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Als die Energiestürme während der Wende die Grenzen zwischen den Welten niedergerissen hatten, waren Kreaturen hierher geweht worden, wie man sie seit Hunderten von Jahren auf der Erde nicht mehr gesehen hatte.

Die Energiestürme hatten sich gelegt, dem Himmel sei Dank. Und die Fachleute versicherten immer wieder, dass es ohne diese völlig undenkbar sei, hier herüber zu wechseln, und ebenso, dass jede Passage die Energie eines Netzknotens freisetze. Und der Coven in D.C., der eine hoch entwickelte Karte für Simulakren überwachte, beteuerte, es habe in der letzten Zeit keine nennenswerten Netzknotenaktivitäten gegeben. Zwar gab es ein Tor zwischen der Erde und einer anderen Welt – Edge –, doch das befand sich am anderen Ende des Landes und wurde von beiden Seiten mit Bannen geschützt und streng bewacht. Dort würde sich nichts durchschleichen können.

Aber undenkbar hieß nicht unmöglich, und Lily war von der Kompetenz der Fachleute nicht überzeugt. Deshalb folgte sie jedes Mal dem Ruf der Cops und untersuchte den Tatort.

Zuerst ließ sie die Hände über jeden Zentimeter des Steuers gleiten, von dem der schlaffe Airbag hing wie das größte Kondom der Welt. Das Monster des Tages war heute eine riesige Schlange gewesen, so dick wie eine Kuh, die, wie die Fahrerin des Honda schwor, plötzlich mit vor Gift triefenden Fängen vor ihrem Auto hochgeschossen sei. Natürlich war sie ausgewichen – und mit einem Pick-up zusammengestoßen.

Die Fahrerin des Honda hatte noch Glück gehabt, dass sie sich auf einer ruhigen Straße in einem Wohngebiet befunden hatte und der Fahrer des Pick-ups sehr schnell reagiert hatte. Sie war in die Notaufnahme gebracht worden, aber die Sanitäter glaubten nicht, dass sie schwer verletzt war. Der Pick-up-Fahrer behauptete steif und fest, er habe nicht einen Kratzer abbekommen.

Und – Überraschung, Überraschung! – er habe auch keine Schlange gesehen, weder riesig noch klein. Und auch Lily fand keine Spuren von Magie auf der Straße, wo die Schlange angeblich gewesen war.

Und hier auch nicht. Sie begann, das Armaturenbrett abzutasten.

Nicht, dass sie nichts Besseres zu tun gehabt hätte. Sie war gerade dabei, einen Betrugsfall unter Dach und Fach zu bringen, den sie zusammen mit der hiesigen Zweigstelle bearbeitet hatte, und war eben aus einer kleinen Stadt namens Eagle’s Nest zurückgekommen. Die dortigen Ermittlungen hatten glücklicherweise nicht lange gedauert, denn sie hatte recht bald den angeblichen Lupusangriff an die Kollegen vor Ort übergeben können. Das Opfer war, wie sich herausgestellt hatte, betrunken gewesen und der Angreifer ein Bär, der die Mülltonnen auf der Suche nach Nahrung durchwühlt hatte.

Auch am Armaturenbrett war keine Magie zu spüren, also nahm sie sich den Krimskrams vor, den die Frau in ihrem Auto angesammelt hatte – eine leere Limodose, eine Zeitung, zerknüllte Rechnungen.

Ein Soziologe hätte den plötzlichen Anstieg von verrückten Anrufen wohl hochinteressant gefunden, und wer weiß? Vielleicht waren sie tatsächlich das Resultat der Kollision von Vernunft und Magie in der kollektiven Psyche. Die Wende hatte Angst in den Menschen hervorgerufen, daran gab es keinen Zweifel. Aber Lily zog konkrete Erklärungen vor – wie eine neue, nicht nachweisbare Droge. Oder ein neuer, nicht nachweisbarer Zauber.

Wenn es Letzteres war, dann war es ihr Job, ihn zu finden, verdammt. Doch sie fand nichts.

