du gestört hast.“ Das Blatt Papier, das Li Lei in der Hand hielt, machte sie zu einem amtlichen Vertreter derer, die für die Ordnung auf der Erde verantwortlich waren. Dadurch wurde vieles möglich, das vorher unmöglich gewesen wäre … wie zum Beispiel, gewisse Silben auszusprechen.
Oder jemand anders beizubringen, wie man sie aussprach.
„Glaubst du etwa, dass du mir jetzt schaden darfst? Oder meinen süßen Johnny töten?“ Ihr Ton war verächtlich. „Du begreifst wirklich sehr wenig.“
„Vielleicht“, murmelte Li Lei – als endlich, endlich ihre Ohren ein Geräusch von dem Wagen her aufschnappten. Erde, über die ein Fuß strich, oder –
„Li A’wan Ni Amo!“, donnerte Isen.
Die Chimei erstarrte. Einen Moment lang – genau in dem Moment, als sie ihren wahren Namen hörte, den Namen, den Lily herausgefunden hatte, so wie Li Lei es geplant hatte, gerufen von einem, der einen wahren Namen besaß – war sie hilflos.
Genauso wie ihr Geliebter.
Isen Turner – die Haut stellenweise schwarz verbrannt, den Bart halb versengt, ohne Kleider – zerrte den Zauberer hinter dem Lieferwagen hervor. Schnell zog er ihn mit sich hinaus auf die offene Straße.
Die Chimei kreischte. Und verschwamm.
Sam war da. Mit einer Unvermitteltheit, die Li Leis Herz trotz allem einen Satz machen ließ, war der Drache über ihnen – so nah! Und schoss wie ein Falke auf die Erde zu, mit ausgestreckten Klauen.
Ganz nach Plan. Wenn Sam unsichtbar wurde, befand er sich in einer anderen Phase der Welt – ein Trick, den er von den Dämonen in Dis gelernt hatte und den die Chimei daher weder kannte noch verstand. Er hatte über ihnen gewartet, in dieser anderen Phase, und war damit sogar für die nichtphysischen Sinne der Chimei unsichtbar gewesen. Er hatte auf den Moment gewartet, in dem er eingreifen konnte.
Alles geschah dann so schnell, dass sie den Geschehnissen beinahe nicht mit den Augen folgen konnte. Erst sah es so aus, als würde Sam auf den Boden stürzen – aber dann schlugen die großen Schwingen einmal, zweimal und bremsten seinen Steilflug gerade genug ab. Isen warf sich blitzschnell auf die Seite und rollte sich auf den Bauch. Der Zauberer versuchte zu entkommen, aber er war zu langsam. Viel zu langsam.
Die Klauen schlossen sich um ihn. Eine Böe wirbelte den Staub auf, als die Flügel noch einmal schlugen und noch einmal – und Sam sich in die Lüfte erhob, den Zauberer fest in seinen Krallen.
„Nein!“, schrie die Chimei, halb Frau, halb Vogel, halb fest, halb unbestimmbar.
Kun Nu hat meine Enkelin-durch-Magie dich genannt, sagte Sam, während er immer höher stieg. Kun Nu, so werde ich dich von jetzt an nennen. Ich gebe dir diese Möglichkeit, diese letzte Möglichkeit, zu wählen.
„Du kannst ihm nicht schaden! Das wagst du nicht!“
Ich werde ihm nicht schaden. Ich werde ihn zu einem Tor an der anderen Küste bringen, wo Vertreter der Regierung der Menschen warten, um ihn den Behörden der Welt, die sie Edge nennen, zu übergeben. Du kennst diese Welt unter dem Namen Vei Mo Han. Dort wissen sie, wie man einen Zauberer einsperrt, Kun Nu.
„Du brichst das Abkommen!“
Du hast Geiseln genommen. Deshalb darf auch ich jetzt eine Geisel nehmen. Das Abkommen strebt nach Ausgeglichenheit. Hast du das vergessen? Sam schwebte jetzt so hoch oben, dass Li Lei nur noch einen dunklen Schatten vor den Sternen sehen konnte. Doch meinte sie zu erkennen, dass er im Kreis flog. Aber ich werde ihn dir nicht nehmen, wenn du dich bereit erklärst, zurück in deine Welt zu gehen, zu deinem Volk. Du darfst –
„Pah!“ Die Chimei richtete sich auf, bekam für einen Moment eine Gestalt, mehr Mensch als Vogel. „Ich habe kein Volk.“
Es leben noch Tausende von Chimei.
„Die Ergebenen. Ich spucke auf sie. Sie sind nicht mein Volk. Mein Volk ist tot, sie sind alle tot – und meine Kinder auch. Tot, deinet- und der Deinen wegen. Ich bin die Einzige, die übrig ist. Glaub ja nicht, du kannst mich irreführen, S’n Mtzo. Du hungerst nach meinen Tod, der dich von dem Abkommen befreit.“
Ich hungere nach deinem Tod, bestätigte Sam. Auch mein Volk ist gestorben. Zu viele von ihnen. Trotzdem werde ich auf deinen Tod verzichten und mit den Einschränkungen des Abkommens leben, wenn du zurückkehrst in deine Welt. Geh und nimm deinen Geliebten mit. Liebst du ihn?
„Das tue ich. Er ist alles, was ich habe.“ Tränen – echte, menschliche Tränen – glitzerten in vor Schmerz und Trauer hellen Augen. „Johnny, mein Johnny!“, rief sie. „Ich werde dich befreien!“
Liebst du ihn mehr als deine Rache?
„Ich will beides haben!“ So plötzlich, als würde ein Licht ausgeschaltet, wurden ihre Augen wieder schwarz. „Ich will beides! Und du wirst mich nicht daran hindern!“
Das habe ich bereits. Schwöre auf das Abkommen, dass du in deine Welt zurückkehrst, dann wirst du –
Aber anscheinend hatte sie ihre Entscheidung gefällt. Schnell wie ein Wind, der sich aus dem Nichts erhebt, wurde sie zu Nebel – und schoss auf Isen Turner zu, der sich gerade unbeholfen aufrichtete.