30

An dieser Stelle hielt Madame Yu inne. Ihre Miene war grimmig.

„Und warum“, hakte Rule sanft nach, „haben Sie sich versteckt?“

„Um die Chimei abzulenken, natürlich. Damit sie mich sucht. Sie will, dass ich leide. Wie soll sie wissen, dass ich leide, wenn sie mich nicht findet? Aber ich kann sie so nicht länger ablenken, deswegen zeige ich mich nun wieder. Ich werde bei meinem Sohn und meiner Schwiegertochter einziehen. Sam ist dagegen, aber ich werde sie nicht ungeschützt lassen. Lily, ich werde deinen Schwestern und deinem Schwager sagen, dass sie dorthin kommen sollen. Wenn die Chimei erst einmal aktiv wird, könnte es für sie … gefährlich werden.“

Lily versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn ihre Mutter, ihre Schwestern, ihre Schwager und ihre Großmutter unter einem Dach lebten. Unmöglich. „Ich weiß nicht, ob Susan und Beth das tun werden“, sagte sie zweifelnd. „Nicht ohne zu wissen, was los ist, und das werden wir ihnen ja nicht sagen können.“

Die alte Dame fixierte Lily mit festem Blick und antwortete auf Chinesisch – ein sicheres Zeichen ihres Unmuts. Im Wesentlichen sollte es heißen: „Ich habe nicht all die Jahre meine Position als Alleinherrscherin aufrechterhalten, damit sie sich mir jetzt widersetzen. Sie werden tun, was ich ihnen sage.“

Nun ja. Wenn ihre Großmutter sie so ansah, würden sie ihr wahrscheinlich gehorchen. Aber es würde sehr lebhaft zugehen in Lilys Elternhaus. „Was wird die Chimei jetzt unternehmen, womit rechnest du?“

Ihr Gegenüber zuckte die Achseln. „Mit etwas Gewaltigem, Zerstörerischem. Etwas, das sie schon einmal gemacht hat. Sie ist eigentlich nicht sehr originell. Sie ist sehr geduldig, sehr mächtig, aber sie ändert ihre Gewohnheiten selten.“

„Kannst du nicht ein wenig genauer sein?“

Lilys Großmutter presste die Lippen aufeinander. Sie schüttelte den Kopf.

„Na gut. Zurück zu Cullen. Du sagtest, er irre sich in zweierlei Hinsicht, und hast uns von den Namen erzählt. Worin irrt er sich noch?“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Mr Seabourne hat mehr als eine Fähigkeit, die der Zauberer fürchtet.“

„Mist!“, rief Lily aus, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. „Schwarzes Feuer. Natürlich. Davor hat er Angst. Das kann angeblich alles verbrennen. Vielleicht würde es die Chimei nicht töten, aber ganz sicher verletzen.“

Cullen Seabourne denkt viele Flüche, stellte Sam fest. Er wirft sich vor, dass ihm das nicht selbst eingefallen ist. Er vermutet, dass das schwarze Feuer das Band zwischen euren Feinden zerreißt. Er wünscht, dass ich euch über seine Annahme informiere, dass ein Zauberer, der in einem gewissen Maße an der Unsterblichkeit seiner Geliebten teilhat, nur schwer mit normalen Mitteln zu töten ist.

Das stimmte wahrscheinlich, aber da sie nicht die Absicht hatte, ihn zu töten, würde es kein großes Problem sein. Lily machte sich mehr Gedanken darüber, was sie mit ihm tun sollte, wenn sie ihn einmal gefasst hatten. „Das wollen wir im Hinterkopf behalten, Cullen, aber du bist nicht in der Verfassung, um mit magischem Feuer umzugehen, und wirst es auch in der nächsten Zeit nicht sein.“

Sie warf einen Blick in die Runde. „Nehmen wir einmal an, wir finden diesen Zauberer. Wie sperren wir ihn ein, wenn er alles niederbrennen und Schlösser knacken kann und wer weiß noch was alles? Zu den Methoden der ‚Säuberung‘ möchte ich lieber nicht zurückkehren.“ Damals hatte man den Gefangenen die Zungen verstümmelt und die Hände abgehackt. Und zwar denjenigen, die man für Zauberer hielt – nicht den Schwarzmagiern. Die hatte man vorsorglich gleich umgebracht, auf jede nur erdenkliche Weise.