Sie rutschte vom Sitz herunter und ging in die Hocke, sodass sie mit den Händen über und unter den Fahrersitz fahren konnte. Sie erwartete nicht, etwas zu finden. Die Fahrerin hatte sie bereits überprüft, bevor die Sanitäter sie weggebracht hatten. Wenn die Frau verhext oder verzaubert war, hätte Lily es gespürt.

Auch auf dem Sitz fand sich nichts. Sie erhob sich, wobei sie darauf achtete, ihr Kleid nicht mit den schmutzigen Händen zu berühren.

Rule reichte ihr das Päckchen mit Erfrischungstüchern aus ihrer Handtasche. Sie nahm eines und lächelte ihn an. „Ich wusste doch, dass du dich noch mal nützlich machen würdest.“

„Vergiss nicht die Gurkengläser.“

Ihr wurde warm ums Herz. Als er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatten sie Gurken gegessen. Und Blinis und Käse. Dazu hatten sie einen köstlichen Dom Pérignon getrunken, aber dass er an die Gurken gedacht hatte, hatte sie gerührt. Sie lächelte, sagte aber nichts – konnte nicht sagen, was sie wollte, weil Munoz neben ihnen stand – und wischte sich die Hände ab. „Officer, mehr kann ich hier nicht tun. Es ist Ihr Fall. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“

Ihre Haut kribbelte schwach, als würden sich bei einer statischen Ladung die kleinen Härchen auf den Armen aufstellen. Automatisch hob sie den Kopf.

„Was ist?“

„Nichts.“ Das Prickeln wurde von Sorcéri – wie Cullen sie nannte – verursacht, kleine Fetzen reiner, ursprünglicher Magie, die frei umherschwirrten, bis sie absorbiert wurden. Sie wurden vom Ozean, von Netzknoten oder von Gewittern abgegeben und von Drachen angezogen. Sie suchte den Himmel nach Sam ab – der oftmals Sorcéri hinterließ –, aber der Himmel war so leer und blau wie ein abgestürzter Computerbildschirm.

Doch meist wollte Sam auch gar nicht gesehen werden. Cullen behauptete, dass Drachen sich nicht wirklich unsichtbar machen konnten; es handle sich um eine Phasenverschiebung, so wie bei Dämonen. Was auch immer das heißen sollte. „Schicken Sie mir bitte eine Kopie Ihres Berichts.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Mist. Rule, wir müssen los.“

Die Party fing zwar erst um sieben Uhr an, aber sie fand auf dem Clangut statt, das zwanzig Minuten Autofahrt von der Stadt entfernt lag. Und sie hatte noch einiges zu erledigen; die Babyparty war nur ein Teil der Festivitäten.

Rule war den ganzen Tag auf dem Clangut gewesen und hatte alles für den anderen Teil der Feier vorbereitet. Er war nur zurück in die Stadt gekommen, um sie abzuholen, weil sie weder ihr Privatauto noch ihren Dienstwagen zur Verfügung hatte. Ihr sechs Jahre alter Toyota brauchte ein neues Getriebe, und der Dienstwagen war immer noch in Eagle’s Nest, wo es eine kleine Werkstatt gab.

Wie sich nämlich herausgestellt hatte, mochte der Bär den Geruch von Lupi nicht. Und ein zweihundert Kilo schwerer Schwarzbär kann, wenn er das Dach eines Wagens als Trampolin benutzt, erstaunlich viel Schaden anrichten.

Als Lily in Rules Mercedes einstieg, war sie schon dabei, die Nachrichten auf ihrem iPhone abzufragen. Die Babyparty mit einer traditionellen Lupus-Babyfeier zu kombinieren, hatte sie zuerst für eine gute Idee gehalten.

Selig sind die Unwissenden. Und die Wirklichkeit war ernüchternd.

