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Nettie ließ Cullen wieder einschlafen, gab Jason einige Anweisungen und ging, um sich selbst ein wenig gewöhnlichen Schlaf zu gönnen. Auch Rule hatte eine kurze Unterredung mit Jason und rief dann Max an. Lily sprach ihrem Chef, Ruben Brooks, zu dieser späten Stunde eine Nachricht auf den Anrufbeantworter seines Büroapparates, nicht auf das Handy. Er würde ihre Nachricht morgen früh vorfinden. Cynna tätschelte ihren Bauch und ging dann auf die Toilette. Jason verließ das Zimmer.

Als Cynna wiederkam, hatte Lily eine Frage an sie. „Blutmagie hat Cullen gesagt. Könnte es Voodoo sein? Nettie sagte, der Zauber erinnere sie an einen Voodoo-Fluch.“

„Im Voodoo wird viel Blutmagie praktiziert, aber nicht nur dort. Manche Traditionen halten Blutmagie einfach nur für schlecht, wie Wicca zum Beispiel – obwohl manche Wiccas einwenden, das eigene Blut könne man ruhig nehmen. Im Wicca ist nicht alles so einheitlich wie im Katholizismus. In dieser Frage kommt die katholische Kirche einfach zu keiner Entscheidung. Aber das ist ja typisch.“ Tief seufzend ließ sie sich auf den Stuhl neben dem Bett sinken. „Meinst du, eine einzige Tasse Kaffee würde dem kleinen Reiter schaden?“

„Da du keinen Kaffee magst, musst du wirklich sehr müde sein.“

„Ich will nicht schlafen“, sagte Cynna.

Rule steckte sein Handy weg. „Dann leg dich wenigstens hin, während wir auf Max warten. Jason kümmert sich gerade darum, dass wir ein Bett bekommen. Der Stuhl ist doch eigentlich nicht besonders bequem.“

„Hm.“ Nach einem Moment lächelte sie müde. „Dann werde ich mich wohl nicht dagegen wehren. Max kommt tatsächlich?“

„Er wird in einer halben Stunde oder weniger hier sein.“ Rule sah Lily an. „Ich habe ihn gebeten, darauf zu achten, dass ihn niemand sieht. Er ist doch ziemlich auffällig. Ich will nicht, dass jemand eine Verbindung zwischen ihm und diesem Zimmer herstellt.“

„Gute Idee.“ Auf die sie selbst nicht gekommen war, was bedeutete, dass auch sie entweder Kaffee oder Schlaf brauchte. „Cynna, was kannst du mir über Blutmagie erzählen? Jede Information kann uns weiterbringen.“

„Eigentlich ist es genau das, wonach es klingt – Magie, die sich ganz oder teilweise aus Blut speist. Blut ist magisch hochaktiv. Dabei ist es egal, ob es von einer Null oder einem großen, bösen Werwolf stammt – Blut hat viel Energie.“

„Das verstehe ich nicht. In Lupusblut ist ein wenig von ihrer Magie. Wie auch im Blut eines magisch begabten Menschen, nehme ich an. Aber das Blut von einem normalen Menschen? Inwiefern ist denn das magisch?“

„Magie ist überall. Oder besser ausgedrückt – potenzielle Magie. Die Sache ist, dass sie normalerweise nach ihrer Umwandlung einfach nur da ist – inaktiv, nicht aktiv. Dazu sind Zauber da. Sie nutzen ein bisschen von der inaktiven Magie und lassen sie aktiv werden.“

„Ich weiß, du glaubst, das hört sich logisch an.“

Cynna strich sich mit der Hand durch das Haar, sodass die kurzen Haare wieder in die Höhe standen. „Cullen kann das besser erklären als ich. Sagen wir, in einem Zauber wird eine Rose benutzt – vorausgesetzt, es ist ein guter Zauber, der von einem Praktizierenden durchgeführt wird, der weiß, was er tut. Denn wenn es ein schlecht gemachter Zauber wäre, würde einfach nichts passieren. Aber in diesem Fall ist es ein wirksames Ritual, das von jemandem durchgeführt wird, der ein bisschen von seiner Magie mit hineingibt. Dann ist die Rose nicht nur einfach Rose, sie agiert auch als Rose. Das ist wie der Unterschied zwischen einem Verb und einem Substantiv.“

