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Als Lily langsam wach wurde, war ihr schlecht, und der Kopf tat ihr weh. Aber sie war nicht desorientiert. Sie wusste genau, was sie hierher gebracht hatte.

Ihr Oberschenkel schmerzte. Dort hatte sie ein Pfeil getroffen. Sie erinnerte sich, dass sie so etwas wie einen Wespenstich gespürt hatte, ihr dann schwindelig geworden war und sie voller Panik begriffen hatte, dass sie betäubt worden war. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, ohnmächtig geworden zu sein, aber das war zweifellos der Fall gewesen.

Jetzt lag sie auf etwas, das weicher war als der Boden, aber nicht sehr. Ein Feldbett vielleicht. Über ihr war grauer Beton. Und zu ihrer Rechten ebenfalls. Eine nichtssagende graue Betonwand. Sie ließ ihre Blicke weiterwandern und sah eine Birne von der Decke hängen … eine Ecke, wo die Wand auf die Decke traf, den oberen Teil einer Tür …

Eine Tür, interessant. Langsam setzte sie sich auf – und alles begann sich vor ihr zu drehen, und es wurde dunkel. Beinahe wäre sie von dem, worauf auch immer sie saß, heruntergefallen.

„Keine Sorge. Das Schlimmste ist bald vorbei.“ Die Stimme war die eines Mannes, fröhlich, mit einem englischen Akzent.

Der pochende Schmerz in Lilys Kopf ließ nicht nach, aber nachdem sie ein paarmal geschluckt hatte, war sie sich zumindest ziemlich sicher, dass sie sich nicht übergeben würde, und ihr wurde wieder klarer im Kopf.

Sie befand sich in einem vielleicht drei Meter fünfzig mal sechs Meter großen Raum. Betonwände in der Standardhöhe von zwei Meter fünfzig. Für Licht sorgten zwei von der Decke hängende nackte Birnen, jede an einem Ende. Keine Fenster. Ein Ventilator hoch oben in der Wand – Klimaanlage vermutete sie, denn es war eher kühl. Zwei Türen. Eine davon ihr gegenüber. Sie stand einen Spalt offen, der jedoch nicht groß genug war, als dass sie hätte sehen können, was sich dahinter befand. Die andere befand sich am gegenüberliegenden Ende des Raumes und war geschlossen. Neben dieser Tür und einem kleinen Kühlschrank befand sich ein schmaler Tisch und darauf eine Herdplatte. Darüber hing ein Schrank. Drei große Umzugskartons blockierten teilweise die Sicht auf den Kühlschrank.

Ganz offensichtlich eine Küche. Ein Resopaltisch und vier Stühle trennten sie von Lilys Ende, dem Schlaf-/Wohnzimmer. Sie saß auf einer schmalen, an der Wand befestigten Liege. Eine zweite befand sich an der Wand ihr gegenüber.

Der Mann, der darauf saß, war er. Der Zauberer.

Er sah so glücklich und unschuldig aus – ein kleiner Mann mittleren Alters mit schütterem Haar und leichtem Bauchansatz in Khakishorts und einem leuchtend pinkfarbenen Hemd. Waffen konnte sie keine entdecken, doch an einem Finger trug er einen Diamantring, und um seinen Hals hing ein Medaillon an einer Kette. Wahrscheinlich magisches Zeug.

„Hallo Johnny.“

Er strahlte. „Dann kennst du also einen meiner Namen? Gut für dich!“

Außer den Schuhen trug sie noch all ihre Kleider. Sie tastete hastig und stellte fest, dass man ihr sowohl das Schulter- als auch das Knöchelholster abgenommen hatte, sowie auch ihre Waffen, ihr Handy und ihre Armbanduhr. Aber gefesselt war sie nicht. Warum nicht? „Ich dachte, du magst Messer. Mit was hast du auf mich geschossen?“

„Oh, ein kleiner selbst gemischter Cocktail. Ein Profi kann nicht immer seinen Vorlieben frönen, weißt du, und ich darf dich nicht verletzen. Aus demselben Grund, aus dem du mich auch nicht verletzen kannst.“

„Vielleicht irrst du dich da.“ Sie fühlte sich noch zu wacklig, um sich auf ihn zu stürzen, aber das würde vorbeigehen, und egal welche Zauber er für sie bereithielt, sie würden nicht auf sie wirken. „Johnny Deng, du bist festgenommen wegen des Gebrauchs von Magie in Ausübung einer Straftat.“

Das brachte ihn laut zum Lachen. Er schlug sich ausgelassen auf das Knie. „Ich werde viel Spaß mit dir haben, solange du bei uns bist. Aber meine Liebste glaubt, das sei nicht lang. Gewöhnlich hat sie recht.“ Er blickte nach rechts, zu der halb geöffneten Tür.

