25

Die Quarantäneräume lagen in einem kurzen Flur, der von dem Hauptflur abging; es war beinahe eine Nische. Schnellen Schrittes steuerte Rule die Ecke an.

Cynna folgte ihm auf dem Fuß. „Ist ein Scheißgefühl, was? Wenn man sich mit jemandem gestritten hat, den man liebt, meine ich.“

„Ich möchte lieber nicht darüber reden“, sagte er so höflich wie möglich.

„Ich weiß. Aber ich wollte dir sagen, dass ich und Cullen uns ganz oft streiten und meistens wegen Kleinigkeiten. Bei den wichtigen Themen gehen wir vorsichtig miteinander um und fassen uns mit Samthandschuhen an.“

Dieses Bild brachte ihn beinahe zum Lächeln. „Äh … wir sind hier nicht unter uns, weißt du. In den meisten dieser Zimmer liegen Patienten, und die Schwestern auf der Schwesternstation –“

Sie schnaubte. „Die Schwesternstation ist mindestens einen halben Block entfernt. Der Flur hier ist ganz schön lang. Und was die anderen Patienten angeht: Selbst wenn eine Tür aufstünde, würden die meisten nicht mehr als ein oder zwei Wörter verstehen, wenn wir daran vorbeigehen.“

„Dann glaube ich dir das einfach mal.“ Rule fiel es nicht leicht einzuschätzen, was Menschen hören konnten und was nicht. „Wolltest du Senf oder Mayonnaise auf deinen Hamburger?“

„Natürlich. Entweder das eine oder das andere oder beides zusammen. Also, wir streiten uns so, wie es zu uns passt, aber du und Lily, ihr seid anders. Ihr regt euch nicht über Kleinigkeiten auf, und das ist gut so. Ihr verhandelt eher, statt zu streiten. Aber dann und wann muss es bei jedem Paar einmal aus irgendeinem wichtigen Grund richtig krachen.“

Sie waren bei dem Aufzug angekommen. Er drückte den Knopf. Sie würde ihn bald geknackt haben, das wusste er. „Es war ein wichtiger Grund.“

„Das habe ich mir gedacht.“

„Und ich hatte recht.“ Das klang etwas zu heftig.

Cynna prustete.

„Aber ich hatte auch unrecht. Der Zeitpunkt, es anzusprechen, war falsch und auch die Art, wie ich es gemacht habe. Ich war mir nicht im Klaren darüber …“ Er war über das, was er gesagt hatte, beinahe genauso überrascht gewesen wie Lily. „Ich wollte ihr das gerade jetzt nicht einfach so vor den Kopf knallen. Meine Gefühle waren verletzt. Und als ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.“

„Es wäre ja auch merkwürdig, wenn der Mensch, der dir am wichtigsten ist, deine Gefühle nicht verletzen könnte, oder?“

„Du hast mich gerade daran erinnert, warum ich dich so mag.“

Cynna lächelte. „Gut.“ Sie reckte sich – aber nicht sehr, das war nicht nötig – und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ruf sie an. Dann fühlst du dich besser.“

Er lächelte nicht zurück, aber er fühlte sich bereits jetzt schon besser. „Kümmere dich um deinen Bann.“

„Das mache ich.“ Sie gab ihm einen Klaps auf den Po. „Sag Lily nicht, dass ich das getan habe.“

Jetzt grinste er doch.

Sie wedelte mit den Fingern als Abschiedsgruß und ging den Flur zurück. Der Aufzug meldete sich.

Zwei Personen stiegen aus. Als er einstieg, musterte er sie genau, auch wenn es wenig Sinn hatte, und stellte fest, dass es weder jemand war, den er erwartet hatte hier zu sehen, noch jemand, den er kannte. Vielleicht bedeutete das, dass sie die waren, die sie zu sein schienen: ein älterer Mann mit dunklem Haar und dunkler Haut, in Khakihosen und einem kurzärmligen Hemd, und ein Mann in einem marineblauen Anzug, an dem ein Namensschild steckte. Beide rochen nach Mensch. Sie redeten nicht miteinander oder machten die kleinen Gesten, die auf eine Freundschaft oder Bekanntschaft hingedeutet hätten.

Nur um sicherzugehen, hielt Rule die Aufzugtüren auf, um zu sehen, wohin sie gingen – auf direktem Weg zur Schwesternstation, wo der Mann im Anzug als Doktor Soundso begrüßt wurde und der in den Khakihosen nach Zimmer Nummer 421 fragte.