„Und Blut hat viel potenzielle Magie?“

„So könnte man sagen.“ Cynna gähnte herzhaft. „Pardon. Ein Grund, warum Blutzauber einen schlechten Ruf haben, ist, dass mit dem Blut einer Person ein gegen sie gerichteter Zauber mit Energie gespeist werden kann. Eine Verwünschung oder ein Fluch, mit anderen Worten. Das ist das, was jemand mit Cullen gemacht hat, obwohl es keiner Verwünschung und keinem Fluch ähnelt, die ich kenne.“

„Er sagte, dass der Zauber seine Energie aus seinem Blut beziehe. Tun das nicht alle Blutflüche?“

„Nicht ganz. So, wie er es gesagt hat … Ich kann es nur vermuten, aber es hörte sich so an, als wenn er jetzt seine Energie von ihm bekommen würde. Dass er also nicht ursprünglich schon von seinem Blut gespeist wurde, das ihm jemand irgendwie abgenommen hat, sondern nur jetzt, während er in ihm ist. Das ist ganz schön ausgefuchst. Ich habe noch nie von einem Zauber gehört, der so arbeitet.“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Und du weißt ja, bei dem Thema spielt Cullen verrückt. Er wird den Zauber knacken wollen. Nein, er wird ihn verstehen wollen.“

Sie klang bedrückt, aber das war nicht der Grund für Lilys plötzliche Unruhe. Ein solcher Zauber, wie ihn Cynna beschrieben hatte, wäre schwer außer Kraft zu setzen. Solange Cullen lebte, würde er immer genug Energie bekommen. „Nettie sagte, Cullens Körper würde sich gegen seine eigene Magie wehren.“

„Das stimmt. Heilung – normale Heilung – findet durch das Blut statt. Der Zauber stört entweder diesen Prozess oder macht das Blut toxisch. Cullens Magie repariert weiterhin die Schäden, aber den Zauber kann sie nicht abstoßen, und deshalb vergiftet dieser sein Blut immer wieder aufs Neue.“

Lilys Telefon meldete sich mit einem Klingeln, das ihr sagte, dass es sich um einen weitergeleiteten Anruf von ihrer offiziellen Nummer handelte, deshalb ging sie dran. „Yu.“

„Hallo, Schätzchen.“

Die raue Stimme erkannte sie sofort. Komisch. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich so lebhaft an Codys Stimme erinnern würde. Lily spürte, wie sich ihre Mundwinkel hoben. „Das habe ich dir nie abgewöhnen können. Was ist los?“

„Gar nichts.“ Er klang müde. „Wir machen hier gerade Schluss. Dachte, ich sage dir Bescheid. Oh, und der große Oberwolf lässt dir ausrichten, dass einer seiner Leute eine Fährte gefunden hat, die dann aber irgendwann aufhörte. Er will wissen, wie es dem Opfer geht. Und ich auch.“

„Cullen lebt. Außerdem reagiert er auf einen fiesen Zauber, der ihn fast umgebracht hätte. Und damit wäre es dann mein Fall.“

Cody schwieg für eine Weile. „Dagegen kann ich wohl nichts machen. Ich hätte nie gedacht, dass ich dich mal auf der Seite der Bundespolizei erlebe.“

„Manchmal fühlt es sich tatsächlich seltsam an.“ Auf einmal lagen ihr ein Dutzend Fragen auf der Zunge. Fragen, die nichts mit dem Fall zu tun hatten. Oder mit der Gegenwart. Nur mit Mühe schob sie sie beiseite und stellte nur die, die wichtig waren.

Immer noch keine Spur von der Waffe. Keinerlei Spuren, die hätten gesichert werden können. Sie sprachen gerade darüber, welche Rolle das Büro des Sheriffs bei den Ermittlungen spielen würde, als es an der Tür klopfte. „Ich muss auflegen“, sagte sie schnell, zog ihre Waffe und steckte das Telefon zurück in ihre Hosentasche.

Rule öffnete die Tür. Es war Jason. Auf ihr Nicken hin rollte er ein zusammengefaltetes Bett ins Zimmer. Unter dem Arm trug er ein großes Bündel Decken.

Die Decken sagten: „Mist, ich kriege keine Luft.“

„Moment.“ Jason legte die Decken auf den Boden und hob die oberste hoch, unter der ein ein Meter siebenunddreißig großer, finster dreinblickender Gnom zum Vorschein kam.