Keine dringenden Nachrichten, deswegen tippte sie schnell ein paar Fakten über den Unfall ein, als sie vom Tatort wegfuhren. Langsam wurde sie richtig gut im Simsen. Nicht so flink wie ein Teeny, aber geschickt genug, um sich Notizen zu machen. „Was machen die Rippchen?“, fragte sie Rule, ohne aufzusehen. „Es schadet doch nichts, dass wir ein bisschen später kommen, oder?“

„Sie sind noch im Grill. Isen fängt mit dem Huhn schon ohne mich an, mit ein bisschen Hilfe von Toby. Er freut sich schon auf heute Abend.“

„Gut.“ Sie hob den Blick. „Gut für Toby, meine ich, und dass dein Vater dich tatkräftig unterstützt. Wenn der Rho beim Barbecue mitmacht, ist das doch gut für den Status, oder?“

Er trommelte mit den Fingern auf dem Steuer. „Ich weiß gar nicht mehr, warum ich dir eigentlich die politischen Dimensionen einer Kindsfeier erklärt habe.“

„Weil ich dir keine andere Wahl gelassen habe.“

„Oh, ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Um deine Frage zu beantworten: Nein, Isen ist mein Vater, was allgemein bekannt ist, deshalb hat die Tatsache, dass er mir dabei hilft, ein Huhn zu grillen, keine besondere Bedeutung. Es soll vorkommen, dass Väter ihren Söhnen zur Hand gehen.“

Sein humorloser Ton irritierte sie. „Wie soll ich verstehen, was für die Rangfolge von Bedeutung ist, wenn ich nicht frage?“ Sie legte das Telefon weg. „Glaubst du, wir haben genug Rinderbrust? Und Rippchen? Wir können noch welche von Johnny’s mitnehmen. Die machen gute Rippchen.“

„Meine sind besser, und wir haben genug.“

„Gastgeschenke“, sagte sie plötzlich und drehte sich um. Auf dem Rücksitz lag ein großes Geschenkpaket neben zwei prallen Einkaufstaschen. „Ich kann sie nicht sehen. Rule …“

„Sie sind im Kofferraum, wo du sie gestern verstaut hast, damit du sie nicht vergisst.“

„Richtig. Stimmt ja. Ich rufe lieber noch mal Beth an. Sie bringt den Kuchen mit.“ Sie tippte die Nummer ihrer Schwester. „Ich hatte keine Zeit, ihr die Quittung zu schicken, deshalb will ich sichergehen, dass man ihr den Kuchen nicht ein zweites Mal in Rechnung stellt. Es ist wirklich lästig, dass ich mein Auto nicht habe. Ich … Mist. Besetzt.“ Sie schrieb eine SMS.

„Lily, entspann dich. Es ist eine Party. Du sollst dich amüsieren.“

„Gastgeber amüsieren sich nicht. Gastgeber geben die Party.“

Er lachte fast lautlos.

Sie schickte Beth die SMS und warf ihm einen bösen Blick zu. „Du lachst nicht mit mir. Das weiß ich, weil ich nämlich nicht lache.“

Er streckte die Hand aus und massierte sanft ihren Nacken. „Dass Gastgeber sich nicht amüsieren dürfen – das ist etwas, das von deiner Mutter stammen könnte.“

Verflixt. Er hatte recht. „Na gut. Wenn ich mich amüsieren soll, dann mache ich das. Nachdem die Party angefangen hat. Bis dahin darf ich mir noch Sorgen machen.“

„Warum habe ich den Eindruck, als hättest du gerade im Geiste ‚muss mich amüsieren‘ auf eine To-do-Liste geschrieben?“

„Weil ich klug genug bin, es nicht vor deinen Augen auf eine echte Liste zu schreiben.“ Apropos … Wieder wühlte sie in ihrer Handtasche, zog ein kleines Spiralbüchlein heraus, klappte es auf und überflog die Liste mit der Überschrift Babyparty/Kindsfeier. „Jetzt fühle ich mich besser.“

„Gut.“ Er drückte ihre Schulter und ließ die Hand sinken. „Bitte mach dir keine Sorgen um die politischen Aspekte. Darum kümmere ich mich schon.“