Er ließ zu, dass die Türen sich schlossen, und drückte den Knopf, auf dem B stand.

Der Aufzug war langsam. Quietschend hielt er im dritten Stock, wo eine junge Krankenhauspraktikantin zustieg. Sie war blond und munter und roch nach Mensch … und so, als sei sie interessiert. Sie warf einen Blick auf die Knöpfe und lächelte ihn kokett an. „Ich fahre auch hinunter zum Mittagessen. Hätten Sie etwas gegen Gesellschaft?“

„Das wäre wunderbar“, sagte er, als sich die Türen wieder schlossen, „aber leider hole ich nur für meine Freunde etwas und werde nicht in der Cafeteria essen.“ Der Aufzug setzte sich schwankend in Bewegung. Mir geht es gut, sagte er sich.

Das Lächeln des Mädchens wurde nicht schwächer. Sie hatte Grübchen. „Sind unter den Freunden auch Frauen?“

Er lächelte zurück. Eigentlich müsste er jetzt fest, aber freundlich ein „Nein“ zu verstehen geben, aber sie war süß und hübsch und roch gut. Wieso sollte er sie nicht wissen lassen, dass sie ihm gefiel? „Eine, ja. Aber sie ist nur eine Freundin. Meine Verlobte wird –“

Das Licht ging aus. Der Aufzug kam mit einem Ruck zum Stehen. Eine Sirene ging los, und die Praktikantin schrie.

„Alles in Ordnung“, sagte Rule beruhigend, obwohl sein Herz vor Panik raste. In der Falle – er saß in der Falle –

„D-das ist der Feueralarm“, sagte das Mädchen. Eine kleine Hand packte seinen Arm und drückte ihn. „Es brennt. Wir müssen hier raus. Es brennt.“

Sie hatte recht. In der völligen Dunkelheit der kleinen Kiste, seine Sinne durch Angst geschärft, roch Rule die Panik des Mädchens – und Rauch. Nur schwach. Ohne Elektrizität brachte auch die Lüftung keine neue Luft in ihr hängendes Gefängnis.

Wir haben genug Luft, sagte er sich. Genug Luft.

„Gibt es hier nicht eine Fluchtklappe?“, sagte sie und umklammerte seinen Arm noch fester. „Ich kann nichts sehen. Ich komme nicht dran. Eigentlich müsste doch das Notlicht angehen, aber ich kann nichts sehen!“

„Schscht.“ Rule tätschelte die kleine Hand und versuchte, die Panik des Wolfs zu ignorieren. Jetzt musste der Mann die Entscheidungen treffen. „Wir kommen hier schon raus. Ich muss nur einen Moment nachdenken.“

Könnte die kokette Praktikantin der Killer sein? Doch den Gedanken verwarf er sofort wieder. Er war ja nicht die Zielperson. Das war Cullen, und kein vernünftiger Killer würde sich in einem Aufzug einschließen, weit weg von seinem Ziel. Nein, der wäre jetzt schon im vierten Stock oder auf der Treppe auf dem Weg dorthin.

Aber das Feuer …

Er runzelte die Stirn. Warum brannte es?

Das ergab keinen Sinn. Warum sollte ein Killer, der sich unbemerkt durchs Haus bewegen konnte, die Elektronik kurzschließen und ein Feuer entfachen, um zu seiner Zielperson zu gelangen? Plante er, Cullen abzuschießen, wenn er evakuiert wurde?

Wenn ja, war er dumm. Für einen Killer, der wie jeder x-Beliebige aussehen konnte, gab es viel einfachere Methoden. Es sei denn, die ganze Situation war eine Illusion? War so etwas möglich?

„Können Sie sie öffnen?“, wiederholte die Praktikantin jetzt lauter. „Es heißt ja, man soll bei einem Stromausfall im Aufzug bleiben, aber das will ich nicht. Ich will nicht.“

Er würde so vorgehen müssen, als wenn das Feuer, der stecken gebliebene Aufzug und alles andere auch real wären. Sonst wäre er wie eingefroren, blockierter als jeder andere feststeckende Aufzug. „Ja, wir müssen hier raus.“ Rule gelang es, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Seine Stirn war feucht, doch das konnte sie nicht sehen. „Ich werde die Türen öffnen, um zu sehen, wo wir sind. Dazu brauche ich beide Arme.“

„Oh. Oh, natürlich. Die Türen.“ Ihr Lachen war zittrig, aber sie ließ ihn los. „Sie lassen sich doch öffnen, ja?“

Wurde der Rauchgeruch stärker?