Max hatte wachsame kleine Augen, die tief unter buschigen graumelierten Brauen lagen. Seine Nase bog sich hinunter zu seinem Kinn wie ein Tropfen geschmolzenen Wachses. Er hatte beinahe gar keine Lippen, und seine Haut hatte die Farbe von Pilzen. Seine Schultern waren breit, sein Hals praktisch nicht vorhanden, und sein Anzug hätte aus den zwanziger Jahren stammen können. Der schwarze Filzhut auf seinem kahlen Kopf passte perfekt dazu. Die neonpinkfarbenen Socken weniger.

Er strich seine Anzugjacke glatt und brummte leise etwas von Idioten und Versagern.

„Schöne Socken“, sagte Lily.

Er betrachtete zufrieden seine Füße. „Gan hat sie mir geschenkt. Die dumme Frau hat den schlechtesten Geschmack der dreizehn Welten, aber ficken, das kann sie. Sag mal, möchtest du –“

„Nein“, sagte Lily entschieden.

„Habe es mir fast gedacht. Du bist ja die Auserwählte.“ Sein Blick wanderte zu Cynna, die immer noch auf dem einzigen Stuhl im Raum saß. Statt sie zu fragen, ob sie mit ihm ficken wolle – seine übliche Begrüßung, wenn er freundlich gestimmt war –, sah er von ihr zu Cullen, der reglos auf dem Bett lag, und ging zu ihm.

„Verrückter Mistkerl“, murmelte er. „Jetzt haben sie dich aber wirklich erwischt, was? Gut, dass Rule so schlau war, mich anzurufen. Der Killer ändert also sein Aussehen?“

Erst nach einem Moment begriff Lily, dass er sie fragte und nicht Cullen. „Vielleicht verwirrt er auch nur ihre Sinne.“ Knapp beschrieb sie, was die verschiedenen Zeugen gesehen hatten. „Wenn es eine echte Illusion gewesen wäre, würde er doch für alle gleich aussehen, oder nicht?“

Max drehte sich zu ihr um. „Du bist gar nicht so blöd, was? Das stimmt zwar nicht ganz, aber immerhin ein bisschen. Ja, eine echte Illusion würde für alle gleich aussehen. Dieser Typ macht etwas viel Einfacheres. Hört sich an, als hätte er jedem Einzelnen vorgemacht, den zu sehen, den er auch erwartet hatte, woraufhin ihre Hirne die entsprechende Person ganz von selbst eingesetzt haben.“

„Warum hat er nicht einfach allen gesagt, ihn gar nicht zu sehen?“

„Weil er kein verdammter Idiot ist. Bei so vielen Menschen musste er gesehen werden, damit niemand gegen ihn stieß.“ Seine Augenbrauen zogen sich zu einem möglicherweise nachdenklichen Stirnrunzeln zusammen. „Das ist mächtige Mentalmagie. Große Kunst. Ganz große Kunst.“

Das ließ Lily besorgt fragen: „Kann diese Art von mentaler Magie auch bei dir wirken?“

Max schnaubte. „Wohl kaum. Jemandem zu sagen, was er zu sehen hat – das ist schon beinahe Zwang. Und ich mag es nicht, wenn man mich zu etwas zwingt.“

„Mein Vater auch nicht“, sagte Rule trocken, „aber diese Magie scheint auch bei ihm gewirkt zu haben.“

„Der arme Kerl ist genetisch eben nicht so gut ausgestattet wie ich.“ Mit einem äußerst merkwürdigen Gesichtsausdruck drehte er sich zu Cynna um. Erst nach einem Moment erkannte Lily, dass er lächelte.

Allerdings lächelte er nicht Cynna an. Sondern ihren Bauch.

Max marschierte zu Cynna und legte ihr beide Hände flach auf den Bauch.

„He“, sagte Cynna. „Eigentlich fragt man vorher.“

„Ich habe dir noch gar kein Geschenk für das Baby gemacht“, verkündete Max. „Das tue ich jetzt.“ Er starrte angestrengt ihren Bauch an. Einen Moment später riss er die Augenbrauen hoch. „So ein Hurensohn!“

„Er ist mein Sohn“, sagte Cynna. „Dann nennst du mich also eine Hure?“

„Hab dich nicht so. Und halt den Mund, ich muss mich konzentrieren.“ Er begann wieder vor sich hin zu murmeln, aber nicht auf Englisch. Und auch in keiner anderen Sprache, die Lily kannte. Es hörte sich eher an, als würde jemand mit einem Schluckauf eine Mischung aus Russisch und Deutsch reden.