„Das kannst du vergessen.“ Sie betrachtete nachdenklich ihre Liste. Bis auf das Decken der Tische und das Arrangement des Buffets war alles erledigt, und dafür hatte sie eine separate Liste. Sie blätterte auch diese auf. „Ich habe Angst, ich könnte den Kuchenheber vergessen oder das Gästebuch irgendwo liegen lassen, aber ich will trotzdem alles über diesen politischen Kram und über die Sache mit dem Status und so wissen. Das muss ich, weil ich es nicht verstehe.“ Sie sah ihn an. „Ich lasse mich nicht von dir ausschließen.“

Er streckte die Hand nach ihrer aus, und sie überließ sie ihm. Er schwieg noch einen Moment, dann sagte er: „Ich will dich nicht ausschließen. Das ist wie ein Reflex.“

„Ich weiß. Aber du hast vor, dich zu bessern, nicht wahr?“

Er lächelte. „So ist es.“

Seine Berührung beruhigte sie. Wie immer. Das war das Magische am Band der Gefährten, das das Bedürfnis nach körperlichem Kontakt steigerte, doch gleichzeitig auch seinen positiven Einfluss. Sein Volk glaubte, dass das Band ein Geschenk der DAME war, ein Glaube, der sich in dem Titel widerspiegelte, den sie Lily gaben: die Auserwählte. Auserwählt von der DAME, meinten sie, denn weder sie noch Rule hatte eine Wahl gehabt. Zu Beginn zumindest nicht.

Aber das Wohltuende seiner Berührung war auch noch in einem archaischen, universellen Zauber begründet. Die meisten Menschen, dachte Lily, fühlen sich besser, wenn sie die Hand eines geliebten Wesens halten.

An einigen ihrer Sorgen, das gab sie gerne zu, war sie selbst schuld. Cynna war eine gute Freundin, und sie war schwanger, deshalb war es nur natürlich, dass Lily angeboten hatte, eine Babyparty für sie auszurichten. Niemand hatte sie dazu gezwungen, dies zur gleichen Zeit mit der Feier zu tun, die Rule und die Rhej der Nokolai für den Vater des Kindes abhielten – Cullen Seabourne, Zauberer und ehemaliger einsamer Wolf und der erste Lupus, der je geheiratet hatte. Aber sie hatte es für eine gute Idee gehalten. Lilys Wissen über die Nokolai und ihre Sitten hatte immer noch Lücken, aber in den neun Monaten, in denen sie mit Rule zusammen war, hatte sie schon an einigen Kindsfeiern teilgenommen. Und nie war es eine große Sache gewesen.

Aber dieses Mal war es anscheinend anders. Ganz anders.

Die meisten von Cynnas Freunden und Bekannten, die ihr etwas für das Baby geschenkt hatten, arbeiteten mit ihr und Lily zusammen in der Einheit. Sie lebten nicht in der Nähe, deswegen war die Zahl der Gäste der Babyparty klein und überschaubar.

Ganz anders die Kindsfeier. Die Rippchen, nach denen sie Rule gefragt hatte, waren ein gutes Beispiel. Es ging nicht allein darum, dass jeder, der erschien, auch genug zu essen bekam. Nein, die Sache war um einiges komplizierter. Es mussten Reste übrig bleiben. Denn die Gäste durften, laut Rule, nicht das Gefühl haben, der Gastgeber habe sich für sie in Unkosten stürzen müssen. Aber wenn zu viel übrig blieb, war das auch wieder nicht gut. Der Gastgeber könnte sich beleidigt fühlen, weil nicht genug Gäste gekommen waren. Oder geriet in den Verdacht, sich für wichtiger zu halten, als er tatsächlich war, was als Schwäche ausgelegt wurde. Und der Lu Nuncio des Clans durfte nicht schwach sein.