„Ich glaube, ja.“ Er packte die Kanten der Türen und schob sie mit aller Kraft auf. Vor ihm lagen Dunkelheit, Rauch und Lärm. Jetzt konnte er Rufe hören – die Treppe, hierher, bleib ruhig, wo ist Maria, hol den Rollstuhl, Maria! Beeilung, Treppe, oh Gott, oh Gott, hilf mir, kann jemand bitte …

Er sah nach oben. Zwar konnte er nichts erkennen, aber seine Nase sagte ihm, dass der Rauch aus dieser Richtung kam. Als er nach unten blickte, sah er genauso wenig. Offenbar war der Strom überall ausgefallen. Der Rauch minderte ebenfalls seine Sicht. Er begann, die Wand, die vor den aufgeschobenen Türen lag, abzutasten.

Ja. Dort waren Öffnungen. Durch die käme er hier heraus.

Vor Erleichterung schauderte er. Sein Wolf beruhigte sich, bereit, jetzt da er wusste, dass er nicht gefangen war, dem Mann die Führung zu überlassen. Rule sank auf ein Knie, tastete nach der Öffnung und fand sie.

Sowohl über als auch unter ihnen waren die Außentüren zu den Stockwerken aufgesprungen, anders die Innentüren ihrer Aufzugskabine. In vielen neueren Systemen, wie dem in Rules Gebäude, wurde der Aufzug bei einem Stromausfall mit Batteriebetrieb ins Erdgeschoss gefahren, wo sich die Türen dann automatisch öffneten. Das war hier nicht geschehen, aber immerhin hatten sich die Türen in wenigstens zwei Stockwerken geöffnet. Und dort müsste jetzt eigentlich ein Notlicht brennen, so wie es das Mädchen gesagt hatte.

Mit anderen Worten, die Technik spielte verrückt. „Eine Magiewelle?“, murmelte er. Oder war es Absicht? Irgendwie hatte der Zauberer die Technik des Krankenhauses ausgeschaltet.

Und es war keine Illusion. Rule wollte einfach nicht glauben, dass eine simulierte Situation so detailliert sein konnte, dass sie nicht existierenden Rauch einschloss.

Wenn das also alles real war, bedeutete das, dass der Killer dumm war oder dass er aus irgendeinem Grund nicht sein Erscheinungsbild verändern konnte?

Der Angriff auf Cullen war perfekt ausgeführt gewesen, leise und konzentriert. Das war nicht das Werk eines dummen Mannes gewesen. Es musste wohl so sein, dass seine Illusionen den Zauberer heute im Stich ließen.

„Was ist denn?“

„Nichts. Wir kommen hier raus“, sagte er zu dem Mädchen, erhob sich und fand seine Begleiterin in der Dunkelheit dort, wo er sie vermutet hatte. Er packte aufmunternd ihre Arme. „Wir hängen zwischen zwei Stockwerken fest, aber die Türen unter uns lassen sich öffnen.“ War es das Erdgeschoss oder der erste Stock? Den Keller hatten sie vermutlich noch nicht erreicht, aber sicher war er sich nicht.

„Da ist Rauch. Ich rieche Rauch.“

„Er zieht den Aufzugschacht hinunter. Das Feuer ist über uns.“ Wie hoch über ihnen? Im dritten Stock? „Es ist ein bisschen komisch, sich fallen zu lassen, wenn man nichts sieht. Ich gehe zuerst, damit ich Sie dirigieren und auffangen kann.“

„Okay. Okay. Dann los. Ich muss den Patienten helfen. Es wird bestimmt Hilfe gebraucht, wenn die Patienten hinausgebracht werden.“

„Gut.“ Dass sie auf einmal trotz ihrer großen Angst Mut zeigte, überraschte ihn so, dass er ihr einen Kuss auf den Scheitel drückte. „Gut. Sie sind sehr tapfer. Ich lasse mich jetzt runter und fange Sie auf.“

Ohne weitere Umstände setzte er sich auf den Boden, schwang die Beine über die Kante und landete geschmeidig auf dem Boden.

„Ich bin gleich wieder hier“, sagte er und sah sich mit einem schnellen Blick um. Hier war es nicht stockfinster. Der Rauch hatte das wenige Licht verschleiert, das aus dem langen, schmalen Fenster über der Schwesternstation kam.