Rule und Lilys Großmutter tauschten einen Blick.

„Oh nein“, sagte Lily. „Das könnt ihr gleich wieder vergessen. Mord kommt nicht in Frage.

„Nicht für dich“, sagte ihre Großmutter gleichmütig. „Du bist Polizistin, Regierungsbeamtin. Es ist sehr schlecht, wenn Regierungen anfangen, Menschen umzubringen.“

„Es kommt für niemandem in diesem Raum infrage“, sagte Lily und sah dabei Rule an. „Es ist auch sehr schlecht, wenn Regierungen Mord sanktionieren, indem sie einfach weggucken.“

Rule sah sie unverwandt an. „Ich entscheide selbst, was für mich infrage kommt. Aber ihn umzubringen ist nicht meine erste Wahl, also sprechen wir über andere Optionen.“

Zuerst jedoch musste ihnen einmal eine einfallen.

Plötzlich meldete sich Cynna zu Wort. „Schicken wir ihn nach Edge.“

Überrascht sahen Lily und die anderen sie an.

„Das wäre doch sinnvoll“, sagte Cynna. „Wir sind hier nicht auf magische Schwergewichte eingerichtet. Sie schon. Verdammt, dort haben sie es sogar mit Elfen zu tun. Dann werden sie doch wohl auch mit einem Zauberer fertig.“

Ihn in eine andere Welt schicken. Ja. Das würde vielleicht funktionieren. „Wir könnten ihn betäuben“, sagte Lily. „Ihn fangen, betäuben, quer durchs Land fliegen und ihn durch das Tor schicken.“

„Verbannung ist eine Strafe, die eine lange Tradition hat“, sagte Rule, „und das bedeutet, dass es schon Präzedenzfälle gibt. Präzedenzfälle kommen vor Gericht immer gut an. In der Neuzeit gibt es die ‚außerordentliche Überstellung‘ –“

„Die aber nur fast legal ist“, sagte Lily stirnrunzelnd.

„‚Fast‘ reicht uns. Gegen ausreichende Bezahlung werden die Gnome in Edge damit einverstanden sein.“

„Was ist mit der Chimei?“, fragte Lily. „Wird sie ihm dorthin folgen können? Kann sie passieren, ohne ein Tor zu benutzen? Die Gnome werden den Zauberer vielleicht nicht nehmen wollen, wenn sie mit im Paket ist.“

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte ihre Großmutter langsam. „Daran habe ich noch nicht gedacht. Aber ich glaube, sie könnte passieren. Nur weiß ich nicht, ob sie es auch tun würde.“

„Sam, was meinst du?“

Chimei können zwischen den Welten reisen. Aber es kostet sie sehr viel Energie. Ich habe noch nicht über eine solche Möglichkeit nachgedacht. Das werde ich jetzt tun. Er schwieg einen Moment. Ich glaube, Cynna Weaver hat mit ihrem Einfall die Parameter erneut verändert. Ich kann euch sagen, dass dies nur eine vorübergehende Lösung ist. Wenn ihr den Zauberer verbannt und die Chimei ihm folgt – was ganz und gar nicht sicher ist –, wird sie versuchen, ihn zu befreien und hierher zurückkehren.

„Wie vorübergehend?“, fragte Rule.

Das kann ich nicht sagen. Zwanzig Jahre, fünfzig, einige Hundert … Für eure Begriffe ist das wahrscheinlich viel.