Etwas Blasses strömte durch sie herein. Es war durchscheinend, fast transparent an einigen Stellen, aber es war kein Dunst oder Nebel. Seine Grenzen waren zu klar definiert für ein Luftwesen. Eher wie eine zähe Flüssigkeit floss es zu Johnny Deng auf die Liege. Dort verdichtete es sich zu einer Gestalt, und zwischen einem Blinzeln und dem nächsten wurde aus dieser Gestalt eine Frau.

Mehr oder weniger eine Frau.

Sie atmete, wie Lily fasziniert bemerkte. Ihre Brüste hoben und senkten sich fast unmerklich, aber sie atmete. Ihre Glieder waren lang und dünn, die Schultern und der Brustkorb überproportional breit. Wie bei einem Kranich, dachte Lily – lange, dünne Glieder, breit im Brust- und Schulterbereich, um die Flügel tragen zu können, die sie nicht hatte.

Aber sie hatte Federn, eine flaumige Daunenkappe auf dem Kopf. Doch die Federn sahen nicht aus wie Vogelfedern. Auch die Haut war nicht die eines Vogels, denn sie war weiß und schimmerte. Ein sanftes Schimmern, wie das einer Perle.

Sie sah fest aus. Real. Und körperlich anwesend. Da saß sie nun, atmete kaum, aber doch wahrnehmbar und betrachtete Lily mit Augen in der Farbe von Gewitterwolken. Und sagte nichts.

„Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll“, sagte Lily, „außer Chimei, und das ist ein Volk. Wie soll ich zu dir sagen?“

„Feindin, denke ich.“ Die Stimme war leise und hoch und lieblich. Der Akzent, wie der von Johnny, war britisch.

„Wenn du mir keinen Namen nennst, dann erfinde ich selbst einen“, sagte Lily. „Kun Nu.“ Kun bezeichnete einen großen mythischen Vogel, wie der Vogel Roch. Nu bedeutete Frau, Ehefrau oder Tochter.

„S’n Mtzo hat dir von mir erzählt.“

Sie sprach Sams chinesischen Namen anders aus als ihre Großmutter, indem sie die Vokale wegließ, ohne aber dabei den Rhythmus der Silben zu verlieren. „Er hat mir gesagt, dass eure beiden Völker im Großen Krieg und auch danach gegeneinander gekämpft haben.“

„Hat er dir von dem Abkommen erzählt? Das ist ein dummes Wort.“ Sie machte eine anmutige Geste mit einer Hand. Ihre Finger waren sehr lang, sehr dünn. „Euer englisches Wort gibt so wenig von der Wirklichkeit wieder. Hat er dir erzählt, dass er eure Welt vor mir und meinem Volk retten will?“

„So etwas in der Art.“ Die Übelkeit und der Schwindel waren verschwunden. Ihr Kopf tat immer noch weh, aber er hämmerte nicht mehr.

„Er lügt. Drachen haben diese Angewohnheit, ihre kleinen Leute mit Lügen hierhin und dorthin zu stoßen. Ich habe kein Volk. Er manipuliert dich, Mensch. Er benutzt dich. In Wahrheit will er mich töten. Das war schon immer sein Ziel. Und so wird es immer sein.“

„Und was ist dein Ziel?“

Ihre Lippen bogen sich zu einem Lächeln mit einem Hauch von Selbstzufriedenheit, das Lily an Dirty Harry erinnerte, wenn er ein Stückchen Schinken gemopst hatte. „Zu leben, natürlich. Das ist mein Zweck. Das ist der Sinn meiner Existenz. Zu leben.“

„Du hast aber doch sicher noch ein paar andere Ziele. Du magst Angst.“

Ihre Zunge berührte ihre Lippen nur einmal, ganz zart. „Zu leben, das ist elementar, aber es ist auch wichtig, gut zu leben. Angst … Menschen haben ein seltsames Verhältnis zu Angst. Ihr sehnt euch danach, erfindet Geschichten und fertigt Bilder darüber an – Filme, Fernsehen, Bücher –, damit ihr Angst schmecken könnt, ohne euren Körper zu versehren. Ich verstehe eure Abneigung dagegen, aber warum leugnet ihr denn eure Liebe und Faszination für die Angst? Ihr genießt sie, wenn auch nicht auf solch reine und tiefe Weise wie ich. Und doch verurteilst du mich.“ Sie zuckte die Achseln. „Die Menschen sind meistens dumm.“

„Nicht alle, Liebste.“ Johnny lächelte und streichelte ihren Schenkel.