Der erste Stock. Er befand sich im ersten Stock. Schwestern und anderes Personal liefen geschäftig hin und her, riefen laut, aber auf geordnete Weise. „Ich strecke die Arme nach Ihnen aus – ja, ich habe Sie“, sagte er, als er einen Fuß in einem Turnschuh fand. „Drücken Sie sich ab, ich fange Sie auf.“

Sie schluckte und tat, wie ihr geheißen. Er fing sie und ließ sie auf den Boden hinunter. „Wir sind hier im ersten Stock“, sagte er. „Sehen Sie? Die Treppe liegt an beiden Enden dieses Flurs. Ich muss Sie jetzt allein lassen.“

„Warten Sie“, rief sie, als er sich umwandte und in die Hocke ging, um sich abzudrücken. „Sie gehen doch nicht etwa wieder da rein? Das dürfen Sie nicht!“

„Meine Freunde sind im dritten Stock. Ich muss nach ihnen sehen.“

„Nein, tun Sie das nicht!“

Er sprang hoch, packte die Bodenkante der Aufzugskabine, zog sich hoch, stand auf und tastete nach der Spalte, die er eben gefunden hatte. Trotz des unbequemen Winkels fiel es ihm nicht schwer, sich hochzuziehen.

Zweiter Stock. Hier war der Rauch so dicht, dass er nur wenig sah. Es war heiß. Feuer konnte er nicht entdecken, was er aber in dem Rauch und der Dunkelheit kaum erwarten konnte, wenn er nicht ganz nahe dran war. Die Stimmen klangen verzweifelter. Jemand rief immer noch nach Maria. Er hörte Husten. Er zögerte, hin- und hergerissen – er konnte den Menschen aus dem Gebäude helfen –, aber seinen Wolf zog es in den dritten Stock.

Er tastete nach dem Dach der Aufzugskabine. Der Raum war eng, aber er würde hineinpassen. Er hievte sich in die Höhe und rutschte vorwärts.

Dunkelheit und Rauch. Seine Augen brannten. Aber als er aufstand, schien der Rauch dünner zu werden. Schnell zog er Schuhe und Socken aus, ergriff die Kabel, die die Kabine hielten, und begann zu klettern.

Er kam schnell voran, trotz des Fettes, das die Kabel rutschig machte. Gefettete Seile war er schon hochgeklettert. Kabel waren anders, aber nicht so viel, dass er sehr viel langsamer hochgekommen wäre.

Sobald er die Position des Aufzugs erkannt hatte, hatte Rule beschlossen, welchen Weg er nehmen würde. Die Treppen waren sicher voller Menschen, die alle nach unten wollten. Er aber wollte nach oben. Dies war der schnellste Weg – hatte er zumindest gehofft. Doch als er auf der Höhe des dritten Stocks war, begriff er, dass sein Plan einen Fehler hatte.

Die Türen in diesem Stock hatten sich nicht wie die in den anderen Stockwerken ganz geöffnet. Verdammt. Alles, was er sah, war ein vielleicht dreißig Zentimeter breites Rechteck aus schwachem Licht. Trotz seiner vor Rauch tränenden Augen konnte er den blassen Spalt deutlich erkennen.

Wie viele Krankenhausaufzüge war auch dieser tief genug, um eine Bahre oder ein Bett aufzunehmen. In der Mitte dieses Schachtes, ungefähr ein Meter fünfzig über der schwach leuchtenden, lockenden Öffnung, hing Rule.

Er hatte vorgehabt, sich bis zu der Öffnung vorzuhangeln und sich dann durch sie hindurchzuschwingen. Wenn die Türen vollständig geöffnet gewesen wären, hätte es auch geklappt. So aber hätte er sich wohl schräg durchzwängen müssen – wenn es irgendwo einen Platz gegeben hätte, wo er hätte stehen können.

Aber den gab es nicht.

Er musste wohl wieder zurück in den zweiten Stock klettern und dann die Treppe nehmen. Aber das Gefühl von Dringlichkeit, dass ihn immer mehr bedrängte, war so stark, dass er weiter dort hing und den Spalt anstarrte. Er klammerte sich fester mit den Beinen an das Kabel, um seine langsam müde werdenden Arme zu entlasten.