„Es könnte klappen.“ Lily schwirrte der Kopf vor all den Möglichkeiten, die sich ihnen plötzlich eröffneten. „Ich rufe Ruben an. Nein, das wäre sinnlos. Ich müsste ihm ja von der Chimei erzählen können.“ Sie blickte Rule an. „Du könntest es.“

„Er wird morgen hier sein“, begann Rule, wurde aber von Lilys Telefon unterbrochen, das „Star Spangled Banner“ spielte. Das Telefon steckte in der Tasche ihrer Jacke, die sie erst holen musste, um den Anruf entgegenzunehmen. „Hier Lily Yu.“

„Das ist gut. Ich habe von dem Brand gehört“, sagte Ruben.

Schuldbewusst sagte sie: „Ich hätte Sie anrufen sollen. Alles ging so schnell, aber ich hätte mich trotzdem melden müssen. Cullen geht es gut. Alle unsere Leute sind unverletzt, aber es gab Todesopfer. Der …“ Sie verstummte und wartete ab, ob die verdammte geis ihr erlauben würde, weiterzureden.

Zu ihrer Überraschung tat sie es. „Der Täter ist ein Zauberer. Die Beweislage deutet darauf hin, dass er hier zwei Feuer gelegt hat – ich bin gerade im Krankenhaus. Mit Magie. Außerdem hat er mit einer Art Übertragungszauber die im Gebäude Anwesenden betäubt, also fällt der Fall in unsere Zuständigkeit. Anwendung von Magie in Ausübung einer Straftat. Er wollte für Verwirrung sorgen, um die Bombe in Cullens Zimmer unterzubringen. Rule hat die Bombe gefunden und aus dem Fenster geworfen.“

„Mr Turner ist in der Tat sehr kompetent.“

„Das finde ich auch. Dieser Täter ist derselbe, der gestern Abend den Anschlag auf Cullen verübt hat. Er ist ein Zauberer, wie ich sagte, über dessen Kräfte wir noch wenig wissen, aber wir wissen, dass er mächtig ist. Ich habe einen kurzen Blick auf einen Mann geworfen, von dem ich annehme, dass er es ist. Ein Asiate, zwischen dreißig und fünfzig, keine Gesichtsbehaarung, zwischen eins siebenundfünfzig und eins zweiundsiebzig groß, vielleicht siebzig Kilo schwer. Er ist möglicherweise Chinese, Han-Chinese, um genau zu sein. Ich glaube, er ist es. Mongolisch, koreanisch oder japanisch sah er nicht aus. Ich halte ihn außerdem für einen Profi. Einen Auftragsmörder. Er bevorzugt den Stich ins Herz, aber kann auch anders vorgehen, wenn es nötig ist. Heute hat er eine Bombe benutzt.“

Einen Moment herrschte Schweigen. „Das sind wesentlich mehr Informationen, als Sie mir heute Morgen gegeben haben.“

„Als er anfing, die Brände zu legen, hat sich, äh, der Bann, der mich daran hinderte, geändert. Er löste sich nicht, aber die Parameter änderten sich. Ich muss Ihnen von dem anderen Täter erzählen. Sie ist das wahre Problem. Sie -“ Ihr versagte die Stimme. Einfach so. „Ich kann nicht. Ich kann nichts mehr sagen.“

„Interessant. Ich –“

Die Tür öffnete sich. Lily ließ das Telefon fallen und hatte die Waffe in der Hand, noch bevor sie einen Gedanken daran verwendet hatte.

Herein kam Nettie, Jason folgte ihr. „Tut mir leid. Ich hätte klopfen sollen. Unten wartet ein Rettungswagen. Rule, das Personal wird knapp. Du musst beim Tragen der Bahre helfen. Jason kann dir sagen, was zu tun ist. Cynna, du wirst hinterherfahren müssen. Im Rettungswagen ist nicht genug Platz.“

Lily steckte die Waffe weg und bückte sich, um das Telefon aufzuheben. Die Verbindung war noch da. „Entschuldigung“, sagte sie zu Ruben. „Ich habe, äh, das Telefon fallen gelassen und Ihre letzten Sätze nicht gehört. Nettie und Jason sind gekommen. Cullen wird jetzt weggebracht.“

„Ich sagte, ich werde sehen, was wir über Ihren vermutlichen Profikiller haben.“

„Ich habe schon nach ähnlichen Tatmustern gesucht. Offenbar herrscht Mangel an hoch bezahlten asiatisch aussehenden Auftragskillern, deren bevorzugte Methode ein Stich ins Herz ist. Zum Teil sicher, weil die meisten Profis eine Schusswaffe bevorzugen. Es gibt eine Frau, die gern mit Messern arbeitet, die eventuell Asiatin sein könnte – einmal wird sie als Puertoricanerin, einmal als Italienerin, ein anderes Mal als Asiatin beschrieben –, aber mein Täter ist definitiv männlichen Geschlechts. Es gibt einen japanischen Auftragsmörder, der ein Messer benutzt, aber der sitzt im Hochsicherheitstrakt in Kansas.“

„Hmm. Haben Sie Ida auch international suchen lassen?“

„Äh – nein, nicht ausdrücklich.“

„Ich kümmere mich darum. Ich sehe ein, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt ist, um nach einem Bericht zu fragen, aber ich muss Sie noch einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Der Grund meines Anrufs war zum einen, mich zu vergewissern, dass Sie unverletzt sind, zum anderen wollte ich Sie aber auch wissen lassen, dass mein Gefühl für Eile, schon bevor ich von dem Brand gehört habe, noch größer geworden ist. Deshalb nehme ich bereits heute einen Flug, nicht erst morgen. Ich komme kurz vor zehn Uhr Ihrer Zeit an.“

„Möchten Sie, dass ich Sie abhole?“

„Danke, nein. Ida hat alles arrangiert. Passen Sie auf sich auf, Lily.“ Er legte auf.

Lily runzelte die Stirn, als sie ihr Telefon in die Gürteltasche steckte. „Hast du das gehört?“, fragte sie Rule, der zu ihr getreten war.

Er nickte. „Ich begleite Cullen.“

„Ich habe es auch gehört.“ Die alte Dame hatte ihren Stuhl verlassen und sagte etwas zu Cynna, die mit ernster Miene nickte. Nettie und Jason begannen, Cullen auf die Transportbahre umzubetten.

„Danach muss ich mit Toby reden. Und mit meinem Vater und der Rhej.“

Ihre Stirnfalten vertieften sich. Das hörte sich an, als würde sich der Clan beraten. Nun, nicht Toby, aber Isen und die Rhej. Sie konnte sich nicht vorstellen, was von dem Geschehenen den Clan betreffen könnte, aber da Nicht-Clanmitglieder anwesend waren, konnte sie auch nicht fragen.

Rule lächelte und fuhr mit dem Daumen über die Falte zwischen ihren Brauen, als könnte er sie damit wegwischen. „Ich erkläre es dir später. Du wirst sicher noch eine Weile zu tun haben.“

„Ja. Heute Abend zumindest. Ich habe vielleicht einen Hinweis auf den Zauberer.“

„Anscheinend hast du mir auch einiges zu erklären.“

Sie nickte. „Aber jetzt ist keine Zeit dazu. Dein Typ wird verlangt.“

Er hob die Brauen auf eine Art, die ihren Worten eine ärgerliche Doppeldeutigkeit verlieh, und drehte sich dann um, um die Bahre anzuheben. Und im nächsten Moment waren sie alle fort.

Alle außer Madame Yu. Lily befürchtete, dass ihr Heimweg ein Problem werden könnte. Sie trat zu der alten Dame, die fünf Zentimeter kleiner als sie war – eine Tatsache, die sie nur allzu oft vergaß, vor allem weil ihre Großmutter sehr darauf achtete, dass niemand in ihrer Nähe stand. „Wie kommst du nach Hause? Du sagtest, du seiest zu Fuß gekommen. Ich kann jemanden rufen, der dich fährt, aber das könnte eine Weile dauern.“

Zuerst erwiderte ihre Großmutter nichts. Dann lächelte sie, auf seltsame Weise zärtlich, und tätschelte Lilys Wange. „Du machst mir Freude, Enkelin. Alle meine Enkel machen mir Freude, aber es war ein besonderes Vergnügen, zu beobachten, wie du dich entwickelt hast.“

Die perplexe Lily tat das Einzige, das ihr in den Sinn kam. Sie beugte sich leicht vor und küsste sie auf die Wange. Das Kitzeln der Magie auf ihren Lippen war vertraut und einzigartig und ihr lieb und teuer.

Wie Drachenmagie fühlte es sich nicht an. Sondern wie die gewohnte Magie ihrer Großmutter.

Diese lächelte immer noch, als sie sagte: „Du bist böse, weil ich dir nichts über dein Erbe erzählt habe.“

„Ich … ja. Ja, das bin ich. Deine Geschichte gehört dir, aber der Teil, dass ich meine magischen Kräfte von Drachen geerbt habe, der betrifft mich auch.“

Die Großmutter nickte. „Unsere Geschichte gehört nie nur uns allein. Das ist eine Illusion. Auch unsere Väter und Mütter, unsere Kinder und unsere Vorfahren haben eine Geschichte, alle die, deren Wege die unseren kreuzen, und wenn es nur für eine Sekunde ist. Mit denen wir lachen, die wir lieben oder mit denen wir streiten oder die wir töten. Meistens erkennen wir es nicht, aber es ist so. Der Teil meiner Geschichte, die auch dir gehört, gehört Sam ebenfalls. Als die Magie hier dünn wurde und die Drachen nach Dis auswanderten, wollte ich nicht mit ihnen gehen. Mit ihm. Ich wollte ein Kind, und das konnte er mir nicht geben, also bin ich geblieben.

Er wandelte mich zurück in diese Gestalt, die Kinder haben konnte. Die Wandlung hat ihn viel gekostet. Er hat es aus Liebe zu mir getan, weil er meine Sehnsucht kannte. Er bat mich nur um einen Gefallen: Wenn ich ein Kind hätte und dieses Kind oder das Kind dieses Kindes etwas von ihm in sich trüge, dürfe ich es ihm nicht sagen oder zulassen, dass es dies erfährt. Er wollte es ihm selbst sagen.

Und das habe ich ihm versprochen. Er hätte mich um sehr viel mehr bitten können, und ich hätte ihm auch das versprochen. Aus Liebe.“

Lily schluckte. Dies war der Mount Everest der Aufrichtigkeit und der Offenbarung, und sie war zu Tränen gerührt. „Er rechnete damit, wiederzukommen.“

„Er wusste, dass er es eines Tages tun würde. Er wusste nur nicht, wann.“

„Und er … er wollte derjenige sein, der mich über meine Abstammung aufklärt?“

„Du fragst dich, warum. Ich weiß es, soweit jemand etwas über einen anderen wissen kann, aber ich sage es dir nicht. Das ist allein seine Geschichte und zudem eine Drachengeschichte, und du bist keine Drachin. Er wird es dir selbst sagen oder auch nicht.“

„Gibt es … gibt es da noch mehr, was du mir verheimlicht hast? Mehr, was ich wissen müsste, weil es auch meine Geschichte ist?“

Da sah Lily einen ungewöhnlichen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Großmutter. Echte Überraschung. Sie blitzte kurz auf und wurde gleich darauf zu einem leisen Lachen. „Oh, du bist wirklich intelligent. Ja, da ist noch mehr, aber ich werde nicht heute darüber sprechen. Ich habe meine Gründe, die falsch sein mögen oder richtig, aber ich habe meine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen getroffen. Falls ich in den nächsten Tagen sterben sollte –“

„Großmutter!“

„Damit rechne ich nicht, mein Kind. Aber die Chimei ist eine gefährliche Gegnerin, und sie will meinen Tod. Falls ich sterben sollte, ohne dir von diesen anderen Dingen erzählt zu haben, wird es an Li Qin sein, die rechte Zeit und den rechten Ort dafür zu wählen.“

„Li Qin? Nicht Sam?“

„Dieser Teil meiner Geschichte ist die Geschichte einer Frau und sollte nicht von Sam erzählt werden.“ Ihre Haltung änderte sich leicht, aber unübersehbar. Die Zeit der Bekenntnisse und der Aufrichtigkeit war vorbei. Sie sah sich um. „Gibt es hier ein Telefon?“

„Ein Telefon?“ Lily war in Gedanken ganz woanders gewesen und fragte sich im ersten Moment, wozu ihre Großmutter auf einmal ein Telefon wollte. Sie lehnte Telefone rigoros ab.

„Ich brauche ein Taxi.“

„Ich kann dir ein Taxi rufen.“ Lily öffnete die Gürteltasche, um ihr Handy herauszuholen. „Aber ich dachte, du magst keine Taxis. Du sagst immer, es sitzen nur inkompetente Affen am Steuer, die –“

„Bah. Ich habe schon ganz andere Sachen überlebt. Eine Taxifahrt ist nichts im Vergleich dazu.“

Lily wählte die Gelben Seiten – und suchte dort spontan nach etwas anderem als nach Taxiunternehmen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wie wäre es stattdessen mit einer Limo?“

„Eine Limousine.“ Die Augen ihrer Großmutter funkelten belustigt und entzückt. „Eine sehr große.“

„Lang und glänzend.“

„Und schwarz. Die weißen gefallen mir nicht.“

„Lang, glänzend und schwarz. Mit einem uniformierten Fahrer.“

Die Großmutter nickte gnädig. „Deine Mutter“, verkündete sie, „wird vielleicht Augen machen!“

Oh ja. War es schlecht von ihr, dass sie das Gesicht ihrer Mutter gern gesehen hätte?

Ein paar Minuten später war alles arrangiert – Minuten, die sie wahrscheinlich nicht damit hätte verschwenden dürfen. Aber dem kindlichen Entzücken der alten Dame hatte sie einfach nicht widerstehen können. Lily zahlte mit ihrer Kreditkarte – ihre Großmutter hatte keine Handtasche bei sich, und ihre Hose keine Tasche für ein Portemonnaie.

Außerdem sollte es ein Geschenk sein. „Sie holen dich auf dem Vista Hill ab“, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. Sie nahm ihre Jacke, zog sie aber nicht an. „Ich fürchte, die näher gelegenen Straßen sind alle noch geschlossen, aber ich kann vielleicht jemanden bitten, dich bis dahin mitzunehmen. Ich begleite dich nach unten.“

„Du hast zu viel zu tun, um mich zu begleiten.“

„Das stimmt“, sagte Lily, plötzlich aus unerfindlichen Gründen froh gestimmt. „Aber ich muss mit Hennessey und Dreyer reden, und die sind unten.“

Sie verließen das Zimmer gemeinsam. Als sie vor der Tür zum Treppenhaus standen, sagte Lily: „Ich möchte dich noch etwas fragen.“

„Ja?“ Die Großmutter wartete darauf, dass Lily ihr die Tür öffnete.

Niedergeschlagen stellte Lily fest, dass es immer noch bullenheiß im Treppenhaus war. „Wo warst du? Was ist das für ein Versteck, in dem die Chimei dich nicht finden kann?“

„Ich hätte gedacht, dass du von allein darauf kommen würdest.“ In ihrem Ton lag große Befriedigung. Sie ging vor Lily zur Treppe. „Ich war im Zoo.“

Ungläubig wiederholte Lily: „Im Zoo?“

„Natürlich.“ Ihre Großmutter begann, die Treppe hinunterzugehen, so leichtfüßig, als würden Hitze und Alter ihr nichts ausmachen. „Die Chimei kennt mich nicht in meiner anderen Gestalt. Diese Fähigkeit habe ich erst lange Zeit, nachdem wir sie in Luan geschlagen hatten, erlangt. Deshalb konnte sie mich nicht finden, nachdem ich mich gewandelt hatte. Und wo sonst als im Zoo kann sich eine Tigerin in San Diego bequem verstecken?“