Sie lächelte ihn so zärtlich an wie eine Mutter ihr Neugeborenes. „Du bist die Ausnahme, mein Lieber.“

Lily stürzte los. Ein Schritt, zwei, drehen, beugen, den Fuß so kippen, dass er mit der Seite traf, nicht mit den Zehen –

Eine Wand schlug gegen ihre Schläfe, sodass sie plötzlich erschlafft zu Boden ging.

Jetzt hämmerte ihr Kopf wirklich. Und ihr Kiefer. Vorsichtig bewegte sie ihn hin und her und befühlte ihn dann mit den Fingerspitzen. Wahrscheinlich war nichts gebrochen.

„Hast du schon vergessen? Oder hat S’n es dir nicht gesagt? Johnny und ich dürfen uns schützen.“ Die Stimme war heiter, belustigt. „Du darfst es auch versuchen.“

Lily blinzelte die Tränen fort. Die Chimei stand lächelnd über ihr. Der liebe Johnny saß immer noch auf der Liege, die Hände auf den Knien, nach vorn gelehnt, als würde er ein spannendes Baseballspiel verfolgen.

Er sah hocherfreut aus. Aber schließlich gewann sein Team ja gerade, nicht wahr? „Sie kann ganz schön zuschlagen, was?“, fragte er fröhlich.

„Ja.“ Lilys Ziel war der Zauberer gewesen, weil sie glaubte, dass er der schwache Punkt der Chimei war. Als sie zum Kick ausgeholt hatte, hatte sie im Augenwinkel etwas Weißes aufblitzen sehen. Mehr nicht.

Doch das war ein Anhaltspunkt. Vorsichtig setzte sie sich auf und rieb sich den Kiefer. „Guter Trick. Du bist zu Nebel geworden, um dich schneller bewegen zu können, nicht wahr? Wie praktisch. Aber es kostet dich auch etwas, oder?“

Die Chimei war amüsiert. „Ja, aber nicht so viel wie dich. Du kannst nicht viele meiner Schläge aushalten, aber ich kann sie Stunden um Stunden austeilen, wenn ich will. Ich habe mich zurückgehalten, um dich nicht dauerhaft zu verletzen.“ Sie zeigte auf die Liege. „Geh zurück an deinen Platz, wenn du nicht willst, dass ich dich dort hinbringe. Ich versichere dir, dass ich stark genug bin, dir nicht zu erlauben, mich zu verletzen.“

Lily gefiel es nicht, etwas zu tun, das Kun Nu wollte, aber sie wollte auch nicht mit Gewalt zurückgebracht werden. Langsam stand sie auf, wobei sie ihren Kopf möglichst wenig bewegte – und musste innehalten, um die Gallenflüssigkeit hinunterzuschlucken, die ihr hochgekommen war. Sie schaffte es, ohne zu taumeln, zur Pritsche hinüber. „Das Ziel hast du wohl nicht erreicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich verletzt bin.“

„Nicht ernsthaft.“ Die Chimei kehrte an ihren Platz neben ihrem Geliebten zurück. Sie legte den Kopf schräg. „Du hast ein bisschen Angst, aber nicht so viel, wie ich erwartet hatte. Warum nicht?“

„Du darfst mir nichts tun.“

„Ich darf deinem Körper nichts zuleide tun, es sei denn zum Zweck der Selbstverteidigung. Glaubst du etwa, Leid ist nur das, was dir körperlichen Schaden zufügt?“ Sie lachte kurz trillernd auf. „Oh, jetzt. Jetzt hast du Angst. Genießt du es?“

„Nein.“ Lily leckte sich über die Lippen und schmeckte Blut. Außerdem waren sie ein bisschen geschwollen. „Dann ist dein einziges Ziel also die Angst?“

„Ich habe auch andere Ziele. Das Glück meines Liebsten …“ Sie streichelte zärtlich Johnnys Arm. „Das ist mir wichtig. Und das Leiden deiner Großmutter. Das ist notwendig. Ich werde ihre Kraft essen, und du wirst mir dabei helfen.“

„Ich hätte schwören können, dass das nicht erlaubt ist – dass du ihr schadest, meine ich, und ihre Kraft zu essen, damit schadest du ihr ganz sicher. Mir ist aufgefallen, dass du nicht von Kindern redest. Nachkommen. Oder dass du, äh, einen Körper bekommst.“