Er würde seinen Plan nicht ändern. Er musste sich nur einfach während des Falls drehen, um einen Arm und ein Bein durch die Öffnung zu bekommen – und sich dann hindurchhangeln. Wenn er es nicht schaffte … Nun ja, eineinhalb Stock tief zu fallen, würde ihn nicht umbringen. Vermutlich. Es sei denn, er würde bewusstlos und die Flammen erreichten ihn – hör auf damit, sagte er sich, aber sein Mund war trocken vor Angst.

Verbrennen, nein, das wollte er nicht. Ganz gewiss nicht.

Dann muss es eben beim ersten Versuch klappen.

Das war Benedicts Stimme. Benedicts Worte. So etwas hatte er oft gesagt, als Rule noch bei ihm in der Ausbildung gewesen war. Unwillkürlich nickte Rule.

Und so zog er sich höher. Jetzt war sein Körper dran, nicht sein Kopf. Als er meinte, dass die Flugbahn stimmte, änderte er den Griff, um sich zu positionieren – und warf sich in die Luft.

Sein rechter Arm fuhr heraus, griff nach dem blassen Rechteck. Der Ballen seines rechten Fußes traf mit schmerzhafter Wucht auf die Metallschiene, doch sein Knie gab nach, um den Stoß abzufangen. Er stieß den Arm durch die Öffnung, und noch während sein Gewicht ihn nach unten ziehen wollte, schlang er den anderen Arm um eine Seite der Tür. Er klammerte sich fest und hörte sein Herz laut in den Ohren pochen.

Nicht zu fassen. Er hatte es geschafft.

Noch nicht. Beweg dich.

Erst schob er seinen Fuß hindurch, dann seinen Körper. Die Türen glitten keinen Millimeter zurück, deshalb musste er sich durch den engen Spalt zwängen. Als er endlich durch war, fielen ihm zwei Dinge auf.

Hier war der Rauch viel schwächer. Er schien vor allem aus dem Aufzugsschacht zu kommen. Und es war viel zu still. Der Flur, der zu Cullens Zimmer führte, war dunkel, vermutlich zu dunkel für menschliche Augen – der Rauch verhinderte, dass das Licht aus dem einzigen Fenster weit reichte –, aber auf dem Boden konnte er trotzdem zwei zusammengesunkene Gestalten erkennen.

Stimmen, angstvolle Rufe ertönten, aber nur wenige und vom Westende des Flurs. Am Ostende, dort, wo Cullens Zimmer lag, war es totenstill.

„Hilfe“, sagte eine männliche Stimme. „Helfen Sie mir. Sie wacht nicht auf. Keine wacht auf.“

Die Stimme kam aus der Schwesternstation, die verlassen wirkte. Rule trat näher und spähte über den hohen Tresen. Ein dunkelhäutiger Mann kniete neben einer Frau, die lang ausgestreckt auf dem Boden lag. Eine andere saß mit dem Rücken an den Tresen gelehnt.

„Atmen sie noch?“, fragte er.

Der Mann nickte, die Augen rund vor Angst. „Aber sie kommen nicht zu sich. Mr Peterson in 330 ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Der Strom ist ausgefallen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und sie kommen nicht zu sich!“

Wie lange war es her, seit die Lichter ausgegangen waren? Vielleicht fünf Minuten, dachte Rule. Es kam ihm viel länger vor, aber Rule hatte schon viele Krisen und Kampfsituationen miterlebt und wusste, wie sich Zeit dehnen konnte. „Können Sie den Patienten manuell beatmen?“

„Ich wechsle hier nur die Laken, verdammt! Mit dem anderen Kram kenne ich mich nicht aus. Ich wollte hier jemanden abholen, aber sie schlafen alle!“ Seine Augen waren feucht. Er war kurz davor zu weinen, zu Tode erschrocken – aber verzweifelt auf der Suche nach Hilfe für die Hilflosen.

Ein guter Mann? Oder ein Killer, der sich über eine Frau beugte, die er gerade in Schlaf versetzt hatte?

Rule holte Luft. Er hatte beschlossen, dass der Zauberer aus irgendeinem Grund seine Illusion nicht nutzte. Von dieser Annahme würde er auch weiterhin ausgehen, was bedeutete, dass er nach einem kleinen Asiaten suchte, nicht nach einem schlaksigen Afroamerikaner. „Ich kenne mich mit dem Kram auch nicht aus.“

„Was machen wir dann? Was sollen wir machen, Herrgott noch mal?“

Was immer sie alle bewusstlos gemacht hatte, Gas war es nicht. Denn das wäre immer noch da, weil ja die Klimaanlage nicht funktionierte. Rule würde sich zwar schneller als ein Mensch erholen, aber er würde trotzdem die Auswirkungen spüren. Zumindest wäre er benommen. Aber das war er nicht.