Die Rippchen waren der große Test. Sie waren besonders beliebt und gingen deswegen schnell weg. Das Ziel war es, sagte Rule, dass es, wenn alle Teller gefüllt waren, keine Rippchen mehr gab und vielleicht auch keine Rinderbrust, aber immer noch Hühnchen und Würste und Beilagen.

Das Problem war, dass Lupi nicht auf ein „u.A.w.g.“ reagierten. Sie verschickten auch keine schriftlichen Einladungen, wenigstens nicht zu Kindsfeiern. Nein, der gesamte Clan fühlte sich eingeladen, und so konnten sie nichts anderes tun, als die abzuziehen, die schon vorher ein Geschenk geschickt hatten, und die Anzahl der infrage kommenden Gäste grob zu schätzen.

Die Schätzung war in der Tat recht grob gewesen – und von großer politischer Bedeutung, verdammt. Lily hasste Politik. Ihre Großmutter fand, dass diese Haltung naiv war, dass man genauso gut das Wetter hassen könnte. Beides war sinnlos, denn beides war unausweichlich.

Aber die Politik der Lupi war so verdammt … Sie war eben wie alles bei den Lupi.

Die Kindsfeier bot Rule die Gelegenheit abzuschätzen, auf wie viel Widerstand seine umstrittenen Entscheidungen der letzten Zeit stießen – die Macht eines anderen Clans anzunehmen und sich außerdem zu verloben. Gleichzeitig hatte er vor, diesen Widerstand zu schwächen, indem er es so aussehen ließ, als sei der Widerstand schwach.

Das genügte, um Kopfschmerzen bei ihr hervorzurufen.

Die Teilnahme an einer Kindsfeier war eine Frage des Rangs und der Freundschaft. Cullen war neu bei den Nokolai, er war erst vor weniger als einem Jahr in den Clan aufgenommen worden, deswegen wären normalerweise nicht sehr viele Gäste ihm zu Ehren erschienen. Er hatte nicht viele enge Freunde, und sein Rang war eigentlich nicht klar. Aber Rule war der Lu Nuncio und Lily seine Auserwählte, deswegen hatten sie beide einen hohen Rang. Hochrangige Gastgeber, das bedeutete eigentlich: viele Gäste.

Aber indem er eine Frau geheiratet hatte, die von ihm schwanger war, hatte Cullen ein großes Tabu gebrochen. Und auch Rule hatte vor zu heiraten. Möglicherweise würden viele Clanmitglieder durch ihre Abwesenheit ihrer Missbilligung Ausdruck verleihen.

Doch Rule nahm nicht an, dass das passieren würde, denn die dritte Gastgeberin war die Rhej der Nokolai. Eine Rhej war so etwas Ähnliches wie eine Priesterin oder eine Bardin. Sie bewahrte die Erinnerungen des Clans und war, in seltenen Fällen, das Sprachrohr der DAME – die angeblich keine Göttin war, aber sicher in dieser Liga spielte. Der Rang der Rhej war der gleiche wie der des Rho … und Cynna war seit Kurzem ihre Schülerin.

Zur selben Zeit hatte Cynna auch angefangen, sich die Erinnerungen anzueignen – ein Vorhaben, das sogar noch ein bisschen geheimer war als die Codes, die nötig waren, um die Nuklearwaffen der Vereinigten Staaten zu aktivieren. Wie auch immer dieses Lernen aussah, die Folge war eine erschöpfte, zu schweigsame Cynna.

Heute Abend sollte sie für kurze Zeit die seelischen Erschütterungen vergessen, die sie in den Erinnerungen durchlebte. Denn es war fast immer das Unglück, das in den Erinnerungen gespeichert wurde.

Der Clan würde anwesend sein, sagte Rule. Nicht alle, obwohl die meisten Mitglieder des Clans in Kalifornien ansässig waren. Denn Kalifornien war ein großer Staat. Doch jeder, der kam, würde die Rhej und Cynna ehren, und das würde auch Rule zugutekommen, weil so der Eindruck entstand, dass der Widerstand im Clan schwächer war als in Wirklichkeit.