„Kinder.“ Die Stimme war immer noch heiter und rein. Aber etwas Gewaltiges und Mächtiges bewegte sich hinter diesen menschlich aussehenden Augen und verdunkelte sie. Lily konnte dabei zusehen, wie sie sich veränderten und fremd und schwarz wurden. Vollständig schwarz, ohne jede Spur von Weißem. „Du rührst an etwas, das du nicht anrühren solltest, Mensch.“

Lilys Herz schlug schneller. Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Sie schluckte. „Ja, so bin ich, lasse einfach nicht locker. Verklag mich.“

Unvermittelt wurde aus dem Schwarz wieder ein Grau. Sie lachte. „Nein danke. Aber ich werde dich entweder essen oder dich dazu bringen, zu wünschen, du wärest tot. Vielleicht schaffe ich beides. Und was den Körper betrifft …. Ich weiß, du tastest blind nach dem, was du nicht verstehst. Wie du siehst, habe ich jetzt gerade einen Körper, aber diese Gestalt zu erhalten, kostet mich viel. Denn ich muss erst werden. Doch das wird bald geschehen. Deine Großmutter wird das letzte meiner Bedürfnisse erfüllen, damit ich werden kann.“ Sie verschränkte die Finger in ihrem Schoß. „Dass sie es ist, ist nur gerecht.“

„Du willst Rache. Sie hat jemanden getötet, der dir wichtig war.“

„Ich habe ihn verloren.“ Das war Trauer, ungestillte Trauer in den tiefen Tümpeln ihrer Augen. „Sie stahl ihn mir und hat erreicht, dass ich nicht mehr war. Sie muss dafür büßen.“

„Was ist mit all den Menschen, die jemanden deinetwegen verlieren? Dürfen sie dich auch büßen lassen?“

Ihre Augen waren nun hellgrau und atemberaubend gleichgültig. „Menschen sterben. Das ist eure Natur, und meine ist es, zu leben. Warum richtest du deine Wut gegen mich? Ich bin nicht der Grund, warum ihr so seid, wie ihr seid.“

Lily biss die Zähne aufeinander – was höllisch wehtat, also zwang sie sich, die Muskeln zu entspannen. „Ich habe heute Abend Leichen gesehen. Die Leichen von Menschen, die jetzt noch nicht hätten sterben müssen – Menschen, die unter Schmerzen und voll panischer Angst gestorben sind, nur weil du ihre Angst wolltest. Du hast ihnen ihr Leben gestohlen. Du hast sie denen gestohlen, die sie lieben. Deine Trauer ist nicht rein und heilig, nur weil sie die deine ist. Es ist alles dasselbe – die Trauer, die du verursachst, die Trauer, die du fühlst.“

„Du hast unrecht, aber es mangelt dir an Fassungsvermögen, um das zu verstehen.“ Sie erhob sich. „Ich rede mit dir einmal über diese Dinge, um dich zu prüfen, aber auch, weil du möglicherweise eine Wahl zu treffen hast. Weißt du, dass es eine Methode gibt, jemandem die Magie zu nehmen?“

„Du hattest so etwas angedeutet.“

„Es gibt zwei Arten, das zu tun. Eine erfordert die Erlaubnis der Person, der die Magie genommen wird. Die andere nicht. Beide sind schmerzhaft. Deine Kraft kann ich dir nicht gegen deinen Willen nehmen, denn das würde gegen das Abkommen verstoßen. Aber ich kann nehmen, was mir freiwillig angeboten wird.“ Sie lächelte. „Von dir oder deiner Großmutter. Ich bin davon überzeugt, dass du mir anbieten wirst, von deiner Kraft zu trinken.“

„Du hast seltsame Überzeugungen.“

Sie stand einfach da, lächelnd. Johnny erhob sich. „Die Vorstellung gefällt dir nicht, was? Ich kann es dir kaum verdenken, aber du wirst es trotzdem tun.“ Er nickte auf eine freundliche Weise, wandte sich um und öffnete die angelehnte Tür. Dahinter kam eine Treppe zum Vorschein, die er leichten Schrittes erklomm.