Cullen. Rule musste davon ausgehen, dass er, Cynna und Max ebenfalls bewusstlos waren. Sie waren zumindest hilflos, wenn nicht schon tot.

Rule bebte am ganzen Körper, so stark war der Drang, sich zu bewegen. Er hielt sich noch einen Moment länger zurück. Wenn man handelte, ohne genug Informationen zu haben, führte das oft genug in die Katastrophe.

Die Dunkelheit behinderte seine Sicht. Der Rauch beeinträchtigte seinen Geruchssinn. Er horchte.

Stille. Keine Klimaanlage, kein Piepen der Monitore, keine Stimmen aus dem dunklen Flur. Vielleicht war er zu spät gekommen. Wenn –

Schritte. Leise, kaum hörbar, aber er hörte Schritte im Osten des Flurs. Jemand ging, rannte nicht. Jemand, der Turnschuhe trug oder diese Schuhe mit den Gummisohlen, die Krankenschwestern oft trugen … Möglicherweise war es eine Schwester, die sich leise durch die Dunkelheit bewegte.

Doch das glaubte er nicht. Er sah hinunter auf den Pfleger, der immer noch neben der gestürzten Schwester kniete, und legte den Finger auf die Lippen. Die Augen des Mannes weiteten sich noch mehr. Er konnte nicht wissen, warum Rule wollte, dass er schwieg, aber er schluckte und nickte.

Ein paar Schritte den Flur hinunter sprang er über die erste zusammengesunkene Gestalt – und landete mehr durch Glück als durch Geschicklichkeit nicht auf der zweiten. Konnte eine von ihnen Cynna sein? Hatte sie es zurück in das Zimmer geschafft, bevor der Schlafzauber wirkte, oder war sie hier zusammengebrochen?

Er ging um einen Wäschewagen herum – und das rote EXIT-Schild über der Tür zum Treppenhaus leuchtete auf. Vielleicht funktionierte die Technik wieder, wie gewöhnlich, wenn Magie schwächer wurde.

Im schummrigen Licht des Schildes konnte er jetzt die Nische erkennen, von der Cullens Zimmer ausging – und den Mann, der aus ihr trat. Klein. Dunkles Haar. Es war immer noch nicht hell genug, um seine Gesichtszüge zu erkennen, aber er trug eine Krankenhausuniform.

Das Licht war anscheinend auch für einen Menschen ausreichend, denn der Mann sah ihn und rannte los.

Rule folgte ihm, so schnell er konnte. Er erreichte die Nische – knurrte verärgert – und wirbelte herum. Er musste den Feind fangen. Aber erst musste er nach den anderen sehen, sich vergewissern, dass es ihnen gut ging.

Die Tür zu Cullens Zimmer war noch geschlossen. Eine weiße Einkaufstüte stand davor und schimmerte geisterhaft im Dunkeln. Rule kam schlitternd zum Stehen. Die Tüte war verknotet. Sie war prall gefüllt.

Der Feind hatte sie hier gelassen. Seine Augen verrieten ihm nicht, was darin war. Vielleicht konnte es seine Nase. Er bückte sich. Erstarrte. Schnappte sich die Tüte und rannte los, als sei der Tod ihm selbst auf den Fersen.

Er versuchte, vorsichtig zu laufen, um die Wucht des Aufpralls zu verringern, aber jedes Mal, wenn sein Fuß auf den Boden traf, spürte er die Erschütterung im ganzen Körper und in dem Paket in seinen Händen. Die Zeit setzte aus, statt sich zu dehnen. Ein Augenblinzeln oder zwei, nachdem er die Tüte ergriffen hatte, kam er an der Schwesternstation vorbei, flankte über den Tresen, ohne den Pfleger zu beachten, und sprang auf die Schränke entlang der Wand.

Dort kauernd, holte er mit dem angewinkelten Arm aus und stieß den Ellbogen durch die Fensterscheibe. Als er die letzten Scherben aus dem Rahmen schlug, schlitzte er sich den Unterarm auf.

Er sah hinaus. Parkplatz. Ja. Danke, DAME.

Rule schleuderte das Plastikbündel so weit hinaus, wie er konnte.

Es explodierte noch in der Luft.