Und wenn nicht?, hatte Lily gefragt. Was, wenn sie sich so daran stören, dass du heiratest, dass sie trotz allem nicht kommen?

Dann würde sein Vater einen neuen Thronfolger bestimmen müssen. Er würde den Clan nicht zwingen, seine Entscheidung zu akzeptieren, und damit seine Stärke aufs Spiel setzen.

War es da ein Wunder, dass sie angespannt war? Da war es besser, fand sie, an Monster zu denken. „Du hast nicht zufällig eben etwas Komisches gerochen, oder?“

Rule schüttelte den Kopf. „In dieser Gestalt ist meine Nase nicht so gut, aber Schlangen haben ein unverwechselbares Aroma – und grundsätzlich gilt: je größer das Tier, desto stärker der Geruch, den es hinterlässt. Du hast mich nicht gebeten, mich zu wandeln.“

„Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber es erschien mir sinnlos. Niemand sonst hat diese Schlange gesehen, und ich habe nicht die Spur von Magie wahrgenommen.“ Sie runzelte die Stirn. „Massenhalluzinationen – das ist keine befriedigende Erklärung. Sie sehen nicht alle dasselbe Monster. Und nicht die richtigen.“

„Du meinst Zombies?“

„Und den Yeti, ja. Natürlich gibt es Yetis, aber sie haben keine langen, spitzen Zähne, und sie wohnen auch nicht in Südkalifornien. Außerdem sind sie friedlich, nicht aggressiv. Erinnerst du dich noch an diesen einen Fall – die Frau in Hillcrest, die schwor, ein Wolfsmann habe ihr die Tür eingetreten und sie angegriffen?“ Glücklicherweise hatte sich das schnell geklärt. Dass die Öffentlichkeit glaubte, ein Lupus könnte zu einem blutrünstigen Wesen mutieren, halb Mann, halb Tier, wie es Hollywood so liebte, konnten sie gar nicht gebrauchen. Weder die Frau noch die Tür hatten irgendeinen Schaden davongetragen.

„Die Leute sehen Filmmonster.“

„Das ergibt keinen Sinn, oder? Ein halbes Dutzend Menschen, ohne irgendeine Verbindung untereinander, leiden auf einmal unter vorübergehenden Wahnvorstellungen. Jedes Mal rufen mich die Cops, weil es der Chief so angeordnet hat. Bin ich paranoid, wenn ich denke, dass Chief Delgado das nur tut, weil er mir immer noch nachträgt, dass ich die Polizei verlassen habe? Oder überschätze ich meine Bedeutung?“

Er hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. „Du weißt doch, was man sagt. Auch Paranoide können echte Feinde haben.“

„Hmmm.“ Merkwürdigerweise fühlte sie sich jetzt besser. „Oder er will sich einfach nur absichern. Für alle Fälle. Noch hat die Presse keinen Wind davon bekommen, aber wenn das so weitergeht, wird es unvermeidlich sein. Er will sagen können, dass die ach so wichtige Einheit des FBI auch nichts gefunden hat. Ich frage mich …“

„Was?“

„Wahnvorstellungen, Halluzinationen. Könnte sich um eine neue Droge handeln, aber die Cops wissen von nichts Neuem, das im Umlauf wäre. Natürlich zirkuliert das meiste von dem hippen, teuren Zeug auf Partys und in Clubs, also … Max“, sagte sie und meinte den Besitzer des Club Hell.