„So.“ Max klang sehr zufrieden, als er seine Hände von Cynnas Bauch nahm. Auf seiner Stirn stand Schweiß. „Ich habe ihm einen Geburtsnamen gegeben.“

„Du suchst nicht den Namen meines Kindes aus!“

Max verdrehte die Augen. „Ich sagte Geburtsname, nicht Rufname. Den habt ihr ihm schon gegeben.“

„Nein, haben wir nicht. Wir haben uns noch nicht entschieden. Was ist ein Geburtsname?“

„Tja, er glaubt, dass er schon einen Namen hat. Wenn du anderer Meinung bist, musst du das mit ihm ausmachen.“

Cynna machte große Augen. „Du kannst mit ihm sprechen?“

„Natürlich nicht. Er ist ja noch nicht geboren. Dabei wird ihm sein Geburtsname helfen. Bück dich.“

„Was? Warum?“

Wieder verdrehte er die Augen. „Wie soll euch der Geburtsname helfen, wenn du ihn nicht kennst? Bück dich zu mir herunter, damit ich ihn dir sagen kann.“

Verblüfft und ein bisschen erbost gehorchte Cynna. Aber als Max sich neben ihr aufbaute und ihr etwas ins Ohr flüsterte, veränderte sich ihre Miene. „Oh …“

Vom Bett her kam eine schwache Stimme. „Du hast meinem Sohn einen Geburtsnamen gegeben.“

Cullen war aufgewacht. Er hatte den Kopf auf dem Kissen zur Seite gedreht und sah Max an.

Max machte ein mürrisches Gesicht. „Ich hätte fragen sollen. Ich hätt’s ja auch gemacht, aber du musstest dich ja unbedingt niederstechen lassen.“

„Danke dir, mein Freund. K’recti afhar kaken.“ Cullens Hand schob sich leicht in seine Richtung.

Max ergriff sie. Wurde er rot? Schwer zu sagen bei der fahlen Haut. Er erwiderte etwas in der Sprache, die halb nach Schluckauf, halb nach Russisch klang, und fügte dann auf Englisch hinzu: „Ich dachte, das sei nicht schlecht. Der Knirps wird ja zuerst so mickrig wie ein Mensch sein.“

Cullen lächelte matt. Sein Blick wanderte zu Cynna. „Der Geburtsname … Wenn der kleine Reiter Probleme hat, wenn er krank ist oder schwer verletzt, dann musst du ihn benutzen. Damit bezieht er Kraft von Max. Aber er wirkt nicht ewig, nur …“ Er blickte zu Max und hob leicht die Augenbrauen.

Max zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, wie lange bei einem Lupuskind. Ein Jahr auf jeden Fall. Vielleicht länger.“

„Wunderbar.“ Cynna stemmte sich zum Stehen hoch, umfasste Max’ Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn auf den Mund. „Danke, Max.“

Jetzt war es unverkennbar, dass er rot wurde. „Sehr gern geschehen. Sag mal, hast du Lust –“

„Nein.“ Cynna grinste. „Aber danke für die Nachfrage.“

Cullens Blick sprang wieder zurück zu Cynna. Er lächelte – und kurz darauf rollten seine Augen nach hinten.

Jason beugte sich über ihn. „Alles in Ordnung. Er schläft wieder. Ich weiß gar nicht, wie er überhaupt aufwachen konnte.“

„Der Schutzbann, nehme ich an.“ Cynna rieb sich abwesend den Bauch. „Letzte Woche haben er und ich einen um den kleinen Reiter gelegt.“

Max’ Augenbrauen hoben sich. „Das ist nicht möglich, nicht in einem lebenden Körper.“

„He, ich nutze meinen Körper die ganze Zeit für Magie. Bisher hat es noch immer geklappt. Deine Namensgebung hat etwas in mir ausgelöst, und der Bann hat ihn geweckt.“

„Hmpf. Na ja.“ Max zog einen Stapel Karten aus der Hosentasche. „Wer hat Lust auf eine Runde Poker?“

„Wir gehen jetzt, und Cynna legt sich hin, sobald Jason das Bett aufgebaut hat“, sagte Rule. Zu Jason sagte er: „Spiel ja nicht um Geld. Max schummelt.“