Waren sie in einem Keller? Keine Fenster, Betonwände, Stufen nach oben. Was zur Hölle – warum sollte sie nicht fragen? „Ist das hier ein Keller?“

„Wir befinden uns unter der Erde. Man nennt es einen Luftschutzbunker. Vor einigen Jahren glaubten die Menschen in diesem Land, sie müssten alle in einem Atomkrieg sterben. Damals hat man diese Bunker gebaut.“

„Gemütlich.“

„S’n Mtzo wird dich hier nicht erspüren können – die Erde blockiert ihn. Wusstest du das? Zusätzlich haben mein Liebster und ich noch andere Schutzbanne errichtet, die dafür sorgen, dass kein Mensch dich findet. Oh, und ich sollte dich warnen.“ Ganz offensichtlich amüsierte sie sich. „Einer der Schutzbanne wird ausgelöst, wenn du versuchen solltest zu fliehen. Dann bricht dieser Bunker ein und begräbt dich unter sich.“

„Ist das nicht ganz so, als würdest du mich töten?“

„Ich habe dich ja gewarnt. Damit kannst du vermeiden zu sterben.“

„Du strapazierst das Abkommen ganz schön, was?“

Die Chimei legte den Kopf schief. „Hat S’n Mtzo dir nicht alles über das Abkommen gesagt? Seine Einschränkungen sind recht wörtlich zu verstehen. Ich kann dich nicht töten, aber ich kann dich festhalten, solange es mir gefällt. Du wirst Essen bekommen und Wasser und Luft, und deine Exkremente werden entfernt. Dir wird kein Leid angetan, außer, du bietest es mir freiwillig an. Also halte ich das Abkommen ein. Aber du wirst diesen Raum erst verlassen, wenn ich es dir erlaube.“

Atme, befahl sich Lily. Schön langsam. Angst war vor allem eine körperliche Reaktion. Sie würde alles tun, damit die Vogelfrau keine Kostprobe davon bekam. „Wir schwächlichen kleinen Menschen haben ein Sprichwort. Es geht ungefähr so: Leck mich am Arsch.“

„Du versuchst deine Angst zu beherrschen. Dadurch schmeckt sie umso besser.“ Sie lächelte, die Hände vor der Brust zusammengelegt, beinahe, als würde sie beten.

Auf der Treppe erklangen die Schritte von zwei Paar Schuhen. Eines davon gehörte Johnny – tap, tap, tap. Die anderen Schritte kannte sie nicht. „Und hier kommt der Grund, warum du mir erlauben wirst, von deiner Kraft zu trinken. Derselbe Grund, wie du sehen wirst, warum der andere Zauberer uns nicht in die Quere kommen wird.“

Lily erkannte als Erstes die Knöchel. Die Unterschenkel. Denn niemand außer einer einzigen Person hatte Knöchel und Schenkel, die mit diesen besonderen Arabesken verziert waren.

Cynnas Bauch erschien, das blaue T-Shirt straff über dem Baby darunter gespannt. Sie bewegte sich schwerfällig. Die Treppe war steil, und ihr waren die Hände auf dem Rücken gefesselt worden. Johnny war gleich hinter ihr und tat nun nicht mehr so, als würde er niemals zu einer Schusswaffe greifen, denn er drückte Cynna den Lauf einer Maschinenpistole in den Rücken. „Hier ist sie, Liebste“, sagte er. „Unzufrieden, aber unverletzt.“

Cynnas Blick traf Lilys. Sie seufzte. „Hallo.“

„Für die da gilt das Abkommen nicht“, sagte die Chimei. „Mit ihr kann ich alles machen. Ich kann ihr Schmerz bereiten oder sie in Angst versetzen, ihren Abkömmling abtreiben und sie einfach töten. Was immer ich wünsche. Aber ich gebe dir die Macht, mich aufzuhalten. Nur ein Schluck von deiner Magie, und ich verschone sie. Für eine Weile.“

Lily sah rot vor Wut. Sie ballte die Hände.

„Mehr Wut als Angst? Deine Freundin hat Angst.“ Die Chimei lächelte und lächelte. „Überlege dir, welche Macht du hast, kleiner Mensch. Es ist deine Entscheidung. Ich werde zurückkehren, wenn es mir gefällt, und du wirst mir sagen, was du mir anbietest. Wie auch immer dann deine Entscheidung ausfällt, du wirst so lange hierbleiben, wie ich es wünsche. Vielleicht eine Woche oder ein Jahr? Fünf Jahre oder zehn? Ich habe mich noch nicht entschieden, aber irgendwann werde ich deiner Großmutter erlauben, sich selbst im Tausch für dich anzubieten. Dann wirst du frei sein, und sie wird gefüttert und gehegt werden, und ihr wird nichts genommen werden, was sie mir nicht aus freiem Willen anbietet.“

„Du setzt auf das falsche Pferd, Kun Nu. Großmutter wird niemals einwilligen.“

„Das hat sie bereits.“ Ihr Lächeln wurde strahlend. „Ich werde sie für sehr, sehr lange Zeit behalten. Und sie wird leiden und S’n Mtzo genauso.“