„Niemand ist mehr gegen Drogen als Max.“

„Aber er würde wissen, wenn es etwas Neues gäbe. Etwas Teures“, sagte sie wieder und dachte dabei an die Frau in Hillcrest. Hillcrest war keine billige Wohngegend, und die Frau war in dem Alter gewesen, in dem man viel in Clubs ging. Keines von beidem fiel in Lilys Zuständigkeit, aber trotzdem … Sie zückte ihr Handy. „Ich rufe ihn später an. Erst ist der Chief dran.“

„Willst du ihn fragen, ob er dir absichtlich zusetzt?“

Sie prustete, während sie sich durch ihr Telefonbuch blätterte. „Als wenn er mir die Frage beantworten würde. Nein, die andere Möglichkeit, die mir einfällt, ist irgendeine Art von Gift. Vielleicht haben diese Menschen etwas über das Wasser oder mit einer Tomate oder so aufgenommen. Ich will wissen, ob er das Gesundheitsamt verständigt hat. Wenn nicht, tue ich es.“ Und sie wusste, wen sie anrufen musste. Sie kannte diese Stadt. Was nach den vielen Reisen in andere Städte, die sie in letzter Zeit unternommen hatte, eine Wohltat war.

„Officer Munoz sah so jung aus“, sagte sie. Sie wählte die Nummer des Polizeichefs von San Diego.

„Hmm hmm.“

„Sehe ich in deinen Augen manchmal schrecklich jung aus?“

„In meinen Augen siehst du immer genau richtig aus.“

„Das ist keine Antwort.“

Er lächelte und sah weiter geradeaus. „Und ich bin kein Dummkopf.“

Auch Lily lächelte, als sie die vertraute Raucherstimme der Sekretärin des Chiefs hörte. Schön, wieder zu Hause zu sein.

Hinter einem 7-Eleven-Markt, neben einem vollen, stinkenden Müllcontainer krümmte sich ein kleiner Mann vor Lachen. „Oh, hast du gesehen, was die Frau für ein Gesicht gemacht hat?“, sagte er auf Chinesisch. „Hast du das gesehen? ‚Oh, Hilfe, Hilfe, die große Schlange will mich fressen!‘“, fügte er in kreischendem Falsett hinzu und schlug sich auf den Oberschenkel. „Und dann hat es bum gemacht. Bum!“

Mit seinem schütteren, glatt nach hinten gekämmten Haar sah er ein bisschen aus wie ein asiatischer Hercule Poirot, auch wenn ihm der beeindruckende Schnurrbart fehlte. Vor allem war er unscheinbar – um die vierzig, dunkle, lebhafte Augen und eine kleine Nase. Er trug Sportschuhe mit weißen Socken, weite Khakishorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift „San Diego Chargers“.

Aus dem lauten Lachen wurde ein Kichern. „Du warst brillant, meine Liebe, brillant wie immer“, sagte er zu der Luft neben ihm. Jetzt sprach er Englisch mit einem deutlichen britischen Akzent. Er bückte sich, um die schwarze Kappe aufzuheben, die ihm vom Kopf gefallen war, als er sich vor Lachen geschüttelt hatte.

„Ach ja, hat sie das?“ Mit gerunzelter Stirn richtete er sich auf, aber die Runzeln verschwanden rasch wieder. „Das habe ich nicht gesehen. Ach, das ist das Blut, nehme ich an, oder es war einfach nur Zufall. Aber sie hat nur geguckt. Sie konnte dich nicht sehen.“

„Oh, selbstverständlich.“ Er setzte sich langsam in Bewegung, wie jemand, der nirgendwo hinmuss, und nickte dann und wann, als würde er auf das reagieren, was seine unsichtbare Freundin ihm sagte. Er kam an der kleinen Gruppe Schaulustiger auf dem Parkplatz vorbei, die sich nun, da das Spektakel vorbei war, langsam auflöste. Keiner von ihnen bemerkte ihn.

„Aber um ihn kümmere ich mich für dich, meine Hübsche“, sagte er, als er auf die Straße trat, nachdem er sorgfältig nach links und nach rechts geschaut hatte. „Das weißt du. Und bald.“ Er lächelte. „Das wird eine Überraschung! Ich wünschte, ich könnte … Nein, nein, ich werde sofort wieder gehen. Ich verstehe, dass das schwierig für dich ist. Aber“, fügte er wehmütig hinzu, „es wäre so lustig, ihre Gesichter zu sehen, nachdem ich ihn getötet